Hier ein zeitgeschichtlicher Text, den ich vor sehr langer Zeit ohne Quellenangabe heruntergeladen hatte. Ich vermute, weiß es aber nicht, daß das Kapitel aus diesem Buch stammt.
Der Schluß habe ich vornan gestellt.
Bei der erwähnten Protestbewegung war ich dabei und kann bestätigen, daß uns schlagartig jeglicher Drive verlorenging. Es war das Ende einer hoffnungsvollen Zeit.
Ich halte es für sehr wichtig, darüber zu informieren. Es dürfte unerheblich sein, wer tatsächlich geschossen hat. Entscheidend war das „Framing“, wie man heute sagt.
Ich glaube, daß etwas Ähnliches gerade in diesen Tagen wieder passiert, mit umgekehrtem Vorzeichen:
„Zum Abschluß bleibt nur noch, ein Fazit über den Anschlag der sogenannten »RAF« auf Detlev Karsten Rohwedder zu ziehen. Mit ihrem Attentat wollten sich die Täter an die Spitze der Protestbewegung stellen, wie immer für die einsitzenden »RAF«-Gefangenen kämpfen und die »reaktionäre Entwicklung« im Osten »an der Wurzel treffen«. Im Rückblick bleibt nur die sarkastische Formel: Operation geglückt, Patient tot. Das schießende Kommando bewirkte in allen Punkten das glatte Gegenteil von dem, was es vor gab erreichen zu wollen.
Für die demokratische Protestbewegung im Osten gegen die gebrochenen Wahlversprechen der Regierung Kohl, den Ausverkauf der Treuhand und die Schließung der Betriebe war das Attentat der Todeskuß. Zusammen mit Mördern wollte niemand mehr protestieren und demonstrieren, die Demo-Busse blieben leer.
Auch für die sogenannten »Gefangenen aus der RAF« war das Attentat eine Katastrophe. Scharfmacher von rechts wie der CSU-Generalsekretär Huber holten zum endgültigen Schlag gegen lebensnotwendige demokratische Rechte von Häftlingen aus. Die »RAF«-Gefangenen gerieten traditionell als Drahtzieher in Verdacht. Noch immer gehen sie nach Meinung von sogenannten »Sicherheitspolitikern« zur Logistik der draußen operierenden »RAF« dazu und sind damit für jeden Mord quasi automatisch mitverantwortlich.
Schließlich hat das » RAF«-Kommando auch die »reaktionäre Entwicklung« in Ost- und Westdeutschland zielsicher vorangebracht. Mit dem Tod Rohwedders wurde rücksichtslos Innenpolitik getrieben, von der Forderung vom Zugriff auf die Stasi-Akten bis hin zur Absicherung von sogenannten »verdeckten Ermittlern «, mithin der Installation eines Spitzelsystems von Stasi-Ausmaßen. Den »Systemveränderern von rechts«, und dies ist keine polemische Übertreibung, war auch dieses Attentat willkommen, um die Bundesrepublik noch ein Stück mehr in Richtung eines totalitären Staates zu steuern.
Auch die reaktionäre Entwicklung im Osten brachte der Mord hurtig nach vorn. Mit der Installation der Politikerin Breuel konnte endlich der riesige Umverteilungsprozeß nach amerikanischem Zuschnitt ungehindert stattfinden, der da lautet: Profite privatisieren, Verluste sozialisieren. So war auch der »Große Bruder« USA, angeblicher »imperialistischer Erzfeind« der »RAF«, am Ende vollauf zufrieden. Die Zugeständnisse der Treuhand an die Unternehmen, zum Beispiel den Verzicht auf Ubernahme der Altlasten durch Investoren, zahlt der deutsche Steuerzahler. Die dreihundert oder mehr Milliarden fließen von deutschen Gehaltskonten via Treuhand in die Kassen der Konzerne. Der deutsche Steuerzahler hilft, das krisengeschüttelte internationale Kreditgewerbe zu sanieren, dem er als neuer Großkreditnehmer gerade recht kam. Die Frage, warum die Treuhand eigentlich nicht mehr Geld spart, statt immer mehr Schulden zu machen, ist da naiv. Längst geht es um ganz andere Interessen als die einer soliden Haushaltsführung im Sinne der Staatsbürger. Wer spart, statt Kredite aufzunehmen, raubt.den Banken ihren Gewinn. Das ist nicht nur bei Otto Normalverbraucher so, sondern auch zwischen Staaten und internationalen Banken.“
Mit der RAF für die Treuhand – der Tod des Detlev Karsten Rohwedder
Das Unternehmen, als dessen Chef Detlev Karsten Rohwedder starb, wurde mit Beschluß der DDR-Volkskammer Anfang März 1990 ins Leben gerufen. Am 8. März 1990 gab das Gesetzblatt der DDR die »Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt) « bekannt. Zweck: »Wahrung des Volkseigentums«. Die Schaffung der Treuhandanstalt war notwendig geworden, weil die gesamten »volkseigenen« (staatseigenen) Betriebe der DDR mit der Auflösung des Arbeiter- und Bauernstaates plötzlich »in der Luft« hingen. Die Treuhand sollte die Firmen einstweilen »treuhänderisch« übernehmen, bis sie einer anderen, gesicherten Zukunft hätten entgegengehen können. Wie sich aus der Formel »zur Wahrung des Volkseigentums« ergibt, sah das erste Konzept der Treuhandanstalt vor, die Betriebe im Volkseigentum zu belassen, so daß die Arbeitnehmer zunächst noch davon ausgingen, die Betriebe »gehörten« ihnen. Uberall diskutierten Belegschaften, wie sie nun mit ihrem »Eigentum« verfahren sollten. Doch solche Pläne wurden vom Gang der Ereignisse schnell überholt. Unter der Rcgierung de Maiziere wurde aus dem Treuhandzweck »Wahrung« des Volkseigentums im Gesetzblatt vom 22. Juni1990 nun »Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens«. Das Gesetz trägt das Datum des früheren Tages der Deutschen Einheit, des 17. Juni 1990. Für Kritiker waren damit statt Wahrung »Ausverkauf und Vernichtung« der volkseigenen Betriebe besiegelt, so etwa der Schriftsteller Stefan Heym.(175: Heym in: Die Weltwoche, 8. August 1991)
Mit dem rasanten Umbruch der weltgrößten Industrieholding »Treuhandanstalt« wechselten auch deren Chefs. (…) Für diese gewaltige Aufgabe wurde praktisch jemand gesucht, der die Quadratur des Kreises repräsentierte, der Staat und Wirtschaft, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, West und Ost gleichermaßen vertrat. Gefragt war eine Art menschliche Schnittstelle zwischen Staat und Wirtschaft.
Man fand sie in Detlev Karsten Rohwedder (…)
Ein politischer Ziehsohn des legendären Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller, diente Rohwedder sechzehn Jahre lang drei weiteren Ministern (Schmidt, Friderichs, Lambsdorff) als Staatssekretär, bis er 1979 den Job bei Hoesch übernahm. Bereits 1972 war Rohwedder Mitglied der SPD geworden und konnte auch insoweit als Mann des Ausgleichs zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gelten. »Ich hielt Rohwedder damals für eine glückliche Wahl«, sagte nach Rohwedders Tod der SPD-Finanzexperte Wolfgang Roth in einem QUICK-Interview.(176: Quick, 11.12.1991) Auch die taz verteidigte Rohwedder später in einem Nachruf gegen seine Mörder.
Rohwedders Berufung konnte als politisches Signal begriffen werden, die rund zehntausend »volkseigenen« Betriebe der DDR nicht einfach zu »versilbern«, sondern zunächst auch ernstgemeinte Versuche zu deren Sanierung zu unternehmen. Wenn hier einer Erfolge hätte erzielen können, dann Rohwedder.
Zwar war die »Privatisierung« neben der »Reorganisation« des Volksvermögens im Treuhandgesetz angelegt, doch noch kurz vor dem Mord an Rohwedder erhielt die Sanierung durch Beschluß der Bnndesregierung erneut ein größeres Gewicht. Für Rohwedder war das keine Überraschung, ist aus der FAZ zu erfahren: »Ich habe eine hundertprozentige Privatisierung nie für möglich gehalten. Viele Unternehmen würden mit einer hohen staatlichen Beteiligungsquote aus dem Privatisierungsprozeß hervorgehen«, schätzt der Treuhand-Chef. Eine » reinrassige, gedanklich saubere und schnörkellose Marktwirtschaft« sei für Rohwedder im Osten nicht denkbar, so die FAZ.(177: FAZ, 31.3.1991)
Doch Rohwedder kümmerte sich nicht nur um Sanierungsansätze; weitere Themen des Treuhand-Vorsitzenden waren Unternehmenskonzentrationen und Auswirkungen der anstehenden Entwicklungen auf die Arbeitnehmer. Rohwedder hatte Bedenken, westliche Monopolkonzerne würden sich billig marktbeherrschende Ost-VEBs unter den Nagel reißen und Arbeitnehmerrechte außer acht lassen. Der Verkauf von Unternehmen setze nun mal voraus, so der Treuhand-Chef, »daß wir uns Gedanken über mögliche Auswirkungen auf den Wettbewerb und die sozialen Interessen der Arbeitnehmer machen mussen.« Das war eine Lektion, die Rohwedder im harten Kampf zwischen Gewerkschaften und den Interessen des Hoesch-Konzerns gelernt hatte.
Privatisieren oder sanieren?
Aber die Treuhandanstalt sprach mit gespaltener Zunge, ein wesentlicher Grund für das Mißtrauen, das ihr alsbald aus der Bevölkerung entgegengebracht wurde. Wortführerin der Privatisierungsfraktion im Treuhand-Vorstand war die frühere niedersächsische Wirtschaftsministerin Birgit Breuel. In einem Interview mit der FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 20. Oktober 1990 sagte sie, es sei »in der Tat nicht die Aufgabe der Treuhand, alle Unternehmen erst einmal zu sanieren«. Die »beste Sanierung« könne »ein neuer, unternehmerisch handelnder Eigentümer vornehmen«. Deshalb gilt bei der Treuhand »das Prinzip: Privatisieren vor Sanieren.« Ob sie eigentlich auch eine sozialpolitische Aufgabe habe, wollte der Reporter wissen. Breuel: »Nicht unmittelbar. Wir müssen uns da im Rahmen des Machbaren bewegen.« (…)
« Die Treuhand-Linie werde auch den Bonner Marktwirtschaftlern, die einen Prozeß der schöpferischen Zerstörung forderten, »gar nicht schmecken«, schätzt der SPIEGEL: »Sie werden Rohwedder vorwerfen, nicht genug Härte zu zeigen und längst bankrotte Betriebe weiter mitzuschleppen.« (…) In der Tat ging der Privatisierungsprozeß unter Rohwedder nur schleppend voran: Ende Februar 1991, nach sieben Monaten, waren gerade sechshundert Unternehmen verkauft, (181: Die Welt, 21.2.1991) Ende März tausend.(182: Süddeutsche Zeitung, 18.3.1991)
(…)
Kritik aus USA
Doch Treuhand-Chef Rohwedder hatte nicht nur Ärger im eigenenVorstand, Beschuß kam von allen Seiten. So endete eine Goodwilltour des Treuhand-Vorsitzenden durch die USA Ende November 1990 mit einer Bauchlandung. Rohwedder habe bei der amerikanischen Wirtschaft »ein zwiespältiges Echo hinterlassen«, meldete das HANDELSBLATT.(183: Handelsblatt, 26.11.1990) Zum einen hielten die US-Manager die Verfahren bei der Privatisierung der achttausend ostdeutschen Unternehmen für »zu bürokratisch«. Zum anderen glaubten sie, daß »zu viel Zeit zur Rettung der angeschlagenen Ost-Firmen« vertan wird. In den Vereinigten Staaten, so das HANDELSBLATT, »beobachten sowohl die Regierung als auch Unternehmensmanager mit Erstaunen, wie kompliziert die Privatisierung der achttausend ostdeutschen Unternehmen verläuft.« (…) Weiteres Problem aus US-Sicht: die ökologischen »Altlasten« der ehemaligen DDR-Betriebe. Dieses Problem müsse politisch gelöst werden, denn sonst werde für Interessenten aus dem Ausland der Einstieg in die deutsche Wirtschaft zu teuer. »Ganz offen klingt dabei die Vermutung an, daß die Deutschen sich mit dieser restriktiven Handhabung Interessenten aus dem Ausland fernhalten wollen«, berichtet das HANDELSBLATT. Für die Beseitigung der Umweltschäden solle der deutsche Staat aufkommen, wünschen sich die US-Manager. Die Deutschen, setzen die Amerikaner dem Besucher von der Treuhand-Anstalt die Pistole auf die Brust, müßten entscheiden, was ihnen wichtiger sei: eine rasche Privatisierung oder die Beseitigung von Umweltschäden. Neben den »Altlasten« fürchten die US-Unternehmer auch die deutschen Arbeitsschutzgesetze und die Gewerkschaften; beides behindere den Verkauf ostdeutscher Unternehmen an ausländische Investoren.(184: Handelsblatt, 26.11.1990) Beides sind Faktoren, mit denen Rohwedder nicht nur zu leben gelernt, sondern die er auch gewillt war in den Umwälzungsprozeß in den neuen Bundesländern einzubeziehen.
Tatsächlich schrecke »die undurchsichtige Bürokratie« viele Interessenten ab – »insbesondere aus dem Ausland« -, meldet auch der SPIEGEL eine Woche vor Rohwedders Tod am 25. März 1991: Die Beschwerden potentieller Investoren über Desinteresse und Verzögerungstaktik der Rohwedder-Truppe, so das Nachrichtenmagazin, »häufen sich«. Nicht nur den Amerikanern, auch den Briten stößt Rohwedders Treuhandpolitik übel auf. Die britischen Unternehmensberater Economic Finance Ltd. fuhren schweres Geschütz gegen die Treuhand auf und beschwerten sich über »Dilettantismus«, die »Etablierung neuer, westlich orientierter Seilschaften« und gar »brutales finanzielles Eigeninteresse«. Economic-Finance-Geschäftsführer Peter Stähli beklagte sich, daß britische Investoren im Osten Deutschlands nicht so recht zum Zuge kämen. Für ihn war ein weiterer Grund der »übertriebene Bürokratismus innerhalb der Treuhand«. Dabei seien es nicht einmal so sehr die unklaren Regelungen bei der Eigentumsfrage, sondern es sei »einzig und allein« die »mangelnde Kooperationsbereitschaft von seiten der Treuhand«, was den Briten auf den Nägeln brenne.
(…)
Doch neben der massiven Kritik warteten die potentiellen »Investoren« aus Großbritannien und den USA auch mit einigen Vorschlägen auf. Eine Beschleunigung der Unternehmensverkäufe wäre durchaus zu erreichen, so die Amerikaner, wenn man nur »die ganze Privatisierung an private Investmentbanken abgibt, die dann für ein Erfolgshonorar arbeiten«.(186: Handelsblatt, 26.11.1990)
Da diese Banken ihr Honorar nur im Falle eines Abschlusses erhielten, wären sie daran interessiert, Verkaufsabläufe zu beschleunigen. Anschließend würden die Käufer die Sanierung der ostdeutschen Betriebe übernehmen.
All das bedeutet: Nur wenige Monate nach seinem Amts-antritt hatte Rohwedder bereits abgewirtschaftet. Zu vielen Leuten paßte seine Linie nicht ins Konzept.
Kohl muß weg
Während sich der Treuhand-Vorstand um die künftige Strategie zerfleischte und Rohwedder im Ausland Prügel bezog, wurde die Treuhand auch im Inland zur Zielscheibe massiver Kritik und von Angriffen nicht nur von links, sondern auch von rechts, was später gern vergessen wurde.
So gingen die CDU-Politiker Geißler und Biedenkopf Rohwedder hart an; Geißler warf dem Treuhand-Vorsitzenden gar »Versagen« vor.
Hauptproblem für Regierung und Treuhand war jedoch nunmehr, daß sich die soziale und politische Lage in den neuen Bundesländern dramatisch zuzuspitzen begann und Politiker von rechts und links nach einem Sündenbock für das sich anbahnende Desaster suchten. Nach den Kohlschen Wahlversprechungen, niemandem werde es nach der Wende schlechter gehen, zeigte nun die Realität ihr Gesicht – der Arbeitsmarkt im Osten brach nahezu restlos zusammen. Die Bundesanstalt für Arbeit erwartete eine Arbeitslosenquote von dreißig bis fünfzig Prozent für die neuen Bundesländer, das sind bis zu vier Millionen Arbeitslose. Die Regierung Kohl stand vor dem Offenbarungseid.
Die Montagsdemonstrtionen, von den Bonnern selbst noch als Ausdruck demokratischer Gesinnung gelobt, leiten auf und begannen sich nunmehr gegen die Bonner Koalition selbst zu richten. Die bewährten Diffamierungsmethoden und die Abstempelung der Demonstranten als »Chaoten« oder »Unruhestifter« verboten sich daher. Schließlich hatte man die Leute gestern noch für ihr Aufbegehren gegen den Honecker-Staat gelobt.
Angesichts der zusammenbrechenden Ostwirtschaft befürchtete die Bundesregierung »schwere soziale Unruhen« (SPIEGEL). Die Bonner Koalition, deren nahezu sämtliche Wahlversprechen sich als unhaltbar erwiesen hatten, geriet unter schweren politischen und moralischen Druck. Die »Wir-sind-das-Volk«-Bevölkerung der ehemaligen DDR, noch ausgestattet mit einem frischen »revolutionären Bewußtsein«, drohte, sich ein zweites Mal zu erheben und gleich noch eine Regierung hinwegzufegen. – »Kohl muß weg«, lautete der Slogan einer Montagsdemo.
Selbst die SPD sah sich nunmehr gezwungen, so etwas wie eine Oppositionsrolle zu spielen, indem ihr Vorsitzender Björn Engholm Neuwahlen forderte: »Wer das Vertrauen der Bevölkerung verliert, muß die Vertrauensfrage stellen und gegebenenfalls Neuwahlen ausschreiben. Das ist der durch das Grundgesetz vorgeschriebene Weg«, markierte Engholm die Marschrichtung seiner Partei. Die Regierung sei mit ihrem Latein am Ende und die Sozialdemokraten seien bereit, sich der Verantwortung zu stellen. Damit geriet Kohl auch parlamentarisch unter Druck, die Regierungsgeschäfte drohten ihm aus der Hand zu gleiten. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Vogel verlangte von Bundeskanzler Kohl, sich bei den Menschen in Ostdeutschland zu entschuldigen. Andere dachten laut über die Bildung einer großen Koalition nach. Vier Monate nach den Bundestagswahlen vom 2. Dezember 1990 stand die Bonner Regierung am Abgrund. Die Lage drohte ihr außer Kontrolle zu geraten, sie selbst im Strudel der Ereignisse zu verschwinden. Die Sensibilität der neuen Ostbürger für leere Versprechungen und hohle Floskeln brachte die Bonner in die Gefahr des Machtverlusts.
Nur einer ließ sich davon nicht im geringsten beeindrucken: der Bundeskanzler selbst. Während es in den neuen Ländern kochte und brodelte, fuhr Kohl in aller Seelenruhe zum Abspecken an den Wolfgangsee. Zwar plante er nach Ostern einen Besuch in der Ex-DDR, doch das konnte sich so recht niemand vorstellen: »Könnten Sie dem Kanzler guten Gewissens raten, sich den Demonstranten in Leipzig zu stellen?« fragten Reporter fünf Tage vor dem Rohwedder-Attentat die brandenburgische Arbeitsministerin Regine Hildebrandt. Antwort: »Kohl kann man es im Moment nicht empfehlen. In Leipzig wäre der Teufel los.«(187: Stern, 27.3.1991) Doch während sich in diesen stürmischen Tagen vor Ostern 1991 niemand den Bundeskanzler so recht in den revoltierenden neuen Bundesländern vorstellen kann, hat dieser überhaupt keine Probleme bei dem Gedanken an den nach den Feiertagen bevorstehenden Ostbesuch. Einem Fernsehreporter gibt er zu verstehen, er werde sein Besuchsprogramm selbstverständlich absolvieren.
Das »RAF«-»Stasi«-Gespenst
Wie es der Zufall so will, gibt es in jenen Tagen vor Ostern neben den Ereignissen im Osten noch ein zweites großes Medienereignis: die » RAF«-»Stasi«-Connection. Just eine Woche vor dem Attentat auf Rohwedder breiten Fernsehen und Illustrierte jene »furchtbare Allianz« vor ihrem Publikum aus. Losgetreten wird die Lawine von zwei freien Mitarbeitern des Femsehmagazins Monitor, die aus anonymen Vernehmungsprotokollen angeblicher Stasi-Mitarbeiter zitieren. Es sind jene Journalisten, die mit den Behauptungen in ihrem Buch Die RAF-Stasi-Connection vor Gericht später mehrere Niederlagen erleiden. Zwar präsentieren sie in Monitor lediglich »Beweise« für eine Zusammenarbeit von »RAF« und »Stasi« Anfang der achtziger Jahre, doch geschickt erwecken sie beim Zuschauer durch Einblendung von Bildern der neueren Attentate auf Beckurts und Herrhausen den Eindruck, als sei diese Allianz auch für spätere Morde verantwortlich. Der DDR-Geheimdienst habe den westdeutschen Untergrundkämpfern »auch den Umgang mit Lichtschrankenzündern« beigebracht, legt der SPIEGEL nach. (188: Spiegel, 14/1991) »Lichtschrankenzünder«, die es aller Wahrscheinlichkeit nach niemals gegeben hat. In den Tagen vor dem Anschlag auf Rohwedder beherrscht die »RAF-Stasi-Connection« die ersten Seiten der Zeitungen und die Kommentare der Rundfunkanstalten. Die »RAF-Stasi-Connection«, in der beweisbaren Substanz eine offenbar einmalige Schießübung von »RAF«-Mitgliedern in der DDR, wird zum neuen Gespenst des wiedervereinigten deutschen Staates. Mit »RAF« und »Stasi« werden in einer gigantischen Bewußtseinsoperation zwei deutsche Haßbegriffe erster Güte verschmolzen. Auch die Ostbürger, bislang in Sachen »RAF« eher unbeleckt, begreifen jetzt die Staats- und Bürgerfeindlichkeit dieser geheimnisvollen Organisation. Wenn die »RAF« mit der »Stasi« gemeinsame Sache macht, kann sie ja wohl kaum positiv zu bewerten sein. In dieser Stimmung geht das Volk in die Osterfeiertage.
Seinen Mitarbeitern in der Treuhand gibt Detlev Karsten Rohwedder einen dreiseitigen Brief mit auf den Weg, nicht wissend, daß dies sein letzter sein sollte. Dort verbeugt er sich mit der marktwirtschaftlichen Formel, wonach »Privatisierung die beste Sanierung« sei, vor seinen Gegnern, bekennt sich aber auch dazu, daß unausweichliche Stillegungen behutsam zu strecken seien, »um Zeit für das Aufwachsen neuer Arbeitsplätze zu gewinnen«. Unternehmen mit Zukunftschancen, die sich aber noch nicht privatisieren ließen, sagte der Treuhand-Chef seine »entschlossene« Unterstützung zu.(189: Frankfurter Rundschau, 11.4.1991)
(…)
Schüsse aus der Dunkelheit
Als der Treuhand-Chef am Vorabend seines Dienstantritts nach Ostern in Berlin, am Ostermontag, den 1. April 1991, um 23.30 Uhr mit dem Rücken zu einem Fenster im ersten Stock seines Düsseldorfer Hauses steht, trifft ihn ein tödlicher Schuß. Rohwedder fällt vornüber und ist augenblicklich tot. Bereits die Qualität dieses Schusses, abgefeuert aus ca. dreiundsechzig Metern Entfernung, ist von Interesse. Die Attentäter wollten offenbar nichts dem Zufall überlassen und brachten im ersten Versuch einen geradezu chirurgischen Treffer an. (…) Genau nach demselben Muster wurde 1986 der schwedische Ministerpräsident Olof Palme erschossen. Der Schuß zwischen die Schulterblätter ist bei Profis besonders beliebt, da er vier Lebensstränge gleichzeitig zerreißt.
In dem Rohwedders Haus gegenüberliegenden Schrebergartengelände hatte(n) der oder die Täter wieder einmal – freiwillig – Spuren hinterlassen, deren Zusammenhang mit der Tat nur teilweise erkennbar ist. Nach drei Schüssen lagen dort »ordnungsgemäß«, laut dpa neben einem »Gartenstuhl«, drei Patronenhülsen des Kalibers 7,62 mal 51 Millimeter – NATO-Standard, aber auch fürJagdgewehre gut. Hier stellt sich bereits die Frage, weshalb die Täter die Patronenhülsen eigentlich liegenließen. Angesichts ihrer Professionalität muß man davon ausgehen, daß dies ganz bewußt geschehen ist, denn schließlich wurden bislang alle verwertbaren Spuren von ihnen offenbar vollständig beseitigt. Von Tätern bewußt hinterlassene Spuren sind aber in aller Regel falsche Spuren.
(…ein langer Abschnitt über die folgende Fahndungsfarce…)
Briefe vom schießenden Seelsorger
Zu den am Tatort bewußt zurückgelassenen Spuren gehört ein erstes »Bekennerschreiben«, in dem der Name Rohwedder nicht einmal genannt wird. Text: »Wer nicht kämpft, stirbt auf Raten. Gegen den Sprung der impelialistischen Bestie – unser Sprung im Aufbau revolutionärer Gegenmacht. Die Bedingungen für menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben im Kampf gegen die reaktionären großdeutschen und westeuropäischen Pläne zur Unterwerfung und Ausbeutung der Menschen hier und im Trikont durchsetzen! Zusammen kämpfen und wir werden zusammen siegen! Rote Armee Fraktion Kommando Ulrich Wessel«.
Die ermittelnden Beamten vor Ort gingen davon aus, daß das Schreiben »echt« sei, hieß es bei der Bundesanwaltschaft. Wie Beamte das an Ort und Stelle – vielleicht durch Handauflegen – erkennen können, bleibt ein Rätsel.198 Die Bundesanwaltschaft rechne damit, so die Nachrichtenagentur Reuter weiter, daß die »RAF« wie schon bei früheren Anschlägen »diesem kurzen Bekennerbrief ein längeres, detailliertes Schreiben folgen läßt«.
Der von Unbekannten hinterlassene Brief führt zu Schlagzeilen wie »RAF gibt den Mord an Rohwedder zu« (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG). Tatsächlich trifft Tage später ein mit Nadeldrucker hergestellter ausführlicherer Bekennerbrief ein.
Wie immer sei die »Authentizität« dieser Bekennerschreiben natürlich »leicht festzustellen«, meldet am 3. April 1991 die Nachrichtenagentur dpa. Möge auch der Sinn der Parolen verborgen bleiben, so die Reporter, den Ermittlern dienten sie »als Hinweis auf die Authentizität der Schreiben«. Experten des Bundeskriminalam tes untersuchten »jedes Wort einer Bekennung, vergleichen Inhalt, Satzbau und die Form des RAF-Emblems mit älteren Bekennerschreiben«. So könnten sich die Sicherheitsbehörden von der Täterschaft der »RAF« überzeugen, die Täter aber bleiben verborgen. Das »Kommando Ulrich Wessel« habe ein Bekennerschreiben hinterlassen, »aus dem sich wiederum am Ende nur eines sicher ergeben dürfte – Täter war die RAF.« Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft hätten »keine Zweifel«, daß der Bekennerbrief »echt« sei. 199 Was von solchen Behauptungen zu halten ist, ist inzwischen bekannt. Die Bekennerschreiben sind weder ein Beweis für die Täterschaft einzelner Personen noch einer Gruppe namens »RAF«.
In dem »RAF«-Brief vom April 1991 wird Rohwedder zu einem seit Jahrzehnten menschenfressen den Ungeheuer hochstilisiert, der sich zuletzt als Chef des Hoesch-Konzerns »als brutaler Sanierer« erwiesen habe. Er habe »bei Hoesch innerhalb von wenigen Jahren mehr als 2/3 aller ArbeiterInnen rausgeschmissen und den bankrotten Konzern zu neuen Profitraten geführt.«
Selbst die linke taz verweist solche Parolen in das Rcich der Phantasie: »Tatsächlich hat Rohwedder bei Hoesch nicht einen einzigen Stahlarbeiter > rausgeschmissen <. Mit seinem Sanierungskurs rettete er Hoesch vor der Pleite, sicherte über zehntausend Arbeitsplätze und sorgte in Zusammenarbeit mit den Betriebsräten, der IG Metall und mit Unterstützung der Bundesregierung dafür, daß niemand entlassen wurde. Statt dessen schieden die älteren Arbeitnehmer Jahr für Jahr über den Sozialplan, der bis zur Rente neunzig Prozent des Nettoeinkommens garantierte, frühzeitig aus. So wurde der Belegschaftsabbau geschafft, ohne daß auch nur ein einziger Hoesch-Beschäftigter in die Arbeitslosigkeit entlassen worden ware.«200
Allein dies wirft die Frage auf für wie dumm die Autoren der »RAF«-Briefe die westdeutsche Bevölkerung eigentlich halten.
(…)
Mit der »RAF« für die Treuhand?
Bedeutsam an dem Brief ist aber, daß sich die Täter namens »RAF« wieder einmal explizit an eine aus. dem Ruder laufende Protestbewegung anbiedern. Absatzweise ergehen sie sich in Kapitalismus- und Treuhandkritik und übernehmen teilweise die Argumentationen der Protestierer von Leipzig und Berlin.
Für die hat das fatale Folgen. Der Mord an Rohwedder und die »RAF«-»Stasi«-Connection zeitigen auf den Demonstrationsschauplätzen der neuen Bundesländer umgehend Wirkung. Die Demonstrationsszene bricht in sich zusammen, niemand hat so recht Lust, im Schulterschluß mit »RAF« und »Stasi« auf die Straße zu gehen. Die gesamte Protestbewegung gerät durch die Umarmung des »RAF«-»Stasi«-Phantoms urplötzlich in die Defensive.
Der Mord verschafft der Republik die dringend benötigte Einigung: »Vertreter aller Parteien, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Wirtschaft äußerten sich entsetzt und tief bestürzt über das Attentat.«201
»Es muß jetzt aufhören, sich gegenseitig Schuld zuzuweisen«, läutet der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe das Ende der Proteste ein: »Politische Schaukämpfe, Schuldzuweisungen und das Aufbauen von Buhmännern lösen keine Probleme.«202
Zwanglos stellt die Nachrichtenagentur Reuter den Zusammenhang zwischen friedlichen Demonstranten und Mördern her: „Treuhand – Deutschlands größte Schand“ schrieben Montagsdemonstranten auf ihre Spruchbänder. Kein Wunder, wenn die Terroristen der Rote Armee Fraktion, die sich zu seiner Ermordung bekannten, in Rohwedder eine sogenannte -Symbolfigur des militärisch-industriellen Komplexes- sahen.« 203 Und Brandenburgs Stolpe äußerte den Verdacht, daß mit dem Mord an Rohwedder die Mißstimmung in der ehemaligen DDR angefacht werden sollte: »Auf der Woge dieser Stimmungsmache wird versucht, die Lage anzuheizen und so was wie Sympathie für Terroristengruppen zu schaffen«, sagte er laut Reuter. 204 Auch der stellvertretende CDU-Vorsitzende de Maiziere hielt einen Zusammenhang zwischen dem Mord und der Kritik an der Tätigkeit der Treuhand für denkbar. CSU-Generalsekretär Huber forderte die Kritiker der Treuhand auf, keine weiteren Emotionen wegen der schlechten sozialen Lage zu schüren. Der damalige CDU/CSU-Fraktionschef Dregger sagte, Regierung und Opposition, Wirtschaft und Gewerkschaften, Parteien, Verbände und Kirchen hätten eine Aufgabe gemeinsam: aus der politischen Einheit Deutschlands so bald wie möglich auch wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit zu machen. Rohwedder werde hoffentlich das letzte Opfer sein, »das uns an diese Verpflichtung gemahnt.«205
Unter diesen Voraussetzungen ist freilich schlecht demonstrieren.
Der Chef der Industriegewerkschaft Chemie sprach sich laut FRANKFURTER RUNDSCHAU dafür aus, vorerst nicht mehr auf die Straße zu gehen. Solche Aktionen machten keinen Sinn mehr in einer Zeit, da es um wichtige Einzelentscheidungen in der Treuhandanstalt, in Bonn und in den neuen Bundesländern gehe.
Der vorösterliche Protest gegen die Treuhand und die Bundesregierung hätte nach Ostern in der »größten Demonstration auf ostdeutschem Boden« seit »jenem denkwürdigen 4. November 1989, als Hunderttausende von Menschen auf dem Alexanderplatz das kränkelnde SED-Regime ins Wanken bringen konnten« (FRANKFURTER RUNDSCHAU), kulminieren sollen. 150000 Menschen erwartete die IG Metall zur Kundgebung mit ihrem Chef Franz Steinkühler. Doch »aus neunhundert Bussen, die ursprünglich die Metaller aus dem darniederliegenden deutschen Osten in die Hauptstadt karren sollten, waren plötzlich hundertvierundachtzig geworden«, so die FRANKFURTER RUNNSCHAU. Statt von hunderffünfzigtausend ist nur noch von fünfunddreißigtausend Teilnehmern die Rede, und um »ja keine falschen Verbindungen herzustellen, war auf den Alexanderplatz als Kundgebungsort verzichtet worden. Dort hat schließlich die Treuhandanstalt ihren Sitz«, so die RUNDSCHAU.206
Interessant ist, daß das »RAF«-Phantom die Entwicklung in seinem Tage nach der Tat eintreffenden »Bekennerbrief« bereits kommentiert. Uber die verheerende Wirkung seiner Tat auf die Protestbewegung im Osten heißt es dort, die Gewerkschaften versuchten, den Protest zu kanalisieren und zu verhindern, daß aus Arbeitskämpfen politische Kampfe würden. Zu diesem Zweck »versuchen sich Gewerkschaftsbonzen aktuell an die Spitze der Protestbewegung in der Ex-DDR zu stellen – daß sie gleich nach unserem Angriff auf Rohwedder überlegt haben, ob sie die Montagsdemonstrationen stoppen sollen, paßt genau in diese Linie.« Die unbekannten Absender verschweigen wohlweislich, daß genau das Gegenteil richtig ist: Sie selbst haben sich mit ihrem Attentat an die Spitze der Protestbewegung gestellt und ihr damit den Todeskuß verpaßt. Die Gewerkschaftsführer waren gezwungen zu handeln, da das Attentat gegenüber allen Regierungs- und Treuhand-Kritikern einen großen moralischen Druck aufbrachte.
Sonja Kemnitz von der »Interessengemeinschaft Betriebe und Gewerkschaften« der PDS brachte die Auswirkungen des »RAF«-Attentats auf den Punkt. Überschrift: »Mit der RAF für die Treuhand?«: »Ich bin Kritikerin der Treuhand. Deshalb bin ich gegen das Attentat auf Rohwedder. Denn wer darf denn nun noch die Treuhand kritisieren, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, mit den Mördern zu sympathisieren. Das Attentat kann benutzt werden zur Diffamierung der tausendfach berechtigten Treuhandkritik, wie sie – hart in der Sache und ohne Gewalt – auf vielen Demonstrationen in den neuen Bundesländern geübt wurde. Wem eigentlich paßt das so gut in die politische Landschaft? So wie vor Jahren die Attentate der roten Brigaden in Italien, hinter denen offensichtlich nicht nur und nicht einmal in erster Linie Linksradikale standen?« Und: »Ist nicht auch denkbar, daß das bisherige Konzept noch entschiedener durchgezogen wird?«207
Die Treuhandkritiker und Demonstranten wichen vor der Drohung des »RAF«-Phantoms zurück. Die Gefahr, die in einem solchen Verhalten liegt, berücksichtigen sie nicht: daß spätestens ab jetzt jedem Protest die Spitze genommen werden kann, sobald irgend jemand vorgibt, in seinem Namen zu schießen.
Politik mit einer Leiche
Wie immer kümmert sich das schießende Kommando mit dem Absender »RAF« auch in dem Rohwedder-Bekennerbrief liebevoll um die »RAF«-Gefangenen. Für jede revolutionäre Bewegung auf der Welt sei es »eine Frage der eigenen Identität, Wege zur Freiheit der politischen Gefangenen zu suchen. Eine revolutionäre Bewegung, der die Gefangenen nicht am Herzen liegen, kann es nicht geben.« Nun, damit führt sich die »RAF« gleich selbst umstandslos ad absurdum, denn wie schon das Attentat auf Herrhausen hat auch dieses auf die Lage der »RAF«-Häftlinge katastrophale Auswirkungen. Der CSU-Generalsekretär Erwin Huber startete im Kielwasser des Attentats einen unglaublichen Angriff auf den Rechtsstaat, indem er einsitzenden Häftlingen das Recht auf Verteidigerbesuche bestritt. Dem KÖLNER EXPRESS sagte Huber, seine Partei denke an eine Überprüfung, »ob es noch vertretbar sein kann, daß einsitzende RAF-Terroristen ständig Besuch von ihren Rechtsanwälten bekommen, obwohl überhaupt keine Verfahren laufen«.208 Nach der Verteidigersperre ist dies ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zum wehrlosen Häftling, der sang- und klanglos und ohne Aufsicht seines Vertrauens hinter Gefängnismauern verschwindet. Als Wegbereiter, der die komplette »Auslieferung« der »eigenen« Genossen an den Staat konsequent betreibt, läßt grüßen: die »RAF«.
Es gibt kein Butterbrot umsonst –
die Geschichte der Birgit Breuel
Die Geschichte der Rohwedder-Nachfolgerin Birgit Breuel, verantwortlich für an die 10000 Betriebe und mehrere hunderttausend gefährdete Arbeitsplätze, mithin das gesamte wirtschaftliche Erbe des realsozialistischen deutschen Staates, beginnt am 7. September 1937 in Hamburg. Freilich nicht als Tochter eines Hafenarbeiters, sondern des millionenschweren hanseatischen Privatbankiers Alwin Münchmeyer. Münchmeyer, nacheinander Chef der Handelskammer Hamburg, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages sowie des Bundesverbandes Deutscher Banken, hatte sein Geldinstitut nicht ganz alleine aufgebaut, sondern es in den dreißiger Jahren von der emigrierten jüdischen Bankiersfamilie Rappolt übernommen. Der Münchmeyer-Clan residiert(e) in unmittelbarer Nachbarschaft des übrigen Hamburger Geldadels -einschließlich Axel Springer – hoch über der Elbe in einem viele tausend Quadratmeter großen Wald- und Vil1enbesitz.
Jahrzehntelang entwickelte sich die Münchmeyer-Familienbank stabil und fusionierte 1969 mit zwei anderen »arisierten« Geldinstituten, dem Hamburger Bankhaus Schröder und der Frankfurter Bank Hengst & Co. Heraus kam die Bank Schröder, Münchmeyer, Hengst & Co. .(SMH), über Jahre hinweg eine der führenden Privatbanken in der Bundesrepublik mit einer Bilanzsumme von bis zu zwei Milliarden Mark. Unter Bankern galt sie als Juwel der Branche. Außerhalb deutscher Grenzen trieb sie »ein überaus aktives, ja oft aggressives Geschäft im angloamerikanischen Raum«.209 Geschäftsführender Mitinhaber der Bank: Birgit Breuels Bruder Hans-Hermann Münchmeyer.
Schröder, Münchmeyer, Hengst und Co. war ein Zusammenschluß alten deutschen Geldadels mit gewachsenen Beziehungen zur Spitze des US-amerikanischen Investmentbanking. Der Altvordere der Schröder-Bank, Baron Rudolph von Schröder, saß vor dem Zweiten Weltkrieg in der Leitung der Hamburg-Amerika-Linie (heute Hapag Lloyd), damals Tochterfirma der US-Investmentbank Brown Brothers Harriman. Brown Brothers Harriman war die Bank von George Bushs Vater Prescott Bush. Diese historischen Beziehungen von SMH lebten fort in der Mitgliedschaft des SMH-Gesellschafters Graf von Galen im deutsch-amerikanischen Hochfinanzverein Atlantik-Brücke. Privat ist die Familie Münchmeyer dort bis in diejüngste Zeit durch Birgit Breuel präsent, die hier auch ihren ehemaligen niedersächsischen Ministerkollegen Walther Leisler Kiep treffen konnte. In dem amerikanischen Freundschaftsverein Atlantik-Brücke ist die Treuhand überhaupt dick vertreten. Neben der Treuhand-Präsidentin sind außerdem der zuständige Direktor für Privatisierungen und der stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrates der Treuhand, Otto Gellert, dabei.
(…es folgt eine Schilderung ihrer Politik – »ein Programm der gesellschaftlichen Entsolidarisierung, der Versuch, die Grundwerte Solidarität und Gerechtigkeit zu privatisieren«…)
…Mit der Ernennung Birgit Breuels zur Treuhand-Chefin kehrten sich die Verhältnisse jedoch um.
Kaum war Detlev Karsten Rohwedder unter der Erde, zogen Experten, Politiker und die Wirtschaftspresse Bilanz: »Die Privatisierung«, so die WIRTSCHAFTSWOCHE, sei als »Hauptaufgabe« der Treuhand »bisher kaum vorangekommen«.232 Ende Februar 1991, nach sieben Monaten, waren gerade sechshundert Unternehmen verkauft,233 Ende März tausend.234 Das war die Bilanz von Detlev Karsten Rohwedders Amtszeit als Treuhand-Chef.
Das sollte schnell anders werden: »Privatisierung nimmt Fahrt auf«, meldete die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG bereits am 13. Juli 1991. Die neue Treuhand-Präsidentin (Jahresgehalt siebenhunderttausend Mark) 235 treibe die Privatisierung »mit massivem Druck« voran, sekundierte die WIRTSCHAFTSWOCHE. »Was haben Sie persönlich verändert?« fragte das Blatt die Treuhand-Chefin. Antwort: »Das Tempo der Privatisierung, weil ich darin die größte Chance für die Sanierung der Unternehmen sehe.«236
In einem WELT-Interview, in dem sie sich auch über »Seilschaften« mit »krimineller Energie« äußert, zieht sie befriedigt Bilanz über ihre ersten zwei Monate als Treuhand-Chefin. Im Moment verkaufe man dreihundert Unternehmen pro Monat, das Tempo der Privatisierung »nimmt also gewaltig zu«.237 Das war nicht übertrieben: Mitte Mai hatte die Treuhand-Chefin bereits sechshundert Betriebe verkauft, soviel wie Rohwedder in sieben Monaten. Am Ende desJahres 1991 waren es sogar fünftausend,238 und im Juli 1992 sechstausendfünfhundert.239
… Nur wer Schulden macht, hat wirklich Geld
Ein Riesengeschäft für das Finanzgewerbe sind auch die horrenden Treuhandschulden. Im März 1992 hat die SPD die wachsende Verschuldung der Anstalt unter der Leitung von Niedersachsens ehemaliger Wirtschafts- und Finanzministerin (Verfünffachung der Landesschulden während ihrer Amtszeit) massiv kritisiert. Der »explosionsartig wachsende Kapitalbedarf« sei mit einer stabilitätsorientierten öffentlichen Finanzwirtschaft nicht mehr in Einklang zu bringen, sagte der SPD-Abgeordnete Helmut Esters. Die maximale Neuverschuldung der Treuhand werde mit rund hundertvierzehn Milliarden Mark in den nächsten drei Jahren sogar über der geplanten Kreditaufnahme des Bundes liegen. Esters bekräftigte die Forderung der SPD, der Treuhand einen gesetzlichen Auftrag zur aktiven Sanierung von überlebensfähigen Unternehmen zu geben. Diese Aufgabe nehme die Treuhand bisher völlig unzureichend wahr.240
Hundertvierzehn Milliarden Mark, das ist ein gewaltiger Batzen Geld und ein gigantisches Geschäft für das krisengebeutelte Finanzgewerbe, das sich seit über einem Jahrzehnt mit problembeladenen Kreditnehmern herumzuschlagen hat. Die Treuhandanstalt mit ihrer Kreditaufnahme jenseits der der gesamten Bundesrepublik war ein Lichtblick in der wackelnden internationalen Geldbranche. Nicht nur wegen ihres gewaltigen Kapitalbedarfs, sondern auch wegen des sogenannten »Triple-A-Ratings«. Dieses dreifache A verleiht die weltweit führende »Rating Agentur« Standard & Poor’s nur den denkbar besten und solventesten Kreditnehmern; ohne das Rating geht beispielsweise auf US-Finanzmärkten schon lange nichts mehr. Zu den vertrauenswürdigsten Kreditnehmern zählt die Treuhandanstalt als Behörde des deutschen Staates allemal. Jeder Gläubiger der Treuhand, also auch jeder, der Geld in sie investiert, hat einen direkten Anspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland. Statt dubioser Diktaturen in Lateinamerika und Südostasien nun das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik als Kreditkunde -wenn das keine frohe Botschaft war.
Die Kreditaufnahme der Treuhand soll sich ab Ende September 1992 allmählich schwerpunktmäßig auf Märkte verlagern, die auch für ausländische »Kreditgeber« interessant sind. So kommt man langsam weg von Commercial Papers, Geldmarktkrediten und Schuldscheinen hin zu sogenannten Anleihen, die auch an der Börse gehandelt werden. Auf diesem Anleihenmarkt haben erstmals auch ausländische »Investoren« (Pensionsfonds, Investmentfonds usw.), etwa aus den USA, eine realistische Chance, sich am Treuhandschuldengeschäft zu beteiligen. Hier soll sich bis 1994 das Gros der Treuhandkreditaufnahme abspielen, nämlich dreißig Milliarden Mark pro anno.
Und natürlich sind die für die nächsten drei Jahre vorgesehenen hundertvierzehn Milliarden nur der Anfang. Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet mit letztlich rund dreihundert Milliarden Mark. Die Frage, wieviel Schulden schließlich wirklich bei der Treuhand hängenbleiben, könne »keiner beantworten«, sagte Birgit Breuel der taz. Begründung: Daß die Gewinne aus den DDR-Firmen rausgezogen worden und die Schulden betriebswirtschaftlich nicht mehr zu beseitigen seien, sei »ja nun wirklich nichts Originelles«. Und daß die Schulden bei der Treuhand hängenbleiben würden, habe nie jemand »anders diskutiert«. Schuldenmacherin Breuel: „Das ist halt so“241
… Liebesgrüße vom Großen Bruder
Zwar waren die Protestbewegungen inzwischen abgeflaut, doch die Treuhand stand immer noch im Kreuzfeuer der Kritik von rechts und links. Presse und Gewerkschaften beschwerten sich nach wie vor über die sozialen Defizite und allerhand Skandale, Unternehmer zweifelten einzelne Entscheidungen reihenweise an.
Nur am anderen Ende der Atlantik-Brücke war man mit der Treuhandanstalt plötzlich voll und ganz zufrieden. (…) Birgit Breuels Treuhanddelegation schwebte im November 1991 nicht etwa mit einer Linienmaschine ein sondern an Bord des Firmenjets einer amerikanischen Investment-Bank. (…)
Mitte November 1991 schließlich eröffnete die Treuhandanstalt ihr Büro in New York: »Uberzeugender als frühere deutsche Besucher«; vermerkte die FAZ, habe Birgit Breuel »auf die Vorteile eines Engagements im Osten Deutschlands hingewiesen.« Außerdem könne sie Bedenken hinsichtlich Eigentumsfragen, Umweltlasten und Altschulden heute mit der Versicherung »aus dem Weg räumen«, daß alle diese Fragen »regelbar« seien und keine Investitionshindernisse darstellten.246
(…)
Dank an die »RAF«
Zum Abschluß bleibt nur noch, ein Fazit über den Anschlag der sogenannten »RAF« auf Detlev Karsten Rohwedder zu ziehen. Mit ihrem Attentat wollten sich die Täter an die Spitze der Protestbewegung stellen, wie immer für die einsitzenden »RAF«-Gefangenen kämpfen und die »reaktionäre Entwicklung« im Osten »an der Wurzel treffen«. Im Rückblick bleibt nur die sarkastische Formel: Operation geglückt, Patient tot. Das schießende Kommando bewirkte in allen Punkten das glatte Gegenteil von dem, was es vor gab erreichen zu wollen.
Für die demokratische Protestbewegung im Osten gegen die gebrochenen Wahlversprechen der Regierung Kohl, den Ausverkauf der Treuhand und die Schließung der Betriebe war das Attentat der Todeskuß. Zusammen mit Mördern wollte niemand mehr protestieren und demonstrieren, die Demo-Busse blieben leer.
Auch für die sogenannten »Gefangenen aus der RAF« war das Attentat eine Katastrophe. Scharfmacher von rechts wie der CSU-Generalsekretär Huber holten zum endgültigen Schlag gegen lebensnotwendige demokratische Rechte von Häftlingen aus. Die »RAF«-Gefangenen gerieten traditionell als Drahtzieher in Verdacht. Noch immer gehen sie nach Meinung von sogenannten »Sicherheitspolitikern« zur Logistik der draußen operierenden »RAF« dazu und sind damit für jeden Mord quasi automatisch mitverantwortlich.
Schließlich hat das » RAF«-Kommando auch die »reaktionäre Entwicklung« in Ost- und Westdeutschland zielsicher vorangebracht. Mit dem Tod Rohwedders wurde rücksichtslos Innenpolitik getrieben, von der Forderung vom Zugriff auf die Stasi-Akten bis hin zur Absicherung von sogenannten »verdeckten Ermittlern «, mithin der Installation eines Spitzelsystems von Stasi-Ausmaßen. Den »Systemveränderern von rechts«, und dies ist keine polemische Übertreibung, war auch dieses Attentat willkommen, um die Bundesrepublik noch ein Stück mehr in Richtung eines totalitären Staates zu steuern.
Auch die reaktionäre Entwicklung im Osten brachte der Mord hurtig nach vorn. Mit der Installation der Politikerin Breuel konnte endlich der riesige Umverteilungsprozeß nach amerikanischem Zuschnitt ungehindert stattfinden, der da lautet: Profite privatisieren, Verluste sozialisieren. So war auch der »Große Bruder« USA, angeblicher »imperialistischer Erzfeind« der »RAF«, am Ende vollauf zufrieden. Die Zugeständnisse der Treuhand an die Unternehmen, zum Beispiel den Verzicht auf Ubernahme der Altlasten durch Investoren, zahlt der deutsche Steuerzahler. Die dreihundert oder mehr Milliarden fließen von deutschen Gehaltskonten via Treuhand in die Kassen der Konzerne. Der deutsche Steuerzahler hilft, das krisengeschüttelte internationale Kreditgewerbe zu sanieren, dem er als neuer Großkreditnehmer gerade recht kam. Die Frage, warum die Treuhand eigentlich nicht mehr Geld spart, statt immer mehr Schulden zu machen, ist da naiv. Längst geht es um ganz andere Interessen als die einer soliden Haushaltsführung im Sinne der Staatsbürger. Wer spart, statt Kredite aufzunehmen, raubt.den Banken ihren Gewinn. Das ist nicht nur bei Otto Normalverbraucher so, sondern auch zwischen Staaten und internationalen Banken. Bedanken können sich die Bundesbürger unter anderem bei der »RAF«.
175 Heym in: Die Weltwoche, 8. August 1991
176 Quick, 11.12.1991
177 FAZ, 31.3.1991
178 Der Spiegel, 29.10.1990
179 Süddeutsche Zeitung, 7.11.1990
180 ebd.
181 Die Welt, 21.2.1991
182 Süddeutsche Zeitung, 18.3.1991
183 Handelsblatt, 26.11.1990
184 ebd.
185 Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19.10.1990
186 Handelsblatt, 26.11.1990
187 Stern, 27.3.1991
188 Spiegel, 14/1991
189 Frankfurter Rundschau, 11.4.1991
190 Frankfurter Rundschau, 26.3.1991
191 Peters, RAF, a.a.O., S. 407
192 Gerd Korinthenberg in einem Gespräch mit den Autoren
193 Siegener Hochschulzeitung, 3/91
194 Frankfurter Rundschau, 18.4.1991
195 Der Spiegel, 8/1991
196 puplizistik und kunst 2/91
197 Quick, 11.4.1991
198 Reuter, 2.4.1991, 12.32 Uhr
199 dpa, 2.4.1991
200 taz in: Peters: RAF, a.a.O., S. 409
201 dpa, 2.4.1991
202 taz, 3.4.1991
203 Reuter, 2.4.1991, 14.27 Uhr
204 Reuter, 2.4.1991, 11.55 Uhr
205 dpa, 2.4.1991
206 Frankfurter Rundschau, 18.4.1991
207 Neues Deutschland, 5.4.1991
208 Frankfurter Rundschau, 10.4.1991
209 Süddeutsche Zeitung, 3.11.1983
210 nach: Munziger Archiv 36/91
211 Zeit, 29.6.1979
212 Deutsche Zeitung, 1.11.1974
213 Munziger Archiv 36/91
214 Stern, 48/1979
215 Frankfurter Rundschau, 5.4.1991
216 FAZ, 21.6.1978
217 Jürgen Hogrefe und Eckhart Spoo: Niedersächsische Skandalchronik. Göttingen 1990, S. 82
218 Köllner Stadtanzeiger, 31.10.1979
219 Der Siegel, 7.11.1983
220 Zeit, 29.6.1979
221 Zeit, 20.6.1979
222 Der Spiegel, 7.11.1983
223 Frankfurter Rundschau, 5.4.1991
224 Münchner Merkur, 2.11.1990
225 Die Welt, 4.3.1991
226 Zeit, 19.4.1991
227 ebd.
228 Frankfurter Rundschau, 18.6.1991
229 ebd.
230 so die Einschätzung eines Mitarbeiters der SPD-Fraktion, der namentlich nicht genannt werden möchte
231 ebd.
232 Wirtschaftswoche, 12.4.1991
233 Die Welt, 21.2.1991
234 Süddeutsche Zeitung, 18.3.1991
235 FAZ-Magazin, 27.3.1992
236 Wirtschaftswoche, 26.6.1992
237 Welt, 27.3.1991
238 Stern, 2.1.1992
239 Süddeutsche Zeitung, 29.7.1992
240 Süddeutsche Zeitung, 21.3.1992
241 taz, 17.8.1991
242 Zeit, 22.11.1991
243 Zeit, 2.1.1992
244 Wirtschaftswoche, 12.4.1991
245 Welt am Sonntag, 19.3.1991
246 FAZ, 16.11.1991
247 Süddeutsche Zeitung, 2.5.1991
248 FAZ, 3.4.1992
249 ebd