Mit dem Latein am Ende (1969)

Quelle: Der Spiegel, Hefte 26…42 / 1969

23.06.1969

„Mit dem Latein am Ende“

Heute wird gern totgesagt: die Ehe, das Parlament, Opas Kino, der liebe Gott und auch die Universität. Doch alles atmet noch ein bißchen, und wie noch immer Ehen wider den Zeitgeist geschlossen werden und für manche die Bibel immer noch recht hat, so schleppt sich auch die Alma mater von Semester zu Semester — zu gesund zum Sterben, zu krank zum Leben.

Am Krankenbett drängen sich 300 000 Studenten, 30 000 wissenschaftliche Mitarbeiter, 7000 Professoren — lehrend und lernend so gut es noch geht, untereinander und miteinander streitend, uneins über Diagnose und Therapie — sowie das große Konsilium aller, die auch ein Rezept haben.

Da ist der Wissenschaftsrat, ein angesehenes Gremium von Hochschullehrern, Kulturpolitikern, Industriellen und Ministerialbeamten, das seit 1958 Regierungen wie Hochschulen berät und umfängliche Reformempfehlungen vorlegt — doch weder Politiker noch Universitäten brauchen sich daran zu halten.

Da ist die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK), das Forum der Hochschul-Chefs — zumeist nur reagierend auf das, was andere fordern oder verwerfen; sie hat 73 Plenarversammlungen hinter sich gebracht und denkt vorerst weiter nach über die „Neuordnung der Lehrkörperstruktur“.

Da ist der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS), der Dachverband deutscher Hochschüler, der früher als staatsbeflissen galt und jetzt wie ein „sozialistischer Kampfverband“ auftritt — heute Reformen verneinend, die er einst erstrebte.

Laut Grundgesetz für Hochschulfragen bisher nicht zuständig, aber auf Mehrung von Kultur-Kompetenzen bedacht: der Bund, dem jetzt vom Parlament eine gewisse Verantwortlichkeit für die „Allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens“ übertragen wurde — doch noch ist ungewiß, wie weit diese Kompetenzen reichen sollen.

Ganz und gar zuständig in Hochschulfragen: die Kultusminister der Länder, die es fast zwei Jahrzehnte lang den Hochschulen überließen, sich selbst zu reformieren und nun, da sich diese Hoffnung als trügerisch erweist, allenthalben Hochschulgesetze planen oder mit Hilfe der Parlamente durchsetzen — zum Verdruß der auf Eigenständigkeit bedachten Universitäten.

Vernünftiges wie Aberwitziges, Banales wie Hochtrabendes erschallt aus dem dissonanten Chor der Studenten, die dem ehemaligen Stuttgarter Rektor Professur Fritz Leonhardt in ihrer Mehrheit noch immer „viel zu pflichtbewußt und fleißig, aber nicht wagemutig und streitbar genug“ vorkommen, in ihren radikalen Minderheiten aber eher streitwütig gegen „reformistische Scheiße“ agitieren, die „alte Wissenschaft“ für tot erklären und Steine werfen für eine neue Welt.

Progressives wie Reaktionäres, Einsichtiges wie Borniertes ist aus der Schar der Professoren zu vernehmen, die sich in ihrer Mehrheit als reformunfähig oder reform-unwillig erwiesen haben und nunmehr eher hilflos dem studentischen Aufbegehren gegenüberstehen; manche von ihnen glauben noch immer, daß die deutsche Universität — wie es der Historiker Hermann Heimpel einmal in den fünfziger Jahren ausdrückte — „in ihrem Kern gesund“ sei.

Und da sind schließlich bildungspolitische Amateure wie Verkehrsminister Georg Leber, dem — laut „Frankfurter Rundschau“ — danach zumute ist, einigen Studenten der Soziologie und Politologie den Hintern zu verhauen und mindestens einigen Professoren dazu; oder wie der Unternehmensberater Ludwig Kroeber-Keneth, der als „Allheilmittel“ zunächst die „Schließung aller Universitäten“ empfiehlt und meint, die Wirtschaft müsse dazu übergehen. „sich die Menschen, die sie braucht, selbst zu backen“.

So einfach, so schwierig stellt sich das Problem der Erneuerung der deutschen Universitäten dar. So vielfältig sind die Interessen, so zahlreich die Interessenten. Und so vehement werden die Auseinandersetzungen geführt, daß — wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Hans Filbinger sagte, die Hochschulen eine „Kampfstätte aller gegen alle“ geworden sind.

Alle gegen alle mit Tomaten und Rempeleien, mit Verächtlichmachung und Selbstbemitleidung, mit Pseudo-Argumenten und altväterischen Belehrungen. Wie radikal-reformerische Studenten sich in fanatisierten Teachins unter Anarchisten kaum noch Gehör verschaffen können (Hamburgs ehemaliger Asta-Vize Jens Litten: „Die würden mich verprügeln“), so erstickt die Stimme reformerischer Professoren häufig im Chor konservativer Kollegen (Professor Alexander Schwan von der FU Berlin: „Wenn wir Reformer den Mund aufmachen, geht bei den anderen gleich der Vorhang runter“).

Zwischen Resignation und Fanatismus, im Wust von Geschwätz und Gezänk ist es mühselig geworden, ernsthaft zu diskutieren, was nach Ansicht des relativ kleinen Kreises einsichtiger Politiker, Professoren und Studenten diskutiert werden muß, etwa:

* ob das überkommene Prinzip der „Einheit von Forschung und Lehre“ ohne Ausnahme beibehalten werden soll — oder ob bestimmte Hochschulen oder Hochschulbereiche sich auf Forschung, andere sich auf die Wissensvermittlung konzentrieren sollen;

* ob in einer technologisch orientierten Industriegesellschaft die Geisteswissenschaften in vielen Schulen und Hochschulen noch einen Rang einnehmen sollen wie im 19. Jahrhundert — zu Lasten einer naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Ausbildung, die der Zukunft angemessen wäre;

* daß Hochschulausbildung und künftige Berufspraxis in neuen Studienplänen besser aufeinander abgestimmt werden müssen — Psychologie-Studenten zum Beispiel ihr Urteil durch die Beobachtung leibhaftiger Menschen schärfen und nicht nur, wie an vielen Instituten üblich, an papierenen „Blinddiagrammen“ mit Testberichten über irgendeinen XY;

* ob der weiter anschwellende Strom der Abiturienten nicht nur in die Universitäten herkömmlicher Art, sondern auch in neu zu errichtende Fachhochschulen (etwa für Ingenieurberufe, für Wirtschafts- und Verwaltungslaufbahnen) gelenkt werden sollte, die sich innerhalb sogenannter Gesamthochschulen um die bestehenden Universitäten gruppieren würden;

* daß die hierarchische Struktur der Universität, in der Lehrstuhlinhaber (Ordinarien) fast unbeschränkt über Forschungsvorhaben, Lehr-Inhalte und Wissenschaftler-Karrieren bestimmen, ersetzt werden muß durch eine demokratische Universitätsverfassung, die Assistenten und Studenten wirksamere Mitbestimmungsrechte einräumt;

* inwieweit Entscheidungen an der Hochschule öffentlich fallen sollen und nicht wie bisher hinter verschlossenen Türen — angefangen von den Examina, in denen ein Professor Gunst oder Mißgunst walten lassen kann, bis zur Bestellung von Assistenten und zur Berufung von Professoren;

* inwieweit die überkommene Gliederung der Universität in Fakultäten (Philosophische, Medizinische, Naturwissenschaftliche etwa) aufgegeben werden soll zugunsten einer neuen Fachbereich-Organisation, wie sie nach amerikanischen Erfahrungen in doppelter Hinsicht vorteilhaft ist: einmal, weil sie der Team-Arbeit innerhalb einer Spezialdisziplin förderlich ist, zum anderen, weil sie Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen intensive Zusammenarbeit ermöglicht;

* wie die Hochschulbürokratie, bisher noch geteilt in akademische Selbstverwaltung und staatlich gelenkte Wirtschaftsverwaltung, vereinheitlicht werden soll und ob anstelle eines häufig nur für ein bis zwei Jahre amtierenden Rektors aus dem Professorenstand künftig ein für mehrere Jahre gewählter Präsident an die Spitze der immer mehr einem modernen Großbetrieb ähnelnden Universität treten soll — ein Präsident, der nicht unbedingt über akademische Würden verfügen muß, aber sich im modernen Management auskennt. Wie und aus welchem Geist heraus diese Fragen entschieden werden davon hängt nicht nur die Befriedung der aufgewühlten Universitäten und das staatsbürgerliche Engagement ganzer Generationen des akademischen Nachwuchses ab, sondern nach Ansicht profilierter Kritiker auch die kulturelle und wirtschaftliche Zukunft der Bundesrepublik.

Was der Karlsruher Professor Karl Steinbuch in seiner Studie „Falsch programmiert“ über die Versäumnisse in Wissenschaft und Forschung sagt, gilt auch für den Hochschulbereich: „Wenn wir so weitermachen wie bisher, sind wir im Jahre 2000 keine international führende Industrienation mehr, sondern nähern uns dem Zustand eines unterentwickelten Landes …: wissenschaftlich, technisch und sozial zurückgeblieben.“

In anderen Industrieländern sind die Weichen für das Jahr 2000 schon gestellt worden — sei es durch verstärkte Investitionen für Bildung, Wissenschaft und Forschung (wie in Großbritannien, das im Jahre 1964 bereits 2,3 Prozent seines Bruttosozialprodukts in „Forschung und Entwicklung“ investierte — im Gegensatz zur Bundesrepublik, die sich 1964 mit 1,6 Prozent beschied und es auch bis 1967 nur auf 2,1 Prozent brachte).

Sei es durch eine radikale Neuordnung des gesamten Bildungssystems (wie in der DDR, die — wenn auch reglementierend — praktisch jedes wissenschaftliche und technische Talent mobilisiert).

Oder sei es durch kontinuierliche Bemühung, die häufig zur Selbstisolierung neigenden Wissenschaften in Dialog miteinander und mit dem Alltag zu bringen (wie in Amerika, wo Team-Arbeit in der Wissenschaft selbstverständlich geworden ist und die Studiengänge der meisten Disziplinen längst entrümpelt worden sind).

In Westdeutschland aber wird in vielen Fächern noch gelehrt und gelernt wie vor 50 Jahren. Deutsche Studienräte müssen semesterlang Gotisch oder Althochdeutsch pauken, doch von praktischer Pädagogik erfahren sie fast nichts. „Der künftige Studienrat“, so kritisierte unlängst der Bochumer Pädagogik-Professor Joachim H. Knoll, „wird wie der präsumptive Privatdozent ausgebildet, als Spezialist, als Fachwissenschaftler; und kein Mensch scheint daran zu denken, daß dieser so ausgebildete Studienrat später zehnjährigen Schülern Interpunktion beibringen und mit zwölfjährigen Nacherzählungen üben muß — bei solchem Geschäft ist er ein meist hoffnungsloser Dilettant.“

Angehende Hochschul-Ingenieure werden mit viel, aber zu wenig zukunftsträchtigen Kenntnissen befrachtet, so daß der Berliner TU-Professor Friedrich-Wilhelm Gundlach sich zu der Feststellung genötigt sieht: „Der Ingenieur wird heute in seiner Berufspraxis mit der Lösung von Problemen betraut, von denen er während seines Studiums auch nicht andeutungsweise etwas gehört hat.“ In einer Epoche, in der Ingenieure etwa mit Laser-Strahlen umgehen müssen, die zur Zelt ihres Studiums noch gar nicht entdeckt waren, kommt es nach Gundlach vor allem darauf an, den Ingenieuren die Fähigkeit zum selbständigen Lernen zu vermitteln,

Angehende Mediziner bekommen in den ersten drei Jahren ihres Studiums kaum Patienten zu Gesicht — es sei denn beim Krankenpflegedienst. Professor Ludwig Demling, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik Erlangen, schreibt in einem Brief an den SPIEGEL: „Das mit dem Medizinstudium ist heute noch so wie zu meiner Zeit. Man weiß nach dem Staatsexamen vielerlei und kann nichts.“

Anders in Amerika, wo die Medical Schools beispielsweise dazu übergehen, schon den Studenten der Anfangssemester eine Schwangere als „Leitpatientin“ und Studienobjekt anzuvertrauen. Der Student ist bei jeder Untersuchung durch Fachärzte, bei jeder Beratung oder eventuellen Operation zugegen, verfolgt die Entwicklung des Kindes und beginnt dabei — so beschreibt der Münchner Privatdozent Dr. Gerhard Ulbrecht die Neuerung — „bereits ärztliches Erfahrungsgut zu sammeln. Er wird nicht nur mit praxisnahen medizinischen Fragen, sondern auch mit sozialen Problemen konfrontiert, die in der Familie des Kindes auftreten.“

Anders auch in Frankreich, wo die juristische Ausbildung weit mehr der Praxis zugewendet ist als in Deutschland — und gleichwohl allein nicht hinreicht, einem Universitätsabsolventen hohe Verwaltungspositionen zu sichern. Eine politische oder ministerielle Karriere ist einem Franzosen um so eher möglich, je vielseitiger er sich für öffentliche Aufgaben rüstet. Der französische Staatsminister Jean-Marcel Jeanneney etwa ist nicht nur Doktor der Rechte, sondern er besitzt zugleich die Lehrbefähigung für den Gymnasialunterricht und hat zudem Diplome in Wirtschaftswissenschaften und Politik erworben.

Was sich so an Mängeln in Deutschland offenbart, in der Ausbildung von Juristen und Medizinern ebenso wie in Naturwissenschaft und Technik, schrumpft in der Sicht mancher sogenannter Experten zu einer simplen Geldfrage zusammen: mehr Geld, mehr Wissenschaft, bessere Hochschulabsolventen,

Das stimmt nur zum geringeren Teil, und Kritiker wie Karl Steinbuch halten es gar „für einen Irrtum, anzunehmen, die Unzulänglichkeiten unserer Schulen und Hochschulen, unserer Institutionen und Bemühungen um Wissenschaft und Technik seien vorwiegend ein organisatorisches oder finanzielles Problem“. Vielmehr sieht Steinbuch als Kernursache der Misere eine „irrationale, antitechnische und antiwissenschaftliche Ideologie“, die sich von der Lebenswirklichkeit entfernt habe.

Die These findet ihr Exempel, wenn studentische Ultras in der kaum verständlichen Kunstsprache der Revolution stundenlang über den Kontakt zur Arbeiterschaft palavern, der dann — schon wegen dieser Sprache — nicht zustande kommt; wenn sie sich in Visionen einer schönen neuen Welt verlieren, deretwegen die von heute zu zerschlagen sei.

Und Steinbuchs These hat ihren Beleg auch in der Klüngelei von Professoren, die sich hinter verschlossenen Türen um ihre althergebrachten Privilegien sorgen und sich, wie der Hamburger Kunstgeschichtler Professor Wolfgang Schöne in seiner Streitschrift zum „Kampf um die deutsche Universität“, dagegen wehren, daß „wissenschaftliche Erkenntnisse popularisiert und ihres esoterischen Charakters beraubt“ werden — nachtrauernd einer Zeit, da Studenten wie Jünger zu Füßen erlauchter Geister saßen (Schöne: „Das vergißt man nicht!“).

So tagträumen am Krankenbett der deutschen Alma mater die einen in einer Welt von übermorgen, die anderen in der Welt von vorgestern, und bei allen ideologischen Gegensätzen offenbart sich dabei ein Stückchen alter deutscher Tradition: fernab von den politischen wie gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart Wolken zu schieben.

Hoch droben hat sich die Alma mater in Deutschland immer zu Hause gefühlt, frei von den Anfechtungen des Alltags. Von Königstreuen gleich geachtet wie von Demokraten, Revolutionen trotzend und Reformen wehrend, strebt sie seit Jahrhunderten danach, sich selber gleich zu bleiben.

An der Spitze steht, wie einst, der „rector magnificus“, ein herrlicher Herrscher. Als „Spektabilitäten“ lassen sich die Dekane anreden, die in den Fakultäten die Geschäfte führen. Wie im Mittelalter verleiht die Universität auch heute noch — als Fridericiana und Carolo Wilhelmina, unter dem Namen Ruprecht-Karls und Christian-Albrechts — ihren strebsamsten bürgern akademische Würden, als vergebe sie Adelstitel.

Mehr als 5000 Doktoren aller Fakultäten verlassen jährlich die deutsche Alma mater, die zudem Wissenschaftlern und Wirtschaftskapitänen, Politikern und Potentaten die Doktorwürde honoris causa verleiht. Die Universität erhebt Freunde und Förderer in den Stand von Ehrensenatoren — den Offenburger Illustriertenverleger Franz Burda ebenso wie den Freiburger Erzbischof Hermann Schäufele. Der hochkarätigen Prominenz gewährt sie das akademische Bürgerrecht — etwa dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy.

Während sie den Mächtigen allenthalben Reverenz erweist, dünkt sie sich gleichwohl erhaben über staatliche Institutionen und Kabinette, seien sie, wie einst in Preußen, königstreu oder, wie heute in deutschen Ländern, republikanisch. Das Privileg der Unabhängigkeit vom Staat, das Päpste und Kaiser der „universitas magistrorum et scholarium“ im Mittelalter gewährten und das der preußische Universitäts-Gestalter Wilhelm von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch einmal beschwor, wird von manchen deutschen Professoren noch heute mit einer Inbrunst verteidigt, die ihresgleichen sucht.

Preußens Humboldt schwebte, wie der Humboldt-Monograph Eduard Spranger erläutert, eine Universität „fern von jeder Nützlichkeitsidee“ vor. Und der Hallenser Universitäts-Gutachter Johann Christian Reil wollte damals am liebsten jeden von der Universität verweisen, der Wissenschaft „nicht um ihrer selbst willen“ treibe, sondern „weil sie dazu taugt, Häuser zu bauen, den Acker zu bestellen und das Kommerz zu beleben“.

Das Humboldt-Ideal von der „hülfreich Einsamkeit“ des Wissenschaftlers entsprach durchaus der vorindustriellen Zeit, da man noch idyllisch lehren und lernen konnte. Die gute Stube des Professors bot häufig Platz für Kollegsaal und Katheder.

Diese durch ein Vater-Sohn-Verhältnis geprägte Art der Wissensvermittlung war auch zu Anfang dieses Jahrhunderts noch akzeptabel, als der einzelne Professor in Natur- wie Geisteswissenschaften sein Fachgebiet überblicken und die Ergebnisse eigener Forschungen mitteilen konnte,

Daß in dem heraufziehenden Zeitalter der Industriegesellschaft andere Bedingungen für Forschung und Lehre gelten mußten — diese Einsicht blieb zwar bedeutenden Gelehrten wie dem Soziologen Max Weber nicht versagt. Aber weitaus die meisten Wissenschaftler nahmen davon vor 1933 kaum Notiz, und nach 1933 hatte die Wissenschaft andere Sorgen.

Mehr als 2000 deutsche Hochschullehrer, ein Drittel der gesamten Professorenschaft, wurden ins Exil getrieben — darunter Nobelpreisträger wie Albert Einstein. Als er, der die Physik revolutioniert hatte, aus dem Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik nach Princeton in den USA übersiedelte, nannte der französische Physiker Paul Langevin dies „ein so großes Ereignis, wie es die Verlegung des Vatikans von Rom in die Neue Welt wäre.

Ganze Wissenschaftszweige verdorrten. Angesehene Forschungsstätten verkümmerten zu mittelmäßigen Lehranstalten. Zukunftsträchtige Forschungsbereiche — etwa die Biochemie, die Physikalische Chemie und die Genetik — verloren ihre Pioniere.

Die NS-Herrscher richteten Lehrstühle für „Rassenbiologie“ und „Rassenhygiene“ ein, konzentrierten sich auf die Rüstungstechnik und vernachlässigten die Grundlagenforschung In Geistes-, Natur- und Ingenieurwissenschaften. Während die Universitäten in westlichen Ländern einen zunehmenden Andrang von Studenten bewältigen mußten, entvölkerten sich die Hochschulen in Deutschland. Die Zahl der Studenten schrumpfte von 111 000 im Jahre 1928 auf 56 000 im Jahre 1938 (30 Prozent weniger als 1914).

Eine potentielle Gelehrten-Generation wurde im Zweiten Weltkrieg verheizt. Wer überlebte, sah die Hochschulen in Schutt und Asche wieder. Akademische Lehrer gab es kaum; sie mußten, weil NS-belastet, meist zeitweilig aus dem Hochschuldienst ausscheiden, oder sie wurden (wie Wernher von Braun, der heute Mondraketen baut) eine Beute von Amerikanern und (wie Nobelpreisträger Gustav Hertz) von Russen.

Die ideell, personell und materiell ausgemergelten Universitäten fristeten nach dem Kriege, wie jedermann in Deutschland, zunächst ein Hungerdasein. In einer Denkschrift über die Notlage der Universität Göttingen hieb es 1949: „Die Verwaltungskosten des Wohnungsamtes einer einzigen Stadt … liegen bereits in ähnlicher Höhe wie der Sachetat der Landesuniversität.“

Und auch, als sich die Deutschen wieder satt essen konnten, mußte die Wissenschaft hinter dem Geld herlaufen. Zur Zeit des aufblühenden Wirtschaftswunders, 1955, gaben die Länder karge 3,48 Prozent ihrer Etats für wissenschaftliche Einrichtungen aus, der Bund 0,46 Prozent seines Etats für Wissenschaftsförderung.

Wissenschaftspolitik wurde so gut wie nicht betrieben — zu einer Zeit, da in Ost und West begann, was Soziologen die „Wissenschafts-Explosion“ nannten. Von Jahr zu Jahr pumpten Sowjets und Amerikaner mehr Geld in Hochschulen und Forschungsstätten.

Die Bundesrepublik versäumte für die Zukunft zu investieren. Bund und Länder gaben im Vergleich zu anderen Industrie-Nationen viel zuwenig für „Forschung und Entwicklung aus — 1964 nur 2,8 Prozent der Staatsausgaben im Vergleich zu 8,2 Prozent in den USA; und dies, obgleich die Zahl der Studenten von 107 035 im Jahre 1950 auf rund 300 000 im Jahre 1969 emporschnellte: immer noch zu wenig, gemessen an den Anstrengungen anderer Industrie-Länder, doch zu viel, gemessen an den knappen Kapazitäten deutscher Hochschulen.

Daß Forschung unter solchen Umständen an deutschen Universitäten nur noch bedingt betrieben werden konnte, führte wiederum, wie Nobelpreisträger (1961) Professor Rudolf Mößbauer erläuterte, zu „außerordentlich gefährlichen Folgen“. Denn nachlassende Forschungstätigkeit bedinge ein „Zurückbleiben der Lehre“. Und: „Hand in Hand hiermit geht eine qualitative Verschlechterung der Ausbildung der Studenten …, die später die Entwicklung vorantreiben sollen.“

Diesen von Möllbauer als “ Circulus vitiosus“ umschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen, hätte es schon damals einer umfassenden Hochschulreform bedurft. Dazu aber waren die Ordinarien, die über die forschungsfremde Arbeitslast lamentierten, nicht bereit.

Sie mußten fürchten, daß durch eine vorurteilsfreie Analyse der Hochschulwirklichkeit „versteckte Interessenlagen aufgedeckt, Monopolstellungen erschüttert, Gewohnheitsrechte verletzt und liebgewordene Ressentiments abgebaut werden könnten“ — so der Heidelberger Religionsphilosoph Professor Georg Picht, der das Wort von der „deutschen Bildungskatastrophe“ prägte.

Die „durch nichts zu rechtfertigende Privatmacht“ (Soziologe Ralf Dahrendorf) aufzugeben, etwa zugunsten einer Kollegialverfassung neuen Typs, hätte für die Lehrstuhlinhaber bedeutet, daß gewinnbringende Privataufträge nicht länger geheim blieben, Forschungsvorhaben aufeinander abgestimmt werden mußten und wissenschaftliches wie technisches Personal der persönlichen Verfügungsgewalt des einzelnen Ordinarius entzogen worden wäre,

Es gab keine Reform, obwohl von Reformen immer häufiger die Rede war, von Jahr zu Jahr mehr. Die Universität lag, wie Jürgen Habermas — selber Professor, doch links von der Mehrheit — schreibt, „unter der Dunstglocke einer unermüdlichen Reformrhetorik“. Sie widerstand aber dabei beharrlich „dem Ansinnen einer planvollen Umgestaltung“ und war mithin, wie Universitäts-Kritiker Helmut Schelsky drastisch formulierte, unfähig, „sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen“.

Gefangen in einem „komplizierten Geflecht von Traditionen, Gewohnheiten, Mentalitäten und politischen Reminiszenzen“ (Picht), pochte sie auf Autonomie, die sie in vollem Ausmaß nie besessen hatte.

Und wie es keine Autonomie mehr gab, die diesen Namen noch verdient hätte, so war auch das immer wieder bemühte Humboldtsche Bildungsideal nur mehr illusionärer Anspruch. Längst konnten Hochschulen nicht mehr Wissenschaft allein um ihrer selbst willen treiben, sondern mußten vornehmlich Studenten auf den Beruf vorbereiten — und das taten sie unzulänglich.

Es kam 1966 an der Freien Universität in Berlin zum Studenten-Streik. Indem die Jungakademiker dagegen protestierten, daß über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen über ihren Studiengang gefällt wurden, ließen sie zum ersten Male anklingen, was später zum Leitmotiv der Studentenbewegung wurde: Mitbestimmung. Es ging ihnen, wie sie in einer Resolution erklärten, „nicht nur um das Recht, längere Zeit zu studieren“, sondern „vielmehr darum, daß Entscheidungen, die die Studenten betreffen, demokratisch und unter Mitwirkung der Studenten“ zustande kämen.

Das war der Anfang der Rebellion, die 1967, nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg, von Berlin nach Westdeutschland übergriff und dann, nach dem Attentat auf den Studenten Rudi Dutschke, sich nicht nur gegen die Universität, sondern immer stärker auch gegen die Gesellschaft kehrte.

Mit einer Vehemenz, die den Wohlstandsbürgern unfaßlich war, entluden sich studentische Enttäuschungen und Aggressionen. Schmährufe gegen Professoren und Steine gegen Springer-Fenster, Rektoratsbesetzungen und Straßenschlachten, Streiks in Instituten und Provokationen vor Gericht — das waren untrügliche Zeichen dafür, daß zum ersten Male in diesem Jahrhundert eine Studentengeneration links von der etablierten Gesellschaft stand,

Dies zu bewirken, bedurfte es eines weltweiten jugendlichen Aufbegehrens gegen die vermutete Öde einer Industriegesellschaft, die — so sahen es die Studenten — Hochschulen als Fließbandfabriken zur Herstellung von Fachidioten unterhält; bedurfte es einer reformunwilligen Universität, in der sich die Studenten mancherorts — so der Tübinger Pharmakologe Fred Lembeck — „zusammendrängen, fast so wie Bambusstäbe im Mekong-Delta“; bedurfte es eines Krieges in eben jenem Mekong-Delta, der einer neuen Studentengeneration als Musterbeispiel der Inhumanität gegenüber Ländern der Dritten Welt erschien; bedurfte es schließlich des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der die Hochschulmisere als zwangsläufiges Übel einer dem Tode geweihten spätkapitalistischen Gesellschaft interpretierte.

Ursprünglich erstrebte der SDS — so 1961 mit seiner Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“ — eine Reform der bestehenden Hochschulen. In demselben Maße aber, wie die Universität sich diesem radikal-reformerischen Ansinnen versagte und die Bonner Politik im Koalitionsdenken erstarrte, überholten sich die SDS-Leute nun selber links: Revolution statt Reform.

Sie sagten bald allen „Institutionen“ — auch den parlamentarisch-demokratischen — den Kampf an; und in diesem Stadium der Entwicklung war es für den SDS konsequent, die Universität nunmehr als revolutionäre Basis zu betrachten und aufkeimende Reformen zu hintertreiben.

Damit zeigten die revolutionären Studenten der Bonner Republik Gemeinsames mit den reaktionären Akademiker-Generationen der Weimarer Republik: die Verachtung gegenüber der parlamentarischen Demokratie und die elitäre Intoleranz, die diesmal nicht obrigkeitsstaatlichem Denken entsprang, sondern einem immer wieder beanspruchten „kritischen Bewußtsein“.

Daß die Ultralinken sich in ideologischen Richtungskämpfen bis zur Richtungslosigkeit zerstritten; daß sie Argumentation durch Agitation ersetzten — das alles gab der Im Kern so berechtigten Studentenbewegung einen Hauch von Absurdität, der weniger von kritischem Selbstbewußtsein denn von Selbstbetrug kündete.

Fernab der politischen Wirklichkeit, die zu ändern sich durchaus lohnte, verspannen sich die Radikalen, so sie sich nicht in Anarchie verloren, in soziologische Theoreme. Und ihre Vorstellungen von einer neuen Universität, so sie nicht auf die Errichtung linker Parteihochschulen hinausliefen, gerieten unversehens wieder in die Nähe des elfenbeinernen deutschen Idealismus. Die von allen Ausbildungszwängen freie Universität dieser Machart nennt Jens Litten denn auch ein Phantasieprodukt, das einem „kastrierten Humboldtianismus“ entspreche.

Und doch stimmt auch dies: Ohne die radikalen Maximalforderungen auf Abschaffung der „alten Wissenschaft“ wäre kaum eine Diskussion darüber in Gang gekommen, daß Wissenschaften ihre Position innerhalb der Gesellschaft ständig neu durchdenken müßten. Ohne Provokationen („Unter den Talaren — Muff von 1000 Jahren“) wären die hohlen Autoritäten nicht so sinnfällig entlarvt worden.

Keine fundierte Kritik angesehener Rechtswissenschaftler hätte die Verkrustung der deutschen Justiz treffender charakterisieren können als eine beiläufige Bemerkung des Kommunarden Fritz Teufel vor Gericht. Der Aufforderung des Vorsitzenden, sich gefälligst von der Anklagebank zu erheben, kam der bärtige Anarcho-Clown zögernd mit den erhellenden Worten nach: „Wenn es der Wahrheitsfindung dient.“

Dennoch bieten die ultralinken Studenten, voran die SDS-Leute, heute kein neues Konzept für Hochschule und Gesellschaft, das nur die geringste Aussicht auf Verwirklichung hätte aber an ihren Utopien wird zugleich deutlich, wie antiquiert das noch gültige Konzept ist. Indem sie es mit Marx halten, daß man „diese versteinerten Verhältnisse … zum Tanzen zwingen“ müsse, bringen sie wenigstens einige Liberale auf Trab, die zwei Jahrzehnte über Reformen nur geredet haben.

Diese sozialistischen Studenten, die Ihre Konzepte immer wieder über Bord warfen, sobald Reformer sich bereit zeigten, darauf einzugehen, entstammen fast ausnahmslos sozial- oder geisteswissenschaftlichen Disziplinen — so der Frankfurter Hans-Jürgen Krahl (Doktor-Thema: „Die Naturgesetze der kapitalistischen Entwicklung in der Lehre von Marx“), so der Berliner Bernd Rabehl (Doktor-Thema: „Die Sozialisierung im russischen Marxismus“).

In den soziologischen und politologischen Instituten zumal Frankfurts und Berlins, wo stets von der Miserabilität der Gesellschaft die Rede war hat sich ein Rebellen-Kader formiert der, des Seminar-Sozialismus überdrüssig, endlich handeln möchte — zum Entsetzen der Lehrer wie Theodor Adorno, der dann findet: „Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, daß Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen.“

Für manche Kritiker reduziert sieh das Problem auf die These, daß adornistische Soziologie eine brotlose Kunst sei — fern von den sozialen und ökonomischen Bedürfnissen der Industriegesellschaft, die für die vermeintlichen Fabel-Theoretiker dann auch keine Arbeit hat. „Daß die mal was Richtiges lernen sollen“, ist zur dumpfen Volksweisheit geraten, die nicht nur in manchem Politiker den Wunsch wachrief, Soziologie-Studenten wie -Professoren den Hintern zu verhauen.

Die von angehenden Geisteswissenschaftlern angeführten Revolten auf dem Campus und in den Straßen, die deutsches Ordnungsempfinden verletzen; das verquollene Soziologesisch der um Weltverständnis bemühten Jungakademiker, das gewiß kontrastiert zu Bonner Platitüden; die Weltentrücktheit manches Seminarbetriebs, die mit dem Bedarfsdenken der Wirtschaft kollidiert — das alles nährt Aversionen in einer Gesellschaft, die es noch nie verstanden hat, Konflikte besonnen auszutragen.

Als die Soziologie-Professorin Helge Pross (Gießen) einen Häusermakler um Hilfe bei der Wohnungssuche bat, „ging er schlagartig auf kaum noch höfliche Distanz. Soziologie schien für ihn eine Art Aussatz zu sein, den nicht einmal der Professorentitel hygienisiert, (Helge Pross).

Vorurteil, Argwohn, Mißgunst und Intrige kennzeichnen denn auch das Klima innerhalb der Universitäten stärker als je zuvor. Die scheinbar feste Konflikt-Beziehung zwischen Studenten und Professoren hat sich vielerorts aufgelöst in eine Vielzahl von Konfrontationen mit immer neuen Gegnern oder Partnern: mal Professoren gegen andere Professoren, mal Studenten gegen Assistenten und Professoren gegen Politiker, mal Studenten gegen Studenten —

Und überall Mängel im Überfluß:

Es fehlen Wissenschaftler. …

Es fehlen Arbeitsplätze für Studenten. …

Es fehlt Geld. …

Es fehlt Zeit. …

Und es fehlen — vielleicht der ärgste Mangel — klare Studienvorschläge, einheitliche Prüfungsordnungen und Chancengleichheit beim Erwerb akademischer Grade.

Hinter gleichklingenden akademischen Titeln verbirgt sich vielerorts ein ungleiches Maß an Arbeitsaufwand und wissenschaftlichem Renommee.

Es hieße, neu zu definieren, was für die Universität „Einheit von Forschung und Lehre“ noch bedeuten kann in einer Zeit, da die Großforschung längst aus den Universitäten abgewandert ist und ein einziges Großunternehmen der chemischen Industrie in einem Jahr einen Betrag für Forschung aufwendet (BASF 1969: 400 Millionen Mark), der größer ist als der Gesamtetat mehrerer deutscher Universitäten.

Und es hieße, die ganze Ordinarien-Universität mit ihren Petrefakten aufzugeben und insbesondere den akademischen Mittelbau — Assistenten und Hilfsassistenten, Oberingenieure und Oberassistenten, wissenschaftliche Räte und Lehrbeauftragte, Lektoren und Studienräte im Hochschuldienst — aus uralten Abhängigkeiten zu lösen und ihm mehr Möglichkeiten für selbständige wissenschaftliche Arbeit zu geben.

Noch skeptischer äußert sich Dahrendorfs Kollege Professor Helmut Schelsky. „Die Chancen zu einer bloß reformerischen Lösung der Erneuerung der traditionellen deutschen Universität sind verpaßt“, schreibt der Soziologe in seinem jüngsten, noch nicht veröffentlichten Buch „Erforderlich ist ein planmäßiger Neuaufbau des westdeutschen Wissenschaftssystems und seines Hochschulwesens.“

Der in Münster lehrende Soziologe, der seiner Veröffentlichung den resignierenden Titel „Abschied von der Hochschulpolitik“ geben will, mag nicht ausschließen, daß sich „die Universitätskrise zur allgemeinen Staatskrise ausweitet“.

30.06.1969

„Mit dem Latein am Ende“

1. Fortsetzung

An den Hochschulen der Bundesrepublik waren im Jahr 1986 rund 280 000 Studenten eingeschrieben: insgesamt 7,5 Prozent aller 20- bis 24jährigen Bundesbürger.

Im selben Jahr betrug der Anteil der Hochschüler in Schweden elf Prozent der 20- bis 24jährigen, in Japan 13,5 Prozent, in Kanada 22,5 Prozent, in der Sowjet-Union 24 Prozent.

Zwar lassen diese Zahlen keine exakten bildungspolitischen Vergleiche zu, denn die Schul- und Hochschulsysteme in den einzelnen Staaten sind unterschiedlich organisiert, und der Begriff „Hochschüler“ ist nicht eindeutig definiert; dennoch verdeutlichen die Prozentziffern in ihrer Tendenz — darin sind sich Bildungsforscher einig — einen augenfälligen bildungspolitischen Rückstand der Bundesrepublik.

Wenn die Bundesrepublik diesen Rückstand aufholen und im internationalen Vergleich auch nur einigermaßen bestehen wollte, müßte sie die Zahl der Studenten bis 1980 zumindest verdoppeln und bis zum Jahr 2000 vervierfachen.

Das sind Orientierungsziffern, die manchen Bildungspolitikern als unabdingbares Minimum, anderen hingegen als fragwürdiges Übersoll gelten. Die Meinungen darüber, wie viele Akademiker in 10, 20 oder 30 Jahren benötigt werden, gehen noch weit auseinander.

Welche Daten sollen der Bedarfsrechnung zugrunde gelegt werden? Sind die Berufsbilder, an denen sich die Universitätsausbildung heute orientiert, für die Zukunft überhaupt noch von Bedeutung? Für welche Berufe muß künftig vorrangig ausgebildet werden? Sollen Studienplätze in unabhängigen Fachhochschulen oder in Gesamthochschulen eingerichtet werden? Wie viele Hochschullehrer sind erforderlich?

Fundierte Antworten, methodisch exakte Voraussagen gibt es kaum. Das Zusammenspiel von Wirtschaftswachstum und Akademiker-Output einerseits und das wachsende Bildungsbegehren der jungen Generation andererseits haben Probleme aufgeworfen, die einen neuen Wissenschaftszweig erforderlich machten: die Bildungs- und Berufsforschung. Sie steckt in Deutschland noch in den Anfängen.

„Wir steuern einem in seiner Existenz ungesicherten akademischen Proletariat großen Ausmaßes entgegen.“

Selbst einfachstes Zahlenmaterial, etwa darüber, wie viele Studenten in der Bundesrepublik in diesem Jahr Germanistik im Haupt- oder Nebenfach studieren, gibt es nicht. Und wenn irgendwo irgend etwas erforscht, errechnet oder gezählt wird, bleibt ungewiß, ob staatliche Stellen, Fakultäten oder reformfreudige Professoren davon erfahren.

Um diese Informationslücke zu füllen, hat die Stiftung Volkswagenwerk im Februar dieses Jahres mit dem Aufbau eines Hochschul-Informations-Systems (PIlS) begonnen (Startkapital: 12 Millionen Mark). Als „Katalysator aller Planungsprozesse‘, so HIS-Geschäftsführer Dr. Waldemar Krönig, will dieses „in der ganzen Welt einzigartige System“ in den siebziger Jahren Hochschulplaner und Kulturpolitiker mit exakten Daten und Planungsgrundlagen ausstatten wie eine „Service-Einrichtung mit eigener Datenbank, „vergleichbar der Post, die die Kommunikation der Benutzer untereinander verbessert, aber nicht in ihre Aufgabenbereiche eindringt“.

Wie notwendig dieser Service ist, läßt sich am Beispiel der Wissenschaftsfinanzierung verdeutlichen, die seit Jahren aus vielen Quellen gespeist wird. Es fördern: 17 Bundesministerien, elf Bundesländer, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Stiftungen wie die des Volkswagenwerkes, Mäzene wie der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Gemeinden, Lottoanstalten.

„In diesem sehr komplizierten System den Überblick zu behalten, ist schwer“, gestand das regierungsamtliche „Bulletin“ schon vor Jahren, „zumal die verbrauchenden Stellen oft Gelder mehrerer Verteilstellen erhalten, die ihrerseits häufig aus mehreren Finanzquellen gespeist werden.

Dieser bürokratische und organisatorische Wirrwarr mutet noch geradezu harmlos an gegenüber den Irrtümern bei der Berechnung oder Vorausschätzung von Abiturienten- und Studentenzahlen. So erlangten in Nordrhein-Westfalen 1967 insgesamt 17 436 Primaner die Hochschulreife — 32 Prozent mehr, als der Wissenschaftsrat drei Jahre zuvor vorausgesagt hatte. Die Kölner Bildungsplaner Professor Josef Hitpass und Dr. Albert Mock urteilen denn auch: „Alle bisher erstellten Vorausschätzungen von Abiturienten- und Studentenzahlen sind von der Wirklichkeit zurückgelassen worden.“

Spätestens Mitte der siebziger Jahre wird die Flut der Studienanfänger erneut ansteigen — wenn diejenigen Schüler die Hochschulreife erreichen, die Mitte der sechziger Jahre, als die „Bildungskatastrophe“ ausgerufen wurde, auf die Gymnasien kamen. Damals suchten Psychologen-Teams, wie in Nordrhein-Westfalen, oder Studenten-Trupps, wie in Baden-Württemberg, Arbeiter und Bauern bildungsfreudig zu stimmen; die „Aktion Gemeinsinn“ steuerte die Parole bei: „Schickt Euer Kind länger auf bessere Schulen.“

Das taten in Nordrhein-Westfalen von 1964 bis 1968 rund 50 Prozent mehr Eltern als im gleichen Zeitraum zuvor. Mit dem Schülerandrang kam die Schulraumnot. Und der Katastrophen-Professor Georg Picht meinte bereits 1964 lakonisch, daß nur dann, wenn in den nächsten Jahren „sämtliche Hochschulabsolventen“ Lehrer würden, der Lehrerbedarf zu decken sei.

Es werden nun aber einmal nicht alle Hochschulabsolventen Lehrer — und hinter dieser Binsenwahrheit verbirgt sich bedeutungsvoller die Tristesse, daß nicht einmal alle diejenigen Lehrer werden, die es werden wollen. An den Philosophischen Fakultäten, die das Hauptkontingent der künftigen Studienräte stellen, brechen 38 Prozent aller Studienanfänger die Ausbildung vor dem Examen ab. Von den Studenten der Pädagogischen Hochschulen erreichen 10,3 Prozent nicht das Studienziel.

Daß solche Verlustquoten bei der Lehrer-Ausbildung zu verzeichnen sind, deutet weniger auf individuelle Unfähigkeit der Studenten als auf die Ausbildungsmängel der Hochschule mit ihren unzeitgemäßen Studienplänen, Lehrmethoden und Prüfungsordnungen. So verweist eine bildungspolitische Misere auf die andere — ein Circulus vitiosus, der um so beklemmender wird, je stärker der Studentenandrang zunimmt.

„Die Hochschulen der Bundesrepublik“, so der Historiker Professor Gerhard Schulz in dem jüngst erschienenen Sammelband „Was wird aus der Universität““, „haben in den hinter uns liegenden fünf Jahren erst den flacheren Teil der Wachstumskurve erreicht, der bereits schwere, zum größten Teil noch ungelöste Probleme gebracht hat.“ Und diese Probleme müssen sich zwangsläufig in den nächsten Jahren verstärken, in denen „das Wachstum der Studentenzahlen … noch rascher verlaufen wird als in den vorangegangenen Jahren“.

Schulz: „In dem Zeitraum von 1950/51 bis 1966/67 ist die Zahl der an den wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik Studierenden um 243 Prozent gewachsen, während Lehrkörper, Gebäude, Räume und Apparaturen der Hochschulen, die teilweise noch unter den Kriegsfolgen litten und sogar den Anforderungen von 1950 häufig nur notdürftig entsprachen, allzu lange unverändert blieben. Ihr Ausbau, mit dem auf Betreiben des Wissenschaftsrates um 1960 begonnen wurde, kam für manche Fächer sehr spät, wenn nicht — angesichts der heute vor unseren Augen liegenden Entwicklung — schon zu spät …

„In Zukunft wird das Wachstum der Studentenzahlen aller Voraussicht nach wesentlich größer sein und noch rascher verlaufen als in den vorangegangenen Jahren … Will man davon ausgehen, daß 90 Prozent der Abiturienten eine wissenschaftliche Hochschule beziehen, nachdem dieser Prozentsatz zur Zeit nahezu bereits erreicht ist, so ist für die nächsten Jahre mit einem rapiden Wachstum der Studentenzahlen zu rechnen, das alles Vorausgegangene weit in den Schatten stellt.“

Daß die Hochschulen in dieser Situation sich der Studienanfänger zu erwehren suchen, indem sie Zulassungsbeschränkungen erlassen (Numerus clausus), ist ein kläglicher Notbehelf, der nach dem Eingeständnis der Westdeutschen Rektoren-Konferenz (WRK) „das Problem der Überfüllung nicht lösen kann, aber verschärft zum Ausdruck bringt“. …

Daß bei dem derzeitigen „Angebot an Ausbildungsplätzen … nur ein kleiner Bruchteil der Studienbewerber ausgebildet“ werden könne, sei — so monierten auch in Frankfurt die Richter im Numerus-clausus-Prozeß — eine nicht mehr vertretbare Einschränkung des im Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes garantierten Rechts auf freie Ausbildung („Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“)

Denn: „Die Einschränkung … kann nicht so weit gehen, daß die Verwirklichung der Ausbildungsfreiheit praktisch illusorisch ist.“ Der Staat sei „seiner Aufgabe, dafür zu sorgen, daß genügend Ausbildungsstätten zur Verfügung stehen, nicht in dem gebotenen Maße nachgekommen“.

Der Entwurf des bayrischen Kultusministers Ludwig Huber (CSU) mutet an, als sei er „mit schwarzer Tinte geschrieben … juristisch perfekt und konservativ“ (so die Münchner „Abendzeitung“). Der Entwurf des hessischen Kultusministers Ernst Schütte (SPD) aber könnte nach dem Urteil des Frankfurter Professors Jürgen Habermas zu einem vorbildlichen „Jahrhundertgesetz“ geraten.

Während der Sozialdemokrat Schütte an hessischen Universitäten das traditionelle Ordinarien-Prinzip und damit auch die Prestige-Abstufung zwischen ordentlichen Professoren (Lehrstuhlinhabern) und außerordentlichen Professoren (ohne Lehrstuhl) mildern möchte, will der CSU-Mann Huber die Ordinarien als das „ens realissimum der Universität“ („Süddeutsche Zeitung“) beibehalten.

Während Schütte den Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern ohne Professorenrang in den satzungsgebenden Gremien der Universitäten jeweils ein Drittel der Sitze geben will (Drittelparität), möchte Huber den Studenten und wissenschaftlichen Assistenten dort nur je ein Zehntel der Sitze überlassen.

Doch ob die Entwürfe nun viel oder wenig Reform bergen — wo immer sie zur Debatte stehen, formieren sich Professoren, Assistenten und Studenten zur Gegenwehr. Obwohl der linke Soziologie-Professor Werner Hofmann den linken Studenten in Marburg vorwarf, sie kümmerten sich weniger um den drohenden Zugriff des Staates als um inneruniversitäre Machtkämpfe, kam es anderenorts häufig zum vorübergehenden Gleichklang der Interessen gegen befürchtete Staatseingriffe.

Auf Antrag der Assistentenschaft protestierte der Kleine Senat der Universität Würzburg gegen den bayrischen Hochschulgesetzentwurf der CSU-Regierung: Er bedrohe „die Eigenentwicklung der Wissenschaft durch die Herrschaft der Bürokratie und des Staates.“ Die Studenten reimten in München: „Ein Schritt vor — drei zurück — das ist Hubers Bildungspolitik.“

Die Kritik in Bayern gilt insbesondere dem Umstand, daß der Gesetzentwurf dem Universitätspräsidenten das Recht einräumt, „in unaufschiebbaren Angelegenheiten“ auch selbst „Entscheidungen anstelle des zuständigen Universitätsorgans“ zu treffen, und daß der Gesetzentwurf darüber hinaus ein beratendes Kuratorium ohne akademische Bürger vorsieht. Die zwölf Kuratoriumsmitglieder sollen, wie der Universitätspräsident, vom Staatsminister für Unterricht und Kultur bestellt werden, nur vier von ihnen sind Vertrauenspersonen des Akademischen Senats.

In Berlin paßte der Entwurf der SPD-Regierung ebenfalls weder Studenten (die ihre zentrale Studentenvertretung nach dem Gesetz verlieren würden) noch Professoren (die nach dem Gesetz eine weitergehende studentische Mitbestimmung als bisher in allen Universitätsgremien hinnehmen müßten).

Rektor und Dekane der FU verlautbarten düster: „Sollte das Gesetz in der bisherigen Fassung verabschiedet werden, so läßt sich mit Sicherheit voraussagen, daß ein großer Teil der besonders befähigten Hochschullehrer an andere Universitäten, ins Ausland, in die Forschungs-Institute und in außeruniversitäre Tätigkeiten abwandert. Es ist mit einem Aderlaß zu rechnen, wie es ihn nur 1933 in Deutschland gegeben hat.“

… die Richtung, in die progressive Hochschulgesetze weisen, sind erste Orientierungshilfen in der zerfahrenen Diskussion um die Neuordnung der Hochschulen.

Sie sind Rohstoff für das Spätwerk der Hochschulreform, das nun in Szene gesetzt werden soll und von dem noch niemand weiß, ob es zu einem Lehrstück von bleibendem Wert oder zu absurdem Theater geraten wird. Die Requisiten reichen für beides hin, Akteure gibt es zur Genüge, Regie wollen viele führen.

Auf der Szene wird kritisiert: Als der Wissenschaftsrat unlängst seine Verwaltungsorganisation der Universitäten vorlegte, schimpfte der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS): „Der Wissenschaftsrat treibt Wissenschaftsverrat.“ Der Freiburger Politologe Professor Wilhelm Hennis wertete die vorgeschlagene Auflösung der Fakultäten in Fachbereiche als „eine gesellschafts- und kulturpolitische Eselei“.

Auf der Szene wird souffliert: Die Vorschläge reichen von der Gründung einer Räte-Universität, wie sie rote Studenten in Berlin („Alle Macht den Räten“) forderten, bis zur Einrichtung akademischer Zulieferungsanstalten wie sie in Industriekreisen erwogen wird; von einem „selbständigen studentischen Wissenschaftsbetrieb“ (Terminus für den Zustand, da Studenten ohne Professoren Wissenschaft treiben möchten) bis zur radikalen Verschulung der Universität, an der dann nur noch gepaukt werden soll — mehr, als die Studenten bereit wären hinzunehmen.

Auf der Szene wird schwadroniert: „Bildungskatastrophe“ und „Bildungsreform“ sind heute in Sonntagsreden von Politikern und in Diskussionen unter besorgten Pädagogen eine so gängige Vokabel wie einst — unter den Deutschen aller Klassen und Stunde das „Wirtschaftswunder“. Kaum eine Party ohne Schelte oder Bewunderung für die Studenten. Allenthalben wird von Hochschulreform geredet, als habe eine Erweckungsbewegung auch die letzten Winkel der Republik erfaßt; Reformthesen werden an Schwarze Bretter genagelt, als sei ein neues lutherisches Zeitalter angebrochen.

Doch bleibt es vorwiegend bei papierenen Ansätzen, verwirklicht wurde wenig.

07.07.1969

„Mit dem Latein am Ende“

2. Fortsetzung

Humboldt ade, Aufgabe der traditionellen Universitätsstruktur, Revision der Prüfungsordnungen, praxis-orientierte Neuordnung der Studiengänge das alles gibt es schon in Deutschland: in der DDR.

Um ihrer Vision vom produktiven, hochqualifizierten und zugleich parteiergebenen Wissenschafts-Pionier ein Stück näher zu kommen, haben die Hochschul-Experten des SED-Zentralkomitees den sieben Universitäten, 34 Hochschulen und drei medizinischen Akademien der DDR eine gründliche Reform verordnet:

* Der bislang eingleisige Studiengang wird aufgegliedert in ein vierjähriges kombiniertes Grund-, Fach- und Spezialstudium mit Forschungsarbeiten (Abschluß: Diplom) und in ein sich anschließendes etwa dreijähriges Forschungsstudium (Abschluß: Promotion für spätere „Führungskräfte der sozialistischen Gesellschaft“).

* Die herkömmlichen Fakultäten und Institute werden durch „Sektionen“ für Forschung und Lehre ersetzt, die insbesondere die Zusammenarbeit einzelner Wissenschaftsdisziplinen und „Praxisnähe“ zu Wirtschaft und Technik gewährleisten sollen.

* An die Stelle der traditionellen akademischen Senate treten das Konzil, „wissenschaftliche Räte“ (aus den Vertretern der Sektionen) und „gesellschaftliche Räte“ (in denen neben Professoren und Studenten auch Betriebe, der Staat und Massenorganisationen, etwa die Gewerkschaften, Sitz und Stimme haben).

„Praxisnähe“ ist eine DDR-Maxime, an der sich die gesamte Bildungspolitik orientiert. Schon in den oberen Klassen der „allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule“ — sie hat das traditionelle dreigliedrige Schulsystem ersetzt — lernen die DDR-Schüler ausnahmslos „Technisches Zeichnen“. Auf dem Stundenplan steht auch: „Einführung in die sozialistische Produktion“.

Einmal in der Woche ist Schultag Werktag: Die Schüler besuchen mit ihren Fachlehrern Fabriken oder landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften; sie lernen den Umgang mit Schraubenschlüsseln und Feilen, bedienen Drehbänke, fahren Traktoren und können den Facharbeiterbrief erwerben.

Die Erfolge derart praxisnaher Unterweisung hat Willy Voelmy, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in West-Berlin, analysiert. In einer Studie über den „Polytechnischen Unterricht in der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule der DDR seit 1964“ kommt er zu dem Ergebnis, daß die jungen DDR-Bürger ihren westdeutschen Altersgenossen voraus sind. Denn als „wesentliche, realisierbare Leitlinie“ des polytechnischen Unterrichts hat sich erwiesen, was Pädagogen an den Schulen der Bundesrepublik noch vermissen: eine „Erziehung zur schöpferischen Initiative, Aktivität und Selbständigkeit“ — Eigenschaften, die den Übergang ins Berufsleben ebenso erleichtern wie die Anpassung an sich wandelnde Berufsanforderungen.

Um den gleichen psychologischen und ökonomischen Effekt mühen sich die DDR-Hochschulen, wenn sie Theorie und Praxis in ihren Studiengängen kombinieren — zum Nutzen der volkseigenen Industrie, die sich mitunter kostspielige Planungsabteilungen ersparen kann, weil die Hochschulen wissenschaftliche Analysen von Fertigung und Management vorlegen. Beispielsweise erarbeiteten Betriebswirtschaftler der Technischen Universität Dresden in einem Seminar des „wissenschaftlich-produktiven Studiums“ für den „VEB Herrenmode“ ein „Arbeitsprogramm zur weiteren Qualifizierung des Systems der operativen Planung“.

„Unsere Hochschulen“, so verkündete der DDR-Minister für das Hoch- und Fachschulwesen, Professor Ernst-Joachim Gießmann (SED), „müssen sozialistische Fachleute ausbilden“ die in sozialistischer Gemeinschaftsarbeit die notwendigen Pionierleistungen in Wissenschaft und Technik erzielen.“ Und DDR-Chef Walter Ulbricht forderte: „Die enge Verflechtung von Wissenschaft und Industrie muß zum Normalfall werden.“

Dementsprechend sind die DDR-Hochschulen dazu übergegangen, Lehr- und Ausbildungspläne mit der volkseigenen Industrie abzustimmen — im Rahmen langfristiger „Verträge über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit“, wie sie beispielsweise die Technische Hochschule Magdeburg „Otto von Guericke“ mit sechs staatlichen Konzernen und dem Ministerium für Schwermaschinen- und Anlagenbau abschloß.

Die Universität Rostock orientiert Lehre und Forschung am Bedarf der Seewirtschaft (Schiffsbau, Hochseefischerei, Meeresbiologie, Schiffstechnik). Dresdens TU arbeitet mit dem Radeberger Computer-Werk „Rafena“ zusammen, zwecks „Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitungsindustrie besonders in Dresden und Radeberg“.

Jenas „Friedrich-Schiller-Universität“, an der einst Karl Marx über Demokrit und Epikur promovierte, konzentriert 75 Prozent ihres Forschungspotentials auf den wissenschaftlichen Gerätebau: zum Nutzen des Vertragspartners VEB Carl Zeiss Jena, mit dem sich die Universität — wie Rektor Bolck (SED) und Generaldirektor Gallerach (SED) formulierten — zum „Jenaer Ensemble“ vereinte.

Ob freilich eine derart enge Verflechtung von Hochschule und Industrie eine auf die Dauer „gesunde Ehe“ bedeutet, wie das SED-Blatt „Ostsee-Zeitung“ behauptet, steht dahin. Nach dem sozialistischen Honigmond von Theorie und Praxis ist selbst bei staatsloyalen DDR-Intellektuellen die Befürchtung aufgekommen, die Universität könnte in die Rolle eines „Dienstmädchens“ der Industrie gedrängt werden (so der Leipziger Rektor Professor Ernst Werner).

In der Tat steht das DDR-Schlagwort „Praxisnähe“ nicht nur für die — sinnvolle — Bemühung, Intellektuelle und praktische Betätigung zu kombinieren; es signalisiert auch die Gefahr einer — fragwürdigen — Indienstnahme der Wissenschaft durch die Interessen der industriellen Produktion, die von der SED definiert werden.

Insofern stellt sich die DDR-Hochschulreform, die bis 1975 abgeschlossen sein soll, als ein zum Teil vorbildliches, zum Teil abschreckendes Modell für westdeutsche Reformbemühungen dar: vorbildlich wegen der intensiveren Berufsvorbereitung durch praxisorientierte Neuordnung des Studiums; abschreckend wegen der Umfunktionierung der Alma mater zum „Dienstmädchen“, das sich über die Herrschaft gefälligst keine Gedanken machen soll.

Mit notorischer Gründlichkeit exerzieren die Deutschen in Ost und West wieder einmal, wie gut sich Extreme strapazieren lassen, wenn man nur Prinzipien hat. Dem Bildungsdirigismus in der DDR entspricht der Mangel an Bildungs- und Berufsplanung in der Bundesrepublik — wenn man vom Regionalversuch in Baden-Württemberg (Hochschul-Gesamtplan) absieht.

Der ideologisch fixierten, in den Produktionsprozeß einbezogenen Wissenschaft in der DDR entspricht ein in der Bundesrepublik noch weithin gepflegtes Wissenschaftsverständnis, „das es erlaubt, auf die Niederungen des gewerblichen Alltags herabzusehen, sich auf diese Gesellschaftsferne noch etwas einzubilden“ und sich so „frei“ zu wähnen.

Diese Illusion gedeiht unter konservativen Professoren, obwohl schon die öffentliche Wissenschaftsförderung, Forschungsaufträge staatlicher Stellen (Bundesverteidigungsministerium) oder von Interessengruppen (Industrieunternehmen, Gewerkschaften) die gesellschaftliche Abhängigkeit fast jeder Wissenschaft längst dokumentiert haben. Nach Ansicht des Stuttgarter Politologie-Professors Martin Greiffenhagen entspricht der Grundgesetz-Artikel 5 Absatz 3 („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“) denn auch „kaum der Realität“. Wenn dieser Satz trotzdem normativen Sinn behalte, so allein deshalb, weil Wissenschaft angewiesen sei „auf die Freiheit schöpferischer Gestaltung und die Freiheit ‚rücksichtsloser‘ Forschung“.

Und diese Illusion gedeiht auch unter studentischen Linksradikalen, die Wissenschaft nicht nur aus kritischer Distanz zur Gesellschaft, sondern gegen die bestehende Gesellschaft betrieben sehen möchten. Sie können sich nur noch „revolutionäre Wissenschaft“ vorstellen und kämpfen um „Freiräume“ innerhalb der Hochschulen, in denen sie, ebenfalls unter Inanspruchnahme der „Freiheit schöpferischer Gestaltung“, unter sich zu treiben suchen, was sich ihnen als Wissenschaft darstellt — obwohl bisherige Versuche solcher „Selbstorganisation der Wissenschaft“ ergeben haben, „daß der bisher vom Dozenten ausgeübte Zwang nunmehr in eigene Regie übernommen wird“ (so selbstkritisch das SDS-Journal „Neue Kritik“).

Es scheint, als unterschieden sich betagte Professoren, die den „esoterischen Charakter der Wissenschaft“ bewahren, und radikale Jung-Akademiker, die ihr Studium „nicht mehr als Abrichtung auf geistiges Vasallentum“ verstehen wollen, nicht so sehr voneinander, wie sie selber es gern möchten.

Verstrickt in Bildungs-Illusionen oder Revolutions-Ideologien sind die akademischen Bürger, alt und jung, heute weithin unfähig, den Standort der Universität neu zu bestimmen: zwischen Schule und Beruf, zwischen Theorie und Praxis, zwischen gesellschaftlichem Engagement und kritischer Distanz zur Gesellschaft. In diesem komplexen System ist vereinfachte Orientierung üblich geworden — als ob es nur die Alternative gäbe, entweder gesellschaftsabstinente Fachidioten oder aber gesellschaftskritische Geistesaristokraten heranzubilden.

Solche Extrem-Huberei schließt aus, was Reformer geradezu als den Kern jeder Hochschul-Neuordnung betrachten müssen: daß sich gründliche, praxisorientierte Berufsausbildung sehr wohl vereinbaren lasse mit kritischer Reflexion eben dieser Ausbildung, aus der verantwortliches gesellschaftliches Handeln erwachsen kann.

Dieser Reformer-Standpunkt kalkuliert ein, daß die moderne Industriegesellschaft hochqualifizierte Spezialisten braucht, mithin funktionsbezogene Hochschulausbildung. Aber er berücksichtigt auch, daß diese funktionale Ausbildung ergänzt werden muß durch die „kritische Auseinandersetzung mit der Berufsproblematik“ (so der Tübinger Pädagogik-Professor Andreas Flitner).

Doch nirgendwo versucht bislang eine deutsche Universität, intensive Berufsausbildung mit der Erziehung zu sozial verantwortlichem Handeln planvoll zu koordinieren. Die Hochschulen, davon weit entfernt, sind fürs erste noch nicht einmal in der Lage, Fachleute hinlänglich auszubilden und das herkömmliche Stoffpensum ökonomisch zu vermitteln.

In vielen Fächern wird noch, wie der Kölner Althistoriker Professor Christian Meier diagnostiziert, „ohne rechten Bezug zur Gegenwart gearbeitet“; in der Fülle des Lernstoffs verfängt sich der Student „wie in einem Kreuzworträtsel“. Hinter den Kathedern zelebrieren akademische Lehrer noch immer die „großartige Tradition, Kompliziertes noch komplizierter auszudrücken“ (so ein Studenten-Flugblatt) und geben sich — wie der Aachener Emeritus Professor Hubert Cremer — schon zufrieden, „wenn die Hälfte der Studenten die Hälfte dessen versteht, was ich gesagt habe“.

„Die wahre Heimsuchung der Universitäten“, so klagt denn auch der Göttinger Pädagoge Hartmut von Hentig, sei das „Fehlen einer wissenschaftlichen Lehre vom Lehren der Wissenschaft“, das Fehlen einer Fach-Didaktik, wie sie an den Pädagogischen Hochschulen — für Grundschullehrer freilich — längst gelehrt wird.

„Man beginnt etwa in der Mathematik in der Nähe der Axiome …, man durchläuft die Tierwelt linear vom Einzeller bis zum Menschen oder umgekehrt, die Geschichte von einst bis jetzt, Schritt für Schritt“ — so beschreibt der Tübinger Didaktik-Professor Martin Wagenschein die geläufige Lehrpraxis an den Hochschulen, die vor den Studenten immenses Wissen aufhäuft, Wichtiges wie Unwichtiges, häufig ohne Unterscheidung.

Was dem wissenschaftlichen Lehren und Lernen — trotz Wissenschaftsrats-Empfehlungen und Professoren-Bekundungen — heute meist noch fehlt, ist der Mut zur Lücke, die Beschränkung auf den exemplarischen Fall, an dem der Student methodisch arbeiten lernt und die Fähigkeit erwirbt, Probleme auch künftig eigenständig zu lösen.

„In einer Zeit, in der es Disziplinen gibt, deren Wissensschatz sich innerhalb von fünf Jahren fast völlig verändert“ (so der Göttinger Jura-Professor Wolfram Henchel), stünde es der Universität wohl an, in sämtlichen Disziplinen Stoffballast abzuwerfen und mehr Gewicht zu legen auf:

* Unterweisung in der wissenschaftlichen Methodik der einzelnen Fächer, damit die Akademiker befähigt werden, sich im Beruf ständig neues Wissen anzueignen, neue Entwicklungen In ihrem Fachgebiet zu beurteilen und für die Praxis nutzbar zu machen;

* Orientierungshilfen, die es dem Akademiker ermöglichen, die gesellschaftlichen Bezüge seines Berufes kritisch zu ermessen (etwa: soziologisch, psychologisch, ökonomisch) und so der Fachidiotie zu entrinnen.

Eine derart reformierte Hochschule könnte mithin Juristen entlassen, die sich nicht nur in Paragraphen, sondern beispielsweise auch in den Grundzügen der Sozialpsychologie auskennen; die Praktika in der Sozialhilfe oder bei der Resozialisierung von Verurteilten hinter sich haben — Erfahrungen, die ihnen verdeutlichen, was sie mit einem Urteil bewirken oder auch anrichten können.

Mediziner, die nicht nur die richtige Dosierung von Medikamenten beherrschen, sondern auch dafür interessiert worden sind, ob beispielsweise die deutschen Krankenhäuser kollegial geleitet werden sollten — wie das Allgemeine Krankenhaus Hamburg-Harburg, wo dies jetzt zum erstenmal versucht wird.

Architekten, die nicht nur imstande sind, moderne Werkstoffe kostensparend zu verbauen, sondern auch gelernt haben, kritisch zu prüfen, was wohl Eigenheim-Ideologie mit Landschaftszersiedlung zu tun habe — und warum der Bundestag auch in dieser Legislaturperiode das Städtebauförderungsgesetz noch nicht verabschiedet hat.

Das hieße nicht, Medizinern zusätzlich ein Soziologie-Studium aufzubürden oder Ingenieuren ein Psychologie-Studium. Es hieße vielmehr, den Studenten in Praktika, Seminaren und Arbeitsgruppen den Blick zu öffnen für gesellschaftliche Probleme — mitnichten ein Studium generale, in dem Fachidioten mit den Musen kokettieren.

Diesem Zelterfordernis von Praxisnähe und gesellschaftsbezogener Ausbildung entspräche es, auch das Verhältnis von Forschung und Lehre zueinander neu zu bestimmen. Die Hochschulgesetze gehen von der Fiktion aus, daß die Universitäten noch in der Lage seien, in allen Disziplinen — von der Archäologie bis zur Kernphysik — die Forschung voranzutreiben und zugleich eine Viertelmillion Studenten zu unterrichten; obwohl die Grundlagenforschung in vielen Bereichen an den Hochschulen stagniert und immer mehr Forschung außerhalb der Hochschulen betrieben wird.

„Wenn man berücksichtigt, daß die in den Hochschulen tätigen Wissenschaftler einen Großteil ihrer Tätigkeit auf Lehr- und Prüfungsverpflichtungen aufwenden müssen“, so erkannten die Autoren des Forschungsberichts II der Bundesregierung schon im Jahre 1967, dann werde erklärlich, daß sich der Anteil der Hochschulen an der Forschung „nicht unerheblich zugunsten der Wirtschaft und der hochschulfreien Institute“ verschiebe.

Die Amerikaner haben versucht. einer solchen Forschungsaufsplitterung zu begegnen, indem sie die hochschulinterne und die außeruniversitäre Forschung in Wechselwirkung brachten. Beispiel für solche Forschungsinterdependenz bietet das „Massachusetts Institute of Technology“ (MIT), wo Dozenten und Professoren dazu ermuntert werden, ein Drittel ihrer Arbeitszeit als Berater oder freie Mitarbeiter in den Forschungs- und Entwicklungslabors der Industrie zu verbringen. Auf dem Hochschulgelände liegen mehrere vom MIT unabhängige Institute für Grundlagenforschung (etwa das „Materials Science Center“), die den interessierten Studenten ebenso offenstehen wie den MIT-Professoren.

Gegen eben solche Forschungsverflechtungen laufen linke US-Studenten ebenso Sturm wie ihre Kommilitonen in der Bundesrepublik. Sie sehen darin ein Indiz dafür, daß sich die Hochschulen im kapitalistischen System ebenso zum „Dienstmädchen“ vordergründiger Produktionsinteressen degradieren lassen wie in kommunistischen Bürokratien — ein Konflikt, der sich in der Bundesrepublik am Beispiel der Auftragsforschung entzündet hat.

Als problematischer für Westdeutschland, wo es kein MIT-Modell gibt, erweist sich fürs erste, daß immer mehr Wissenschaftler aus den häufig ärmlich gehaltenen Instituten der Hochschulen in die großzügig ausgestatteten Industrielabors und in die hochschulfreien Forschungsinstitute drängen. Verständlich angesichts etwa der Zustände am Chemischen Institut der Universität Frankfurt, wo sommers Temperaturen gemessen wurden, die den „Äther in den Flaschen“ sieden lassen, „daß die Stöpsel herausfliegen“ („Bei Regen Einbruch von Regenwasser, bei schönem Wetter teilweise Einflug von Tauben“) — so ein studentischer Bericht aus dem vergangenen Jahr.

Allenthalben, bei Studenten wie Professoren, besteht „die Neigung, ein vornehmlich praktisches Problem ideologisch zu überlagern“ (so der Mainzer Mikrobiologe Professor Paul Klein).

Denn fast immer, wenn Professoren und Studenten sich an einer Teilreform der Alma mater versuchten, blieb unbeachtet, was stets oberste Maxime der Wissenschaften gewesen ist: vorurteilslos zu prüfen, zu experimentieren und die Ergebnisse von Denkprozessen und Versuchsreihen kritisch gegeneinander abzuwägen.

Nichts verdeutlicht das besser als die Diskussion um die „Demokratisierung“ der Hochschule, die durch Mitbestimmungsforderungen der Studenten ausgelöst wurde. Unter der Parole „Drittelparität“ verlangten die Studenten, daß in allen Entscheidungsgremien der Hochschule die Stimmen zu je einem Drittel unter Professoren, Assistenten und Studenten aufgeteilt werden sollten.

Es ist bezeichnend, daß diese Forderung den Hochschullehrern in ihrer überwiegenden Mehrheit von Anfang an als „indiskutabel“ (so deren Standesorganisation, der Hochschulverband) erschien, weil zu weitgehend, und den radikalsten Studenten am Ende auch, weil zu „reformistisch“; sie erstrebten mittlerweile studentische Alleinherrschaft.

Wenn man einmal von dieser SDS-Eskalation absieht, so etikettiert „Demokratisierung“ ein ganzes Bündel studentischer Forderungen — vor allem Abbau unnötiger Herrschaftsstrukturen in der Universität, Öffentlichkeit bei Prüfungen und Sitzungen der Universitätsorgane, Mitspracht und Entscheidungsbeteiligung für Studenten und Assistenten in den Hochschul-Gremien.

So verstandene Demokratisierung ist für linke Studenten und liberale Professoren Ausdruck von Emanzipationsbestrebungen, die auf einen „herrschaftsfreien Dialog“ von Lehrenden und Lernenden abzielen. Wissenschaft und Wissensvermittlung werden begriffen als ein Prozeß, an dem Assistenten und Studenten neben den Professoren gleichberechtigt beteiligt sind. Ergo: wesentliche Mitbestimmung.

So verstandene Demokratisierung erweist sich hingegen nach Meinung vor allem der meisten Ordinarien als untauglich für die Universität, die zwar als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden ausgewiesen wird — aber mit fest verteilten Rollen. In einer Erklärung des Hochschulverbandes vom 27. April 1968 heißt es: „Freiheit und Verantwortung für Forschung und Lehre kommen den Forschenden und Lehrenden zu. Die Studenten lernen.“ Ergo: keine wesentliche Mitbestimmung.

Im Spannungsfeld zwischen diesen Interessenpolen wogt die Diskussion mit einer Intensität, die Deutschlands hohe Schulen in den Fugen krachen läßt. Was den einen als Selbstbesinnung der Wissenschaft gilt, mutet die anderen an wie Meuchelmord an Forschung und Lehre.

In aufgeregter Polemik bezichtigen „senile Toren“ (wie radikale Studenten ihres Lehrer heißen) und „minderjährige Ignoranten“ (wie der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Hochschulverbandes, Professor Bodo Börner, radikale Studenten titulierte) einander des Verrates an der Wissenschaft.

Es ist mittlerweile freilich auch in dem Sinne ein „akademischer Streit“ geworden, indem diese Floskel metaphorisch für Nutzlosigkeit steht.

Nicht eben zuversichtlich werten Reformer den Verlauf des bislang umfassendsten Drittelparitäts-Experiments, zu dem sich Studenten, Assistenten und Professoren im Juni 1968 an Deutschlands größter Politologen-Schule entschlossen hatten: am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Die militante Politik der Linksradikalen, die heute mit Farbeiern bekämpfen, was sie gestern mit Proteststreiks durchsetzen wollten, hat den Versuch an den Rand des Scheiterns gebracht, wie Mit-Experimentator Professor Alexander Schwan bekundet.

Doch Schwan zieht aus den bisherigen Erfahrungen keineswegs den Schluß, daß Mitbestimmung grundsätzlich untauglich oder gar die Rückkehr zur Ordinarien-Universität angezeigt sei. „Sie ist“, sagt Schwan, „ebenso abzulehnen wie eine studentische Alleinherrschaft.“

Während sich die Mitwirkung der Assistenten — also des akademischen Mittelbaus — in Lehre und Forschungsfragen am Otto-Suhr-Institut als „sehr produktiv“ (Schwan) erwiesen hat, zeigte sich, daß „ein Großteil der Studenten an einer Mitbestimmung gar nicht interessiert“ ist: „Nur etwa die Hälfte der Studenten beteiligt sich an den Wahlen für ihre Vertreter.“

Das hatte zur Folge, daß die gemäß Drittelparität gewährten Sitze von der radikalen Linken eingenommen wurden, der Mitbestimmung nun nicht mehr genügt. Daraus ließe sich, meint auch Schwan, die „Folgerung ziehen, daß die Drittelparität … die Studenten in ihrer Gesamtheit vorläufig noch überfordert“ und Mitbestimmung nicht notwendigerweise nach diesem starren Schema verwirklicht werden müsse.

Voraussetzung für eine erfolgversprechende Mitbestimmung wäre in der Tat, daß die Studentenschaften ihre unter Reformgesichtspunkten qualifiziertesten Vertreter in die Entscheidungsgremien entsenden würden — was heute mancherorts noch nicht möglich ist,

* weil ein großer Teil der Studierenden den Wahlen für Mitbestimmungsgremien fernbleibt und es so den revolutionstrunkenen Studenten überläßt, ihre Vertreter in die Gremien zu entsenden;

* weil die Richtlinien studentischer Politik meist auf sogenannten Vollversammlungen beschlossen werden, an denen in Wirklichkeit· nur ein geringer Teil der Studentenschaft teilnimmt in der Mehrheit wiederum die Ultraradikalen, die dann mit dem Anspruch auftreten, die gesamte Studentenschaft zu repräsentieren.

Diese reformblockierende Radikalismus-Mechanik ließe sich zurückschalten, wenn ein sogenanntes Wahl-Quorum eingeführt würde (wie in Frankreich). Das heißt: Die Zahl der studentischen Vertreter in den Entscheidungsgremien wäre abhängig von der Wahlbeteiligung — eine Relation, die auch für Professoren und Assistenten gelten müßte.

Ein solches Regulativ, das die studentischen Interessen getreulicher hervorkehren würde als die jetzige Prozedur, liefe freilich allen strategischen und taktischen Absichten der radikalen Linken zuwider. Denn sie braucht Plattformen und Instrumente für die geplante Hochschulrevolution, der dann die Revolutionierung der gesamten Gesellschaft folgen soll.

Da die erweiterte Mitbestimmung, die nun von Staats wegen gewährt wird, ihnen wie eine Finte der Herrschenden vorkommt, allein bestimmt, die abtrünnigen Studenten wieder heimzuholen in den Schoß der Gesellschaft, erscheinen ihnen selbst drittelparitätisch besetzte Gremien als „Quasselbuden“. Über Gegenwart und Zukunft, Wohl und Wehe der Universität sollen nach SDS-Vorstellungen nun nicht mehr Professoren, Assistenten und Studenten mit gleichem Stimmanteil entscheiden, sondern Vollversammlungen, in denen Studenten die Mehrheit haben.

Gremien dagegen, „in denen die Studenten in der Minderheit sind und entscheidenden Einfluß nicht nehmen können“, belehrte unlängst ein Politologie-Student seine Kommilitonen auf einer Vollversammlung in Berlin, hülfen nur „die Macht der Lehrstuhlinhaber zu stabilisieren“ und vergrößerten „den Einfluß des objektiv den Interessen der Studierenden entgegenstehenden Mittelbaus“.

Den linken Studenten, so schrieb der „FU-Spiegel“, gehe es nicht mehr darum, den Dozenten „Wunschzettel vorzulegen und Zeit mit endlosen Satzungsdiskussionen zu verplempern, sondern die mögliche Neuorganisation des Seminarbetriebes selbst durchzuführen“ — unter dem Schlagwort „Selbstorganisation der Wissenschaft“: Die Radikalen wollen die absolute Kontrolle über Lehrinhalte und Prüfungsbedingungen, Finanzplanung und Forschungsobjekte.

„Selbstorganisation der Wissenschaft“ versuchten die Studenten schon vorübergehend in besetzten Universitäts-Instituten, zu deren Namenspatronen sie Karl Marx, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und den sozialistischen Psychoanalytiker Wilhelm Reich erklärten. In „befreiten Räumen“ studierten die Sozialisten Marx- und Mao-Schriften, „Revolutionstheorien“ und „Widerstandsrecht“, „politische Apathie“ und die Gefahren „privatistischer Politik“.

Aber zumeist scheiterten solche Versuche. Die 1967 innerhalb einiger Hochschulen gegründeten „Kritischen Universitäten“ zerbrachen an der Selbstüberschätzung der Selbstorganisatoren, wie ein Mitbegründer der Hamburger KU, Jens Litten, darlegt. Und die „autonomen Seminare“, in denen sich während des vergangenen Semesters Studenten mancherorts zusammenfanden, lieferten bislang auch keine sicheren Indizien dafür, daß die Studenten unter sich fruchtbringend Wissenschaft treiben können.

Das SDS-Blatt „Neue Kritik“ berichtet aus Berlin: „Im autonomen studentischen Sektor am philosophischen Seminar waren nicht länger Dozenten anwesend, und an Stelle von Kant, Leibniz und Marx wurde nun stramm Strukturalismus, Anthropologie und Formale Logik getrieben. Mit der Abschaffung der Dozenten waren scheinbar auch die gesellschaftlichen Widersprüche abgeschafft.“ Scheinbar.

14.07.1969

„Mit dem Latein am Ende“

3. Fortsetzung

„Deutschlands Medizin ist krank“ hieß es in alarmgelber Schrift auf dem Titelblatt.

Der Befund war das Fazit einer SPIEGEL-Titelgeschichte, in der unter anderem diagnostiziert wurde,

* daß der einstige Weltruhm deutscher Heilkunst verblaßt sei — sie habe es versäumt, sich der „Entwicklung der Medizin der letzten Jahrzehnte anzupassen“ (so damals der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Hans-Joachim Sewering);

* daß der Standard ärztlichen Könnens in der Bundesrepublik im Sinken begriffen sei — die Bevölkerung werde nunmehr „schlechter versorgt als vor 80 Jahren“ (so der Wiener Kliniker Professor Ernst Lauda);

* daß die Ursachen dafür in einem unzulänglichen, längst reformbedürftigen Ausbildungssystem zu sehen seien: Es fehle eine sinnvolle Studienordnung, den Studenten werde zwar eine fast chaotische Fülle theoretischen Wissens, aber „nicht annähernd das notwendige praktische Können vermittelt“ (Sewering);

* daß wissenschaftliche Neuerungen in der deutschen Mediziner-Ausbildung vielfach zu kurz kämen;

* daß medizinische Examina in Deutschland keine objektive Leistungskontrolle darstellten;

* daß die streng hierarchische Ordnung deutscher Medizin-Fakultäten, das Korps der Lehrstuhlinhaber an der Spitze, jeden Versuch zur Reform nachhaltig blockiere. Die SPIEGEL-Titelgeschichte über die Mängel deutscher Medizin-Ausbildung erschien im August 1962. Aber in den sieben Jahren seither ist so gut wie nichts geschehen, den Mißständen abzuhelfen. Im Katalog der Mängel des ärztlichen Ausbildungssystems hat jede Position ihre Gültigkeit bewahrt.

„Vielleicht ist eine Revolution nötig“ — so mutmaßte schon vor zehn Jahren der Heidelberger Mediziner Professor Hans Schaefer. Aber die Revolte der Studenten, die in den letzten beiden Jahren die Hochschulen der Bundesrepublik erschütterte, ergriff die Jung-Mediziner zuletzt.

Erst im vorigen Jahr protestierten die Medizinalassistenten erstmals gegen unzulängliche Ausbildung und schlechte Arbeitsbedingungen, vereinigten sich an vielen Universitäten rebellische Medizinstudenten zu linken „Basisgruppen“.

Und später auch als in anderen Fachbereichen bemerkten die Gegenspieler der Studenten — die Großmeister des ärztlichen Establishments – die Zeichen des akademischen Aufruhrs: „Zutiefst erschüttert“ fühlte sich, noch auf dem Deutschen Ärztetag in Wiesbaden 1968, Professor Ernst Fromm, Präsident der Bundesärztekammer, als ihm ein Student entgegenhielt, es sei „ja nichts geschehen“, ehe die Revolte ausbrach — „tagtäglich“ “ so beteuerte Fromm, werde an der „Fortentwicklung und Anpassung unserer Ordnungen“ gearbeitet.

Freilich, alle bisherigen Hilfsmaßnahmen — Zulassungsschranken (Numeros clausus) und Institutsneubauten, Stipendien und Hochschulneugründungen — haben die chronischen Mängel der Mediziner-Ausbildung bis heute nicht beheben können:

* Das Zulassungsverfahren garantiert weder eine gerechte noch eine qualifizierte Auswahl der Studienbewerber.

* Noch immer sehen sich die Studenten im ersten Studienabschnitt (Vorklinikum) einer planlosen Anhäufung von Wissensstoff gegenüber, der nach Ansicht kompetenter Gutachter für die ärztliche Ausbildung weithin überflüssig erscheint.

* Noch immer konfrontiert der zweite (klinische) Teil des Medizinstudiums die Lernenden mit einer Vielzahl theoretischer Unterrichtsfächer; die praktische Ausbildung kommt dagegen zu kurz — während der gesamten sechsjährigen Studienzeit haben die Jung-Mediziner nur fünf Monate Gelegenheit, am Krankenbett Erfahrungen zu sammeln.

* Noch immer zwingt eine verstaubte Bestallungsordnung die Arzt-Kandidaten, am Ende des Studiums ein Marathon-Staatsexamen abzulegen — in insgesamt 18 Prüfungsfächern werden die Kandidaten mündlich geprüft; schriftliche Leistungskontrolle gibt es nicht.

* Noch immer zeigen die examinierten Jungärzte bei ihrer ersten Begegnung mit der Praxis (während der zweijährigen Pflichtzeit als Medizinalassistenten) oftmals Züge einer „beschämenden Hilflosigkeit“, wie ein angesehener Kliniker formulierte — dennoch fehlt für die Anleitung der Medizinalassistenten bis heute ein sinnvolles Ausbildungssystem.

* Und immer noch gebieten schier allmächtige Ordinarien, Institutsleiter und Klinikdirektoren, über Studenten, Doktoranden, Assistenten und sogar Oberärzte — „vom feudalen System mit den leibeigenen Knechten“, so bekannte ein ausländischer Mediziner, habe er „keine richtige Vorstellung gehabt“, bis er „die Organisation der Schulmedizin in Deutschland kennenlernte“.

Weit früher und nachdrücklicher als ihre Kollegen aus anderen Fachbereichen sind die Hochschul-Mediziner mit Kritik und Warnungen traktiert worden. Und für kaum einen Universitätssektor wurden in den letzten Jahren so viele und detaillierte Reform-Modelle ausgearbeitet wie für die medizinische Hochschulausbildung — doch in keinem anderen Hochschulbereich geschah so wenig, sträubten sich die konservativen Lehrstuhl-Inhaber, Klinik-Chefs und Standesvertreter so hartnäckig gegen jede Neuerung.

Weithin übereinstimmend forderten Wissenschaftsrat und Forschungsgemeinschaft eine gründliche Neuordnung des Medizinstudiums und bessere Organisationsformen für Ausbildungs- und Forschungsstätten:

Wissenschaftsrat: Gremium aus Wissenschaftlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens; entwickelt Pläne zur Förderung und Koordination wissenschaftlicher Aufgaben.

* Institute und Kliniken, bislang Herrschaftsbereich souveräner Ordinarien, sollen zu sogenannten Departments zusammengelegt werden — zu Groß-Instituten, die von Abteilungsleitern kollegial verwaltet werden.

* Das Medizinstudium soll gestrafft und — nach angelsächsischem und skandinavischem Vorbild — mehr als bisher Unterricht am Krankenbett werden; für Jung-Mediziner, die den Arztberuf anstreben, und für jene, die eine wissenschaftliche Laufbahn anstreben, sollte nach Ansicht der Reformer jeweils ein besonderer Studienweg geschaffen werden.

Derlei eher gemessene Reformpläne stießen auf erbitterte Ablehnung bei Hochschulmedizinern und ärztlichen Standesvertretern. Angesichts der vorgeschlagenen Aufteilung des Medizinstudiums in ärztliche Berufsausbildung und Ausbildung zum medizinischen Wissenschaftler beschwor der Deutsche Ärztetag die vermeintlich bedrohte „Einheit der Medizin“: „Mit allen Fasern unseres beruflichen Seins“, so ereiferte sich Ärztetag-Präsident Fromm, wehrten sich die Mediziner „gegen Versuche, den ärztlichen Berufsstand aufzusplittern“.

Ähnlich pathetisch wandten sich viele Lehrstuhl-Inhaber gegen den Vorschlag der Reformer, die medizinischen Fakultäten aufzulösen und in Fachbereiche oder Departments aufzuteilen. Die Professoren, deren Machtfülle und auch Einkünfte durch eine solche Neuordnung geschmälert würden, erklärten die Pläne für „wirklichkeitsfremd und gefährlich“ — sie wurden „zu einem schweren Rückschlag für die deutsche Medizin führen“ (so im Januar ein „Memorandum von fünf Medizinischen Fakultäten“ in Nordrhein-Westfalen).

Aber auch die Studenten — zumindest die linksradikalen Gruppen — verweigern den Reform-Vorschlägen, wie sie Wissenschaftsrat und Forschungsgemeinschaft ausgearbeitet haben, ihre Unterstützung. Sie sehen in den Plänen „systemimmanente“ und „technokratische“ Versuche, eine Studienordnung notdürftig zu restaurieren, die nach Ansicht der Linksradikalen keine Reparatur verdient.

Die „Heilung akuter Symptome des Kranken“ — so umreißen die Uni-Ideologen ihr Bild von einer neuen Medizin — „muß kombiniert sein mit aktiver politischer Arbeit“. Es müsse künftig Aufgabe des Mediziners sein, die „krankmachenden Faktoren der Gesellschaft“ zu bekämpfen, nicht die Ausbildung qualifizierter Fachleute, wie sie von den technokratischen Reformern gefordert wird, dürfe Ziel des Medizinstudiums sein — vielmehr müsse „im Studium revolutionäre Berufspraxis“ vorbereitet werden.

Erschreckt über die aggressiven Forderungen der radikalen Jung-Mediziner und verdrossen über den Starrsinn der Ordinarien und Ärzte-Funktionäre, zeigen sich seit kurzem die Politiker in Bund und Ländern bereit, wenigstens ein Minimal-Programm an Reformen durchzusetzen: Die in allen Bundesländern vorbereiteten neuen Hochschulgesetze sollen auch die medizinischen Fakultäten zu neuen Organisationsformen nötigen — vornehmlich verwaltungstechnische Reformen freilich, die auf Inhalt und Intensität der Mediziner-Ausbildung kaum Einfluß hätten.

Sicher scheint bislang nur, daß allein durchgreifende Reformen die deutsche Schulmedizin sanieren können. Längst hat sich gezeigt, daß mittels hilfloser Notmaßnahmen den Mißständen in der Medizinerausbildung kaum mehr abzuhelfen ist. Daß „in Deutschland das Medizinstudium nichts taugt“, so formulierte der Münchner Ordinarius Klaus Betke, sei nun „auch schon für den Laien eine ausgemachte Sache“.

Bis 1966 konnte jede Universität den Zulassungsmodus nach Hausbrauch regeln — die Uni Münster veranstaltete beispielsweise eine Art Lotterie, bei der die Bewerber ausgelost wurden.

Erst 1966 beschloß der Westdeutsche Medizinische Fakultätentag, die „bunte Mannigfaltigkeit der Verfahren“ (so der Tübinger Physiologe Professor Karl Brecht) durch ein einheitliches System zu ersetzen: Die versammelten Fakultäten-Vertreter einigten sich damals auf das sogenannte Tübinger Modell — ein Auslese-Verfahren, dem die Abitur-Zensuren zur Grundlage dienen.

Nach dieser Methode wurden die Matura-Noten zu zwei „Zulassungszahlen“ addiert:

* Die Zulassungszahl I errechnet sich aus den Zensuren in vier sogenannten Kernfächern — Deutsch, Mathematik, Latein und Griechisch bei Absolventen altsprachlicher Gymnasien; bei Abiturienten neusprachlicher und naturwissenschaftlicher Oberschulen gilt Englisch, Französisch oder Physik als viertes Kernfach.

* Die Zulassungszahl II summiert sich aus den Noten für Physik, Biologie und Chemie; diese zweite Zulassungszahl soll dann bei der Entscheidung berücksichtigt werden, wenn gleichzeitig mehrere Bewerber die gleiche Zulassungszahl 1 erreichen.

Kritikern gilt dieses Zulassungsmodell nicht nur darum als suspekt, weil es auf „Kernfächern“ beruht, die zur medizinischen Wissenschaft kaum eine einleuchtende Beziehung haben: Es gehe, so höhnte ein Hamburger Medizinstudent, von dem „uralten Ideal aus, daß ein Mediziner nun mal Humanist sein muß und die Bratsche zu spielen hat“.

Überdies lehnen vor allem viele Studenten das Tübinger Auslese-Verfahren grundsätzlich deshalb ab, weil sie das Abitur als Zulassungskriterium für untauglich halten. Zwischen Nord- und Süddeutschland bestehe ein deutliches Niveau-Gefälle der Abiturnoten — so würden etwa die strenger zensierten Bewerber aus Bremen den Münchner Konkurrenten gegenüber benachteiligt.

Die regional bedingte Benachteiligung der norddeutschen Bewerber ziehe zudem soziale Ungerechtigkeit nach sich: Wohlhabende Eltern, vor allem viele Ärzte, lassen ihre Kinder in teuren Internatsschulen das Abitur machen — dort fallen die Matura-Zensuren erfahrungsgemäß überdurchschnittlich gut aus.

Schließlich bemängeln die Kritiker des Tübinger Modells, daß die Abitur-Noten nur wenig über die Qualifikation zum Mediziner aussagten.

Obwohl die derzeit gültige ärztliche Bestallungsordnung eindeutig vorschreibt, daß sich der Medizinstudent in den naturwissenschaftlichen Fächern nur „die für den künftigen Arzt notwendigen Kenntnisse“ aneignen soll, lehren und prüfen die Fachgelehrten oft entlegenen Wissensstoff — mehr oder minder unnützen Ballast.

Ein Chemie-Professor in Kiel etwa weihte die angehenden Mediziner in die Bauprinzipien von Hochöfen ein; der Botaniker Brabec in Hamburg las vor Medizinstudenten viele Stunden über Moos und Farnkräuter, und ein Kölner Zoologe erläuterte detailliert den Knochenbau von Walen.

Von derlei absurdem Lehrstoff bleiben die Medizinstudenten allerdings auch im Klinischen Unterricht nicht verschont. In der Hygiene-Vorlesung etwa müssen sich die angehenden Ärzte mit den Grundlagen der Müllabfuhr vertraut machen.

Den Hauptanteil ihrer vorklinischen Studienzeit widmen die Jung-Mediziner anatomischen Vorlesungen und Kursen. Jeden Muskel, jedes Gelenk, alle Knochen, Sehnen und Bänder müssen die Studenten beim wissenschaftlichen Namen kennen — die gelehrten Bezeichnungen etwa für ein kleines Stück Körpergewebe erreichen oft furchterregende Länge („ligamentum mesohepaticum laterale sinistrum“) oder zungenbrecherische Qualität („musculus crico-arytenoideus posterior“).

Daß solche Nomenklatur, selbst wenn der praktizierende Arzt sie später gelegentlich brauchte, sich auch in Nachschlagewerken auffinden ließe, kommt der amtierenden Schulmedizin nicht in den Sinn.

Ähnliche Mängel, wie sie dem Hochschul-Unterricht anhaften, kennzeichnen auch die medizinischen Standard-Lehrbücher. Die Autoren, meist Fachgelehrte, kultivieren häufig einen esoterischen Kanzleistil, der selbst einfache Sachverhalte kunstvoll verschleiert und dem Leser qualvolle Dechiffrierarbeit abfordert. Anhand der schwer verdaulichen und obendrein teuren Lehrbücher können sich die Studenten kaum auf die Vorlesungen und Kurse vorbereiten.

Anstatt medizinisches Basis-Wissen knapp und übersichtlich darzustellen. neigen die Verfasser oft dazu, eigene Forschungsergebnisse übertrieben gründlich abzuhandeln. Mit Rücksicht auf das Staatsexamen sind deshalb viele Studenten gezwungen, beim Wechsel an eine andere Universität jeweils neue Lehrbücher einzukaufen — Werke der ortsansässigen Ordinarien.

Mangels brauchbarer Lehrbücher griff die Mannschaft des Heidelberger Internisten Schettler zur Selbsthilfe: Die Assistenten des Professors schrieben, ausdrücklich für die Bedürfnisse der Studenten, ein zweibändiges Lehrbuch der Inneren Medizin, das im preiswerten Taschenbuchformat erschien.

In den meisten Universitäten freilich bereiten sich die Studiker nur selten mit Hilfe von Lehrbüchern auf Vorlesungen und Prüfungen vor. Weit häufiger bedienen sie sich dazu anonymer Vorlesungsskripte; Protokolle nach dem Vortrag gefürchteter Prüfer werden oft unter Examenskandidaten zu Wucher-Kursen gehandelt. Kataloge mit Examensfragen kosten an der Hamburger Uni bis zu 600 Mark.

Die neue Approbationsordnung würde verlangen:

* Anpassung des Lehrstoffes in Klinikum und Vorklinikum an den modernen Wissenschaftsstandard veralteter Wissensstoff soll, ausgeschieden, bislang vernachlässigte Fächer wie medizinische Psychologie oder Sozialmedizin sollen in den Lehrplan aufgenommen werden;

* Einführung des Gruppenunterrichts die Studenten sollen in überschaubaren Gruppen praxisnah ausgebildet werden;

* Reduzierung der großen Pflichtvorlesungen, die bisher im Mittelpunkt des Medizinstudiums standen — künftig soll die Zahl der Übungen und Praktika vergrößert werden. Aber noch haben Kultusbehörden und Universitäten kaum konkrete Vorstellungen entwickelt, wie solche kostspieligen Pläne verwirklicht werden könnten.

Erst recht im Ungewissen bleibt vorläufig, welche Chancen, Risiken und Konsequenzen jene über die Approbationsordnung hinausgehenden Reformvorschläge in sich bergen, die etwa bei den Kultusministerien der Länder gegenwärtig vorbereitet werden und auf die Zerschlagung der klassischen Strukturen deutscher Schul-Medizin abzielen: Umwandlung der Fakultäten zu Departments, Abbau der Ordinarien-Hierarchie.

Wie Witwe Boltes Federvieh bei Wilhelm Busch zerren und würgen die Interessentengruppen an den unverdaulichen Brocken der Reform, unfähig, den Knoten zu lösen und sich auf eine gemeinsame Richtung zu einigen: Die Ordinarien der medizinischen Fakultäten richten sich darauf ein, ihre gefährdete Position zu verteidigen. Um den gefürchteten Hochschulgesetzen zu entgehen, erwog der Westdeutsche Medizinische Fakultätentag bereits, die medizinischen Fakultäten aus den Universitäten auszugliedern.

* Direktoren wissenschaftlicher Institute sperren sich gegen die geplante Demokratisierung — in einem Aufruf warnten sie vor dem in Aussicht gestellten Mitspracherecht für Studenten und Assistenten: Die Spitzenkräfte der deutschen Wissenschaft, so prophezeiten sie, würden in die Industrie abwandern.

* Medizinstudenten und Assistenzärzte sträuben sich gegen die Reformpläne, weil die neue Approbationsordnung „den Problemen der medizinischen Ausbildung nicht gerecht“ werde; einmal, weil zu wenig obsoleter Lehrstoff entfernt, zum anderen, weil zu viel neuer auf genommen werde. So kritisierte eine „Ad-hoc-Gruppe“ von Medizinstudenten und Assistenten — durch vermehrtes Anhäufen von nachprüfbarem Faktenwissen werde nur der „auf den Studenten lastende Prüfungsdruck verstärkt“. Die „totale Verschulung und Reglementierung“ des Medizinstudiums sei bislang das einzige erkennbare Ziel sowohl der Hochschulgesetze als der neuen Bestallungsordnung. Allenfalls in einem Punkt könnten sich die Parteien im Streit um die deutsche Hochschul-Medizin noch zusammenfinden, in der Ablehnung der jetzt geplanten Neuerungen.

Die neue Approbationsordnung, so schließt das Manifest der „Ad-hoc-Gruppe“, „müssen wir zusammen, Professoren, Assistenten und Studenten, zu Fall bringen“. …

Ein Heilmittel gegen das Siechtum der deutschen Schul-Medizin, so scheint es, haben Deutschlands Mediziner noch längst nicht gefunden. Und ob die Reformen, wie sie jetzt versucht werden, die Krankheit wenigstens werden lindern können — auch das ist noch umstritten.

21.07.1969

„Mit dem Latein am Ende“

4. Fortsetzung

Die Halbgötter im weißen Kittel vereinigen in ihrer Hand einen imponierenden Reichtum an Ämtern und Aufgaben — sie sind, in einer Person, Forscher und Lehrer, Ärzte und Klinik-Chefs, Verwaltungsbeamte und oft Inhaber mehrerer Hochschulämter.

Sie herrschen über Krankenhäuser und Forschungsinstitute, gebieten über Studenten, Assistenten, Oberärzte und Krankenschwestern; sie verplanen in ihren Etats Millionen-Summen, entscheiden über den Ankauf kostspieliger Behandlungs- und Forschungsgeräte und über den Bau von Kliniken und Hörsälen. Häufig betreiben sie überdies eine Privatpraxis, und sie kümmern sich, meist als ehrenamtliche Funktionäre, um die Belange ärztlicher Standespolitik.

Ihre hohe Autorität und patriarchalische Macht haben die Medizin-Ordinarien aus dem vorigen Jahrhundert ererbt — aus einer Zeit, da der glänzende Ruf deutscher Medizin, ausgehend von Forschernamen wie Rudolf Virchow oder Robert Koch, um die ganze Welt ging. Damals versammelte sich jeweils eine überschaubare Schar von Schülern in den Hörsälen der berühmten Lehrmeister, die in ihren Vorlesungen allzeit das medizinische Wissen der Epoche vollständig auszubreiten vermochten.

Das liegt weit zurück. Längst hat sich der Fundus ärztlichen Wissens enzyklopädisch ausgeweitet und in immer neue Spezialgebiete aufgefächert. Und längst haben Lehrer und Schüler an den überfüllten Mammut-Hochschulen den Kontakt zueinander verloren. Seit langem sehen sich die Medizinprofessoren außerstande, die ihnen übertragenen Aufgaben verantwortlich zu erfüllen — das patriarchalische Ordinariensystem, das einst der deutschen Medizin zu Weltruhm verhalf, ist zum Zerrbild seiner selbst geworden.

Zur lebenden Karikatur gerät das alltägliche Bild des Medizinprofessors, der an der Spitze seines Gefolges im Schnellschritt Krankensäle durchschreitet. Oft kennt er kaum die Namen der Studenten, die ihm folgen, noch die der Patienten, die er eilig untersucht — doch „jeder Schritt bei der Visite“, so schätzte ein Hamburger Assistenzarzt, „bringt dem Chef einen Hunderter mehr ein“.

„Im Scheinheiligtum der deutschen Medizin“, so spottete die Zeitschrift „Medizinstudent“, sei „nur die Hierarchie olympisch“. Doch mit dem Ausdruck „hierarchisch“ wird, wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) konstatierte, die Organisationsform westdeutscher Hochschulinstitute und -kliniken „kaum zutreffend wiedergegeben“.

Denn Hierarchie bedeute „Ordnung nach Rängen und Stufen“ und „Abstufung der einander untergeordneten Gewalten“ — die deutsche Schulmedizin aber kennt nur eine einzige Rangstufe: die absolute Gewalt des Ordinarius, der als Lehrstuhl-Inhaber fast immer zugleich einer Uni-Klinik oder einem Forschungsinstitut vorsteht.

Die totale Ordinarien-Herrschaft in den medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten lastet mit gleicher Härte auf Labordienern wie auf Oberärzten. Das strenge Regiment der allmächtigen Professoren, so kritisiert die Deutsche Forschungsgemeinschaft, habe vor allem bei jüngeren Wissenschaftlern „die Persönlichkeitsentwicklung nicht seiten beeinträchtigt“.

Oft sehen sich die Jung-Mediziner peinigenden Demütigungen ausgesetzt. So pflegte der Direktor einer norddeutschen Uni-Klinik seinen Wagen stets vor dem Eingang des Krankenhaus-Parkplatzes abzustellen. Auf Bitten seiner Assistenten, er möge die Parkplatz-Zufahrt freigeben, reagierte der Professor unwirsch: Er erwarte, daß kein Mitarbeiter die Klinik verlasse, solange der Chef anwesend sei — die Bittsteller fügten sich ohne Widerspruch.

Nirgends offenbart sich die zentrale Machtposition der Medizin-Ordinarien deutlicher als im Einkommensgefälle, das zwischen den Lehrstuhl-Inhabern und ihren Mitarbeitern besteht und — so die Deutsche Forschungsgemeinschaft — „häufig schwindelerregend“ ist.

Wenigstens eine Million Mark im Jahr, so kalkulieren vorsichtig Branchenkenner, verdienen Medizin-Päpste wie der Hamburger Internist Heinrich Bartelheimer — manche verdienen mehr: Der Chirurgie-Ordinarius Fritz Linder etwa, so konstatierte eine „Honorarkommission der Assistentenschaft der Medizinischen Fakultät“ an der Berliner Universität, habe der Behauptung nicht widersprechen, daß sein „Lehrstuhl in Heidelberg sieben Millionen Mark im Jahr wert“ sei.

Oberärzte und langgediente Assistenten müssen sich dagegen mit Monatsbezügen bescheiden, die nur wenig über den Einkünften eines Metall-Facharbeiters oder Fliesenlegers liegen (etwa 2000 Mark). Dabei tragen sie meist die Hauptlast der Krankenhausarbeit und unterstützen zudem ihren Chef bei wissenschaftlichen Arbeiten,

Noch bescheidener fällt der Lohn für jüngere Professoren-Hilfskräfte aus. Neben einem kargen Gehalt wird ihnen, auch für Sonderleistungen, allenfalls ein Almosen zuteil wie etwa dem Düsseldorfer Assistenzarzt Dr. Ingolf Koblin, der zu Weihnachten 1968 drei Tage und Nächte lang In der Kieferklinik Extra-Dienst geleistet hatte: Als Anerkennung für (unbezahlte) Überstunden übersandte der Rektor der Universität dem Mediziner ein Fläschchen Kölnisch Wasser — dazu eine hektographierte „Empfangsbescheinigung“. Koblin retournierte die Gabe.

Es sind freilich nicht die Professoren-Gehälter (sie sind relativ niedrig, bis zu 4000 Mark), die den Medizin-Ordinarien zu Reichtum verhelfen; das große Geld verdienen sie gleichsam nebenbei: Es fließt ihnen aus ihren Privatstationen zu, die sie — innerhalb der Uni-Kliniken — als Sonder-Pfründe unterhalten dürfen.

Wollen die Professoren ihre vielfältigen Aufgaben auch nur halbwegs bewältigen, so müssen sie einen Großteil ihrer Arbeit an Hilfskräfte delegieren.

Zwar, viele Ordinarien beteiligen Oberärzte und Assistenten freiwillig an den Privateinkünften; doch bleibt solche Großzügigkeit gebunden an das stets widerrufliche Wohlwollen des Lehrstuhl-Inhabers. Dessen Gunst sich zu erhalten stellt somit „für den jüngeren Wissenschaftler eine ständige Notwendigkeit dar, der wesentliche Kräfte gewissermaßen unproduktiv gewidmet werden müssen“ (Deutsche Forschungsgemeinschaft).

Dem Wohlwollen der mächtigen Lehrstuhl-Inhaber sind nicht nur die jüngeren Hochschul-Mediziner ausgeliefert; im selben Abhängigkeitsverhältnis stehen letztlich alle medizinischen Nichtordinarien.

Sogar Professoren (wenn sie keinen Lehrstuhl innehaben) sehen sich bei ihrer Arbeit oft auf erniedrigende Weise bevormundet. So muß der Kieler Physiologie-Professor und Nichtordinarius Walter Niesel alle Forschungsausgaben, sofern sie den Betrag von zwei Mark überschreiten, vom Lehrstuhl-Inhaber Hans Friedrich Meves genehmigen lassen.

Freilich, für die Misere der deutschen Hochschul-Medizin haften die Professoren nicht allein. Für die Verwirklichung eines umfassenden Reform-Programms fehlte es den Fakultäten an Geld — „in einem Land“, so verteidigt sich Professor Schettler, Präsident des Westdeutschen Medizinischen Fakultätentags“ „das 19 Milliarden für die Armee ausgibt, aber nur einen Bruchteil dieses Betrags für die Ausbildung seiner jungen Leute, muß es an den Hochschulen zu Explosionen kommen.“

Aber auch in anderer Hinsicht ließen Bonns Politiker die medizinischen Fakultäten im Stich. Zweimal scheiterte in der Vergangenheit die CDU-Gesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt bei dem Versuch, die überholte Bestallungsordnung zu reformieren; die Ausbildungsordnung, die den Studiengang und das Prüfungsverfahren regelt, zwang die Professoren, an obsoletem Lehrstoff festzuhalten und den Unterrichts- und Prüfungsbetrieb weithin im alten Stil fortzusetzen.

Gleichwohl versäumten es die Professoren, wenigstens die ihnen verbleibenden Möglichkeiten zur Reform zu nutzen: Ringvorlesungen etwa, bei denen Lehrer aus verschiedenen Fächern dasselbe Thema simultan abhandeln, schriftliche und damit objektive Prüfungen, bessere Koordination des Lehrplans — dergleichen eher bescheidene Neuerungen, wie sie von Studenten und Reform-Planern seit langem gefordert werden, hätte auch die alte Bestallungsordnung durchaus erlaubt.

Die Neufassung der ärztlichen Approbationsordnung, die Anfang des Monats im Entwurf dem Bundesrat zugeleitet wurde, wird den Ausbildungsgang der Medizinstudenten gründlich umgestalten.

Die Hochschulgesetze, soweit sie vorliegen, schreiben sämtlich den Universitäten die Gliederung in Fachbereiche vor — auch die medizinischen Fakultäten sollen sich in Department-Systeme umwandeln.

Vergebens haben die medizinischen Ordinarien versucht, den Zwang zu der unerwünschten Neuordnung von den Medizin-Fakultäten abzuwenden. Der dreifache Auftrag der Schulmedizin — Unterricht, Forschung und Krankenbetreuung -, so lautet das Hauptargument der Professoren, hebe die medizinische Fakultät von den anderen Hochschulzweigen ab.

Auch eher demagogisch klingende Argumente fielen den Kritikern der Struktur-Reform ein: Es dürfe nicht zugelassen werden, daß künftig ein Ärzte-Rat am Krankenbett über die Behandlung des Patienten per Mehrheitsbeschluß sich einige.

In der geplanten Approbationsordnung finden die revoltierenden Studenten nur das trübe Bild der herrschenden „materialistischen Organmedizin“ wieder, die „auf einen rein somatischen Krankheitsbegriff“ beschränkt bleibe (eine „Initiativgruppe medizinischer Arbeiter“ in Berlin). So werde in der neuen Studienordnung für die Fächer Psychosomatik und Psychoanalyse nur der Anteil von einem Prozent vorgesehen.

Wie bisher werde der Medizinstudent nicht in „die Lage versetzt, seine Erkenntnisse im geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext zu lesen“ — die Einsicht, „daß die allgemeine Struktur der Gesellschaft pathogenetisch wirken kann“, werde den angehenden Medizinern weiterhin vorenthalten (Flugblatt der Hamburger Fachschaft Medizin).

Auch die „längst fällige Neubestimmung des Arztbegriffs“ fehle in der neuen Ausbildungsordnung; sie könne wie die Hamburger Fachschaft kritisiert, allenfalls als Dressur-Anweisung für einen Arzt-Typ dienen, dessen Aufgabe es sei, „beschädigte Arbeitskraft zu reparieren“ um sie möglichst schnell für den Produktionsprozeß wieder verwertbar zu machen“.

Derlei linke Kritik stößt bei deutschen Ärzte-Funktionären weitgehend auf Verständnislosigkeit. „Der Sinn für Proportionen ist verlorengegangen“, so klagte auf dem Wiesbadener Internisten-Kongreß im letzten Jahre der Tübinger Professor Hans-Erhard Bock, „über eine mysteriöse politologisch-soziologische Diffusion dringt arztfremdes Gedankengut ein.“

Das Unbehagen vieler Studenten, das sich am unzulänglichen ärztlichen Ausbildungssystem entzündet, hält Bock für ungerechtfertigt: Er müsse gestehen, so erläuterte er auf dem Internistentag, daß ihm eine „Pädagogik, die jede Frustration vermeidet“, als „irreal“ erscheine — „das Leben besteht aus bewältigten Frustrationen

Freilich, Unbehagen empfinden auch die Professoren angesichts der Bonner Reformpläne. Sie müssen fürchten, die befohlene Neuordnung des Medizinstudiums — auch bei gutem Willen — nicht in die Tat umsetzen zu können. Für die in der neuen Approbations-Ordnung vorgesehene Intensiv-Ausbildung (mehr Kurse und Übungen als bisher, Unterricht in kleinen Gruppen während des Internatsjahres) fehlt es sowohl an Lehrkliniken wie an geschultern Lehrpersonal — eine „fundierte medizinische Pädagogik“, so konstatiert ein Gutachten des badenwürttembergischen Kultusministeriums“ „existiert in der Bundesrepublik nur in rudimentären Ansätzen“.

Die allgemeinen Krankenhäuser, die in Zukunft neben den Uni-Kliniken als Ausbildungsstätten dienen sollen, sind für die neue Aufgabe einstweilen nur notdürftig ausgerüstet. Und selbst die Universitätskliniken wären derzeit kaum imstande, die Mittel und Einrichtungen für den Intensiv-Unterricht bereitzustellen.

„Würden die von Industriefirmen geliehenen Geräte aus dem Betrieb gezogen“, so erläuterte der Erlanger Internist und Chef der Universitäts-Poloklinik, Professor Ludwig Demling, „dann bräche die Krankenversorgung und damit der medizinische Unterricht sofort zusammen.“

Die Reform der deutschen Hochschul-Medizin hat noch nicht begonnen.

28.07.1969

„Mit dem Latein am Ende“

5. Fortsetzung

Mit 20 Jahren-selten eher- machen sie das Abitur und verlassen die Schule.

Mit 26 Jahren — selten eher, häufig später — bestehen sie das Erste Staatsexamen und kehren in die Schule zurück: als Referendare und künftige Studienräte.

Dazwischen liegen 12 Semester an einer Universität: das Studium für das Lehramt an Höheren Schulen. Aber in diesen sechs Jahren lernen sie kaum wie und was sie lehren sollen.

Künftige Studienräte für das Fach Deutsch lernen allesamt Alt- und Mittelhochdeutsch und können den Stabreim im Evangelienbuch des Mönches Otfrid skandieren. Doch sie erfahren nicht, wie eine Komma-Regel zu begründen ist, und hören meist über Heinrich Böll kaum ein Wort.

Künftige Studienräte für Mathematik beherrschen die algebraische Zahlentheorie, doch sie wissen nicht, wie sie mit Quintanern eingekleidete Aufgaben rechnen sollen.

Künftige Studienräte für Biologie haben Staubgefäße unter dem Mikroskop seziert, aber sie ahnen nicht, wann und wie Schüler aufgeklärt werden sollen.

Künftige Studienräte für Englisch oder Französisch wissen über das Motiv der Rache im Drama Shakespeares oder über die Lautgeschichte des Altfranzösischen zu reden. Aber oft sind sie nicht so sicher, wenn sie sich auf der Straße englisch oder französisch unterhalten sollen.

Derart schulfremd in jeweils zwei Fächern ausgebildet, verlassen Jahr um Jahr rund 5000 Studenten die Hoben Schulen, um fortan ein Lehrerleben lang an Deutschlands Oberschulen den Nachwuchs für eben diese Hohen Schulen heranzubilden.

Erst tun sie es zwei Jahre lang als Referendare — selber noch Fremdlinge in der Schulwirklichkeit, eher schlecht als recht betreut und bezahlt (Unterhaltszuschuß um 460 Mark). Dann, nach dem Zweiten Staatsexamen, dürfen sie sich Assessoren nennen und — mittlerweile 28 Jahre alt — ihr erstes Gehalt beziehen. Mit 30 werden sie Studienräte. Mit 40 ist so gut wie jedem der Titel Oberstudienrat sicher, mit 50 das Endgehalt von 2700 Mark, mit 65 der Ruhestand. 35 Schülerjahrgänge ziehen bis dahin an jedem Studienrat vorbei an die Universität oder gleich in die Berufswelt.

Doch so geordnet und übersehbar der Kreislauf zwischen Gymnasium und Universität auch zu sein scheint, so gefahrenreich und unberechenbar ist er für jeden, der an ihm teilhat. Kaum jemand wird für die jeweilige nächste Strecke gut genug gerüstet: im Gymnasium der Schüler nicht für den Hörsaal der Universität, in der Universität der Student noch viel weniger für das Katheder im Gymnasium.

Schon allein die Zahlen beweisen den Notstand. In den Gymnasien bringt es nur jeder siebente Sextaner ohne Sitzenbleiben zum Abitur, fast die Hälfte schafft es überhaupt nicht. Und die Studenten, die sich an den Philosophischen Fakultäten einschreiben und Studienrat werden wollen, kommen größtenteils nur mühsam oder überhaupt nicht über die Hürden: viele scheitern schon in der Zwischenprüfung, andere erst im Ersten Staatsexamen, Insgesamt beendet etwa ein Drittel das Studium an der Universität ohne Examen. Zum Teil versuchen die Gescheiterten dann, Volksschullehrer zu werden.

Nirgends sonst in Europa brauchen künftige Oberschullehrer so lange bis zum Berufsbeginn wie in der Bundesrepublik. Mit acht Semestern, die laut Studienordnung bis zum Ersten Staatsexamen nur notwendig sind, kommt nur eine Minderheit von 13 Prozent aus. Im Durchschnitt brauchen die künftigen Studienräte 12, manche sogar 20 Semester.

Doch in solchen Zahlen wird nicht das ganze Elend deutscher Lehrerbildung erfaßt. In keiner Tabelle schlägt sich nieder, wie viele Studienräte sich und ihre Schüler quälen — nur weil ihr Beruf ihnen fremd geblieben ist. Mit keiner Zahlenkolonne ist zu belegen, wieviel Geist und Begabung der Gesellschaft verlorengehen, nur weil sie mangels pädagogischem Sachverstand gar nicht erst geweckt oder aber verschüttet werden.

Solange künftige Studienräte an den Universitäten zu Fachgelehrten und nicht zu Fachlehrern ausgebildet werden, so lange wird die Misere der deutschen Hochschulen vervielfacht und verewigt: Gelingt es einem Studienrat nicht, das an der Universität Versäumte nachzuholen und — schon am Gymnasium tätig — seinen Beruf zu erlernen, so leiden Tausende von Schülern darunter, die er dreieinhalb Jahrzehnte lang unterrichtet. Wie gut oder schlecht er sein Geschäft verstehen mag: Die meisten Schüler werden doch an die Universitäten entlassen. Und die nächste Professoren-Generation wird zu ertragen haben, was ihre Vorgänger auf den Lehrstühlen bei der Lehrerausbildung verschulden.

Als eine „Lebensfrage auch für die Hochschule selbst“ bezeichnet denn auch der Deutsche Bildungsrat die Ausbildung der Gymnasiallehrer. Aber diese Lebensfrage ist ungelöst.

„Wir wissen“, sagt Professor Kurt H. Biedenkopf, Rektor der Ruhr-Universität, „daß man so, wie es bisher geschieht, den Lehrerberuf nicht erlernen kann.“ Wie ein „präsumptiver Privatdozent, als Spezialist, als Fachwissenschaftler“ werde der Studienrat ausgebildet, moniert der Pädagoge Professor Joachim H. Knoll, ebenfalls Bochum; „kein Mensch scheint daran zu denken, daß dieser so ausgebildete Studienrat später zehnjährigen Schülern Interpunktion beibringen und mit Zwölfjährigen Nacherzählungen üben muß — bei solchem Geschäft ist er meist ein hoffnungsloser Dilettant.“ Knolls Forderung: „Die Ausbildung der Lehrer muß schonungslos entrümpelt werden.“

Doch noch immer empfinden viele Professoren solche Forderungen als unerhört. Nur wenige suchen die Schuld bei sich und ihresgleichen. Die meisten sind sich darüber einig, daß viel zu viele und viel zu schlechte Studenten in ihren Hörsälen sitzen. Manche meinen, daß etwa jeder dritte, viele glauben, wie der Münchner Anglist Professor Wolfgang Clemen, daß jeder zweite Student untauglich für die Universität ist. „Praktische Sprachkurse mit teilweise elementarem Inhalt“ geben laut Clemen dem „akademischen Unterricht in einem weiten Bereich den Charakter einer gymnasialen Oberstufe“.

Ähnlich wird von fast jedem Lehrstuhl der Philosophischen Fakultät herunter geklagt. Daß „Germanistik weithin ein Verlegenheitsstudium sei, das nur wenig wirklich Begabte anziehe“, hörte die Bildungsforscherin Marlis Krüger von den meisten Germanistik-Professoren in Bonn, Frankfurt und Berlin. „Es ist unglaublich, was wir da erleben“, urteilt der Hamburger Althistoriker Professor Hans Rudolph über den Umgang mit Erstsemestern, „in den letzten Jahren sind die sprachlichen Mängel noch schlimmer geworden. Wir sind geneigt, der Schule die Schuld zu geben.“

Vielen Professoren ist es aber gleichgültig, daß umgekehrt jeder zweite Student von seinem Studium enttäuscht ist. Und sie reagieren allergisch auf den Vorwurf, daß der Studienrat an der Universität schlecht auf seinen Beruf vorbereitet werde. Es stört sie nicht, daß die meisten Studenten, die dieses Berufsziel haben, dieser Meinung sind.

Denn daß Studium und Beruf miteinander nichts zu tun haben, ist noch immer ein Dogma für die meisten Professoren geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Sie wollen noch immer nicht wahrhaben, daß aus den Philosophischen Fakultäten längst Stätten der Lehrerbildung geworden sind.

Zwar lehren an diesen Fakultäten Assyriologen, Ägyptologen, Ethnologen, Indologen und Turkologen. Zwar gibt es Lehrstühle für Historische Landeskunde und für Bayerische Landesgeschichte. Zwar sitzt in manchen Kollegs — etwa denen der Sinologen oder der Japanologen — nur ein Dutzend Hörer dem Professor zu Füßen.

Aber in den wenigen Massenfächern der Philosophischen Fakultäten drängen sich weitaus die meisten Studenten. Allein die Fächer Germanistik, Geschichte und Englisch werden von mehr als der Hälfte der Studenten an den Philosophischen Fakultäten studiert. Acht von zehn Studenten, die diese Fakultäten mit Examen verlassen, werden Studienräte.

Auf diese Entwicklung, obschon sie sich im Laufe von Jahrzehnten vollzogen hat, wollen sich die Professoren der Germanistik und der Anglistik, der Geschichte und der Geographie noch immer nicht einstellen. Sie lehren noch immer so, als sitze ihnen eine weltferne Elite zu Füßen. Sie schaffen sich eine Wunschwelt fern der Wirklichkeit und verteidigen ihre Fiktionen allen Friktionen zum Trotz.

Wie zu den Zeiten Humboldts wird auch heute noch daran festgehalten, daß Latein und Griechisch eine Einheit — die Klassische Philologie — bilden und gleichermaßen gelehrt und erforscht werden müssen, obwohl längst schon kaum noch Gelehrte fähig sind, sich beiden Sprachen und Kulturen im selben Maße zu widmen.

Es beeindruckt die Gelehrten auch nicht, daß die Fächerkombination Latein/Griechisch nur noch von jedem dritten Studenten der Klassischen Philologie gewählt wird. Andere, die sich für Latein entscheiden, nehmen Deutsch oder Geschichte hinzu und nicht Griechisch, das nur an den allmählich aussterbenden humanistischen Gymnasien unterrichtet wird. Wohl Studenten, nicht aber Professoren berücksichtigen überdies, daß Griechisch zu den wenigen Oberschul-Fächern zählt, in denen kein Lehrermangel besteht.

Für die intensiven Bemühungen vieler Professoren, wenigstens Latein-Kenntnisse bei den meisten Akademikern über die Zeitläufe zu retten, müssen viele Studenten ein Semester als Preis zahlen. Denn noch immer beginnt für etliche tausend das Studium damit, daß sie das Große Latinum nachholen müssen. Es wird gegenwärtig (von Sonderregelungen abgesehen) nur noch von den Abiturienten erworben, die mindestens sieben Jahre lang in Latein unterrichtet worden sind. Verlangt wird es aber für das Stadium vieler Fächer der Philosophischen Fakultät.

Wie fragwürdig diese Forderung geworden ist, kann mittlerweile sogar an den Studienplänen abgelesen werden. Für das Fach Englisch beispielsweise, dessen Studium an den meisten Universitäten das Große Latinum voraussetzt, ist in Hamburg nur das Kleine Latinum (fünf Jahre Lateinunterricht) erforderlich, und an der Freien Universität Berlin brauchen überhaupt keine Lateinkenntnisse nachgewiesen zu werden.

Umgekehrt fällt es Hochschullehrern schwer, sich auf neue Entwicklungen in den Schulen einzustellen. So ist das Studium für den Studenten, der später in Gemeinschaftskunde unterrichten soll, noch weniger überschaubar als für künftige Studienräte mit anderen Fächern. Er muß Vorlesungen von Historikern und Politologen, Soziologen und Nationalökonomen hören, die zum Teil über sein künftiges Fach kaum besser orientiert sind als er selber.

In Disziplinen. in denen die künftigen Studienräte nicht die Mehrheit, sondern nur eine Minderheit sind

etwa in den Fächern Physik und Chemie — wird auf ihr Berufsziel ohnehin kaum Rücksicht genommen. Im Gegenteil: Sie werden in ihren Plänen eher erschüttert als bestärkt. denn in fast jeder Hinsicht lockt schon den Studenten die Wirtschaft mehr als die Schule.

Das Studium in den naturwissenschaftlichen Fächern endet mit dem Diplom, das die meisten erwerben wollen, oder mit dem Staatsexamen, das nur für Gymnasiallehrer vorgeschrieben ist. Bis zum Vordiplom aber unterscheidet sich der Studiengang nicht. Folge: Wer das Vordiplom mit guten Noten erwirbt, überlegt sich, ob er nicht lieber auch das Diplom erwerben soll. Denn neben den größeren materiellen Chancen lockt auch ein stärker auf das Fach beschränktes Studium. Nur der künftige Studienrat muß neben Physik oder Chemie noch ein weiteres Fach studieren.

Angesichts dieses Zustandes nimmt es nicht wunder, daß nur etwa jeder vierzehnte Physik-Student und jeder zwölfte Chemie-Student Studienrat werden will. Diese Zahl müßte aber vervielfacht werden, wenn der gegenwärtige Notstand an deutschen Gymnasien behoben werden soll: Ein greller Teil des Unterrichts in den Naturwissenschaften fällt wegen Lehrermangels aus oder wird von Lehrern ohne spezielle Lehrbefähigung erteilt. Und bis 1980, so errechnete die Stiftung Volkswagenwerk“, müßten etwa drei- bis viermal soviel Mathematiker und Naturwissenschaftler wie heute in höheren Schulen tätig sein, „wenn diese Wissenschaften angesichts der wachsenden Schülerzahlen das ihnen zukommende Gewicht haben sollen“.

Welche Folgen andernfalls drohen, deutet Professor Dr. Wolfgang Gentner, Direktor des Heidelberger Max-Planck-Instituts zür Kernphysik, an: „Wenn das so weitergeht, muß man befürchten, daß das Niveau der deutschen Physik deutlich absinken wird.“

Viele Professoren geisteswissenschaftlicher Disziplinen läßt diese Misere in fremden Fächern gleichgültig. Sie ignorieren oft sogar, daß die Zahl der Studienräte auch in ihren eigenen Fächern beträchtlich erhöht werden muß. Offen sagen und schreiben etliche Professoren, was vorsichtigere Kollegen nur insgeheim tuscheln: Am liebsten würden sie die Zahl ihrer Studenten auf ein Elite-Drittel beschränken.

Mehr oder minder freimütig gestehen manche auch ein, daß sie — stände es in ihrer Macht — längst Vergangenes wieder einführen möchten: etwa eine Philosophische Fakultät, die „nicht auf das Bedürfnis des Lebens, sondern rein auf die Kenntnis, auf die Bildung des Gemüts und im Hintergrunde auf die Wissenschaft sehen“ könnte — wie es Wilhelm von Humboldt einst sogar für das Gymnasium wünschte.

Auch diesen Gelehrten, die zur Reform noch immer nicht bereit sind, rückt neuerdings die Revolte in die Seminare. In Berlin war ein Institut für Germanistik zeitweilig besetzt und nach Rosa Luxemburg benannt. Wandlosung: „Wie fatal, im Regal, wo gestern Côte stand, schläft heute Dieter Kunzelmann.“ In Frankfurt und in Hamburg, in Köln und in Tübingen stürmten in den letzten Wochen radikale Studenten Institute für Germanistik und für Geschichte. Eine der Losungen: „Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot.“

Ratlos sind die einen wie die anderen, die Instituts-Chefs wie die Instituts-Stürmer. Weder die Restauration der alten Philosophischen Fakultät, von der noch immer etliche Professoren träumen, noch eine irgendwie geartete Revolution, die Studenten nahe wähnen, bringen an Deutschlands Schulen so viele und so gute Lehrer, wie dort gebraucht werden. Eine radikale Reform in gar manchem Professoren-Haupt und an vielen Hochschul-Gliedern ist vonnöten. Und in einem Fach noch mehr als in allen anderen: in der Germanistik.

Nirgends in den Philosophischen Fakultäten stauen sich die Massen so wie dort: 15 000 Studenten haben sich für dieses Fach eingeschrieben, mehr als für Geschichte, Französisch und Latein zusammen. Jeder vierte Student der Philosophischen Fakultät studiert Germanistik. Es sind heute genauso viele Studenten wie 1949 an allen Fächern dieser Fakultät zusammen.

Dabei ist das Problem, wie diese Massen bewältigt werden sollen, noch nicht einmal das schwierigste. Wie wenige Gelehrte anderer Fächer schleppen die meisten Germanisten ideologische Fracht aus der Vergangenheit mit. Und den Studenten wird eine erdrückende Stoff-Fülle zugemutet.

Exemplarisch läßt sich an diesem Fach überdies zeigen, wie folgenschwer sich fehlendes Selbstverständnis einer Wissenschaft und der Mangel an objektiven Kriterien für Lehre und Forschung negativ auf die Studenten und ihre Berufe auswirken.

Die Germanistik hat sich, wie jüngst der Altgermanist Günther Schweikle. 40, in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Stuttgart rügte, als Wissenschaft vom deutschen Geist zur nationalen Heilslehre hochstilisiert. Schweikle nennt die Germanistik ein „Kind der Romantik, gezeugt aus der Sehnsucht nach einer heilen Welt, die in einer fernen Vergangenheit gesucht wurde, erzogen in der Enge biedermeierlicher Gelehrtenstuben, konfirmiert mit dem Hochmut esoterischer Geistigkeit, die sich ihre Weltfremdheit, ihre Irrationalität … noch zur Ehre anrechnete. Ein anderer Altgermanist, der Karlsruher Peter Wapnewski, verwahrt sich gegen das „Ludwig-Richter-Holzschnitt-Verständnis vom Deutschen“ und gegen die Knusper-Knusper-Knäuschen-Metaphysik vorn deutschen Wesen“, die von Germanistik-Lehrstühlen aus verbreitet wurde und wird.

Was heute von einsichtigen Männern der Zunft wie Schweikle und Wapnewski als Makel empfunden wird, hat viele Jahrzehnte lang den Ruhm dieses Faches ausgemacht. Lobend und nicht tadelnd schrieb 1934 als einer von vielen der Germanist Henning Brinkmann, daß seine Disziplin „aus der Besinnung auf deutsches Wesen“ hervorgegangen sei und sich stets „ehrfürchtig und voll gläubiger Verehrung den Offenbarungen des Volksgeistes“ hingegeben habe.

Ähnlich schrieben und schreiben es seine Fachgenossen zu allen Zeiten, seit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm die Beschäftigung mit Märchen und Sagen, mit Volkssprachen und Volksbräuchen unter der Hand zur Wissenschaft wuchs.

Fast vergessen ist, daß am Anfang diese Wissenschaft durchaus positive Ziele und Wirkungen hatte. Indem sie das Nationale suchten und hervorkehrten, befanden sich die beiden Grimms durchaus im Einklang mit den bürgerlichen Liberalen, deren Kampf sich gegen die Kleinstaaterei richtete. Erst nach dem Scheitern der 1848er Revolution und dem zeitweiligen Rückzug des liberalen Bürgertums aus der Politik endete diese progressive Tendenz der jungen Germanistik. Erst dann wurde sie, so die Kritikerin Marlis Krüger, antisozial, antirational, ahistorisch und antidemokratisch.

Zu keiner Zeit mochten sich die Germanisten damit bescheiden, eine Wissenschaft wie andere zu begründen und nur deutsche Sprache und Literatur zu erforschen. Schon Wilhelm Grimm ging es auch um die „Erkenntnis unseres Altertums, seiner Sprache, seiner Poesie, seines Rechts, seiner Sitte“. Und sein Bruder Jacob definierte den Germanisten „als einen, der sich deutscher Wissenschaft ergibt, und das ist wohl eine schöne Benennung“.

Aus diesen Wurzeln wuchs „eine patriotische Wissenschaft, die früh begann, um die deutschen Dichter einen Mythos zu weben, der sie als Offenbarungen deutschen Wesens verherrlichte“ — so der 1965 verstorbene Baseler Germanist Professor Walter Muschg, der einer der kritischen Außenseiter des Faches war.

Früh schon verstand sich die Wissenschaft vom Deutschen „gleichsam als das Herz der Wissenschaften“ (Rudolf von Raumer 1870). Vorrang vor allen anderen Fächern an der Hochschule wie an der Schule wurde ihr sogar vom Thron aus zugesprochen. Kaiser Wilhelm II.: „Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen … Um den deutschen Aufsatz muß sich alles drehen.“

Stets schöpften die Sprach-Gelehrten ihren Wortschatz aus, wenn es galt, die jeweils herrschenden Deutschen und das Deutsche schlechthin zu verherrlichen.

So forderte Friedrich Gundulf (Professur in Heidelberg) bei Kriegsausbruch 1914 zur „Volkwerdung des deutschen Geistes und zur Geistwerdung des deutschen Volkes“ auf. Als nach dem Kriege aus beiden Werdungen nichts geworden war, spendete der Berliner Germanist Julias Petersen Trost: „Wo können führerlos wir besser leitende Kräfte hernehmen als aus der vaterländischen Geschichte? Wo können wir, verloren in materialistischem Chaos, besser uns selbst finden als im Spiegel der Dichtung?“

Und schon 1922 harrte der Berliner Professor Gustav Roethe der Stunde“, zu der ein „deutscher Führer“ komme der „durch seine machtvolle Persönlichkeit … des Volkes dumpf träumenden nationalen Willen wachrüttelt“.

Früh hofften auch Gelehrte anderer Fächer auf „einen neuen Helden“ (Althistoriker Adolf Schulten 1928). Und 1931 rief der Pädagoge Ernst Krieck in die Flammen der Mitsommernacht: „Heil dem Dritten Reich!“

Aber stets erschallten im nationalen Gelehrten-Chor die Stimmen der Repräsentanten des Faches Deutsch am lautesten. „Gründlicher als die Germanistik“, so urteilt Jung-Germanist Michael Pehlke in einem Mitte September erscheinenden Buch, „hat sich während des Faschismus keine Wissenschaft diskreditiert.“

Kaum ein Germanist blieb damals stumm, und kaum einer verstummte nach dem Ende des Dritten Reiches. Der heute angesehenste Gelehrte der Disziplin etwa, der Bonner Benno von Wiese und Kaiserswaldau, rühmte einst Blunck und Kolbenheyer, weil sie „das überlieferte Wertverhältnis von Ich und Umwelt aus kollektivem Lebens- und Blutzusammenhang heraus gegen Großstadt, Judentum und internationale Bewegung schützen“. …

Die Vergangenheit ihres Faches schweigen die meisten Germanisten tot, und insgeheim setzen sie die Tradition fort. Den „totalen Mangel an Selbstkritik“ nennt der Fach-Kritiker Jürgen Kolbe das „schwerwiegendste Versäumnis“ der Germanistik. Und der Germanist Michael Pehlke meint: „Daß bis heute noch keine umfassende Darstellung der Germanistik unter dem Banner des Faschismus erschienen ist, … provoziert die Ahnung, daß germanistische Methodik und nationalistische Ideologie nur zwei Seiten derselben Münze sind.“

Die meisten Germanisten versuchen noch immer, eine Auseinandersetzung um ihre Wissenschaft und deren Wirkung zu vermeiden. Doch diese Disziplin bedarf dringender noch als andere schon deshalb einer neuen Konzeption, weil nach über hundert Jahren ihrer Wissenschaft sich führende Germanisten noch immer nicht einig sind, was ihr Fach leisten kann und soll….

Subjektiv aber ist vor allem nahezu alles, was Germanisten tun. Es gibt keine Definition einer Epoche und keine Interpretation eines Werkes, die nicht umstritten wären.

Trotz hundertjährigem Germanistenfleiß gibt es kaum eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Ausgabe der Werke eines Dichters, obwohl historisch-kritische Editionen als beste Belege wissenschaftlicher Arbeit gelten.

Gemein ist weitaus den meisten Germanisten eine Scheu vor der Gegenwart. Was nicht vor einem halben Jahrhundert zum erstenmal gedruckt wurde, ist für sie zumeist noch zu frisch und für die Hochschule noch nicht reif. …

Längst hat die Wissenschaft selber Schaden genommen. …

Schwerwiegend… ist die Tatsache, daß im Gegensatz zu anderen Geisteswissenschaftlern selten nur ein Germanist eine Leistung vollbringt, die eine neue fachliche Entwicklung einleitet. Obwohl es fast so viele Lehrmeinungen wie Lehrstühle gibt, kommt es so gut wie nie zu einem grundsätzlichen Meinungsstreit.

Die Belebung dieser Disziplin begann denn auch nicht in der Bundesrepublik. sondern in der DDR. Dort wurde eine moderne Linguistik erarbeitet, die nicht mehr historisch orientiert ist und die den nationalen Rahmen sprengt…

„Auf die Frage, „ist die Germanistik noch zu retten?‘ „kann man, wenn man die derzeitige Lage kennt, getrost mit nein antworten.“ denn: „wenn ich als praktizierender Deutschlehrer auf das Studium der Germanistik zurückblicke und meine tägliche Arbeit daran messe, was mir dieses dafür mitgegeben hat, dann muß ich bekennen, daß das so gut wie nichts gewesen ist.“

Fischer: „Hätte ich nicht in meiner zeit als Gymnasiast einige gute Deutschlehrer gehabt, von denen ich zumindest die Anwendung der Muttersprache gelernt hatte, ich könnte heute noch nicht recht bestehen, denn wir lehren ja an der Schule völlig andere Bereiche der Muttersprache, als uns die Professoren vorgetragen haben:

* nie haben wir etwas von der Didaktik unseres Faches erfahren,

* nichts über die Möglichkeiten und Wege, den Jungen die Muttersprache bewußt werden zu lassen,

* nichts von Stilkunde und -lehre und

* nie haben wir einen wirklichen Aufsatz als Klausur geschrieben. Keinem wurde einmal nur vorgestellt, wie man die wichtigsten Darstellungselemente erkennt und verwendet, wie gegliederte Gedanken in ein gültiges Argumentationsschema gefaßt und dargeboten werden, wie Begriffe, Gedichte, Prosastücke elementar erkannt und interpretiert werden könnten, wie eine Schilderung, eine Erzählung, ein Essay gelehrt und gestaltet werden kann.“

Folglich klagt Schulpraktiker Fischer: „Das alles und vieles mehr mußte erst im aufreibenden Dienst von 24 Wochenstunden nachgeholt und im Selbststudium erarbeitet werden.“

Freilich wäre es ungerecht, aus der mangelhaften Vorbereitung der künftigen Studienräte auf ihren Lehrerberuf zu schließen, daß sie allesamt oder größtenteils ihren Aufgaben nicht gerecht werden. Darüber ist ein Pauschalurteil schon deshalb nicht erlaubt, weil „niemand etwas Verläßliches darüber weiß, was im Gymnasialunterricht tatsächlich vorgeht“ (Horst Rumpf, früher selbst Studienrat, heute Lehrbeauftragter an der Universität Konstanz).

Doch so sicher es ist, daß ein großer Teil der deutschen Studienräte in seinem Beruf Hervorragendes leistet, so sicher ist es auch: Ein anderer großer Teil leidet daran oder läßt seine Schüler darunter leiden, daß Studium und Beruf, Hochschule und Schule zwei verschiedene Welten sind.

Um diesen Mißstand zu beseitigen, ist es Hauptaufgabe jedes Faches künftiger Lehrer, „das Verhältnis zwischen „reiner‘ Wissenschaft und den Anforderungen einer Berufsausbildung für die Studenten zu überdenken“ — so Marlis Krüger.

Statt daß aber die Wissenschaft in den Dienst der Berufsausbildung gestellt wird, verläuft die Entwicklung eher umgekehrt: Was sich im Laufe des Studiums auf den Beruf beziehen könnte, wird zunehmend in weltferne Wissenschaft verwandelt.

Ob das Philosophicum einen Wert für die Praxis erhält, ist ungewiß. In dieser Prüfung für angehende Studienräte in der Mitte oder gegen Ende des Studiums müssen Kenntnisse der Philosophie und der Pädagogik nachgewiesen werden. Angelegt ist sie eher als ein Test der Allgemeinbildung, bei dem es um Heraklit, Rousseau oder Nietzsche und nicht um Schultest, Frühbegabung oder Gesamtschule geht.

Und zusehends schulfremder wird sogar das „pädagogische Begleitstudium“, das erst vor kurzer Zeit eingeführt wurde. Es sollte vor allem „didaktisch-methodische Fragestellungen“ behandeln. In vielen Universitäten aber werden — so der Bochumer Pädagoge Knoll — „ein Wust von Geschichte der Pädagogik und historische Exerzitien mit Schleiermacher, Pestalozzi und Herbart“ geboten.

Themen-Beispiele aus dem Sommersemester 1969: “ Zur Geschichte des deutschen Schulwesens: Bürgerrecht und Bildung im 18. Jahrhundert“, „Die Erziehungstheorie John Deweys“, „Didaktische Vorschläge der deutschen Schulreform (ca. 1900 bis 1920)“.

Bildungsforscher, die das Angebot an Didaktik in den Studiengängen für künftige Studienräte jüngst durchzählten, kamen zu erschreckenden Zahlen (für das Sommersemester 1967): Der Anteil an didaktischen Veranstaltungen betrug in Mathematik 2,7, in den Naturwissenschaften und in den philologischen Disziplinen 0,2, in Geschichte, Politologie und Geographie 0,4 Prozent des Programms. Schlußfolgerung in einem Gutachten: „In den Fachwissenschaften, die in gewissem Sinne Schulunterrichtsfächern entsprechen, … (wird) die Funktion der Didaktik, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weder als Aufgabe der Forschung noch der Lehre erkannt, anerkannt und berücksichtigt.“

Hinzu kommt, daß der rasche Wandel in der Gesellschaft sich gerade auf den Beruf des Studienrats ausgewirkt hat. Noch vor wenigen Jahren galt er als „gesitteter Bürger“, der „die Ehrfurcht vor den Werten unserer überlieferten Kultur, vor Christentum und Humanismus, vor Wissenschaft und Kunst, vor Gesetz und Demokratie Schülern einpflanzen soll“; so beschreibt der Konstanzer Lehrbeauftragte Horst Rumpf das Bild des Studienrats. Doch je mehr Ehrfurcht, Bürgerstolz und alte Wert-Begriffe schwanden, um so tiefer rutschte für viele der Studienrat in der Prestige-Skala.

Freilich: Es ist nicht nur die Misere der heutigen deutschen Schulen, die vielen Studienräten Beruf und Arbeit verleiden. Es Ist oft auch die Nachwirkung des Studiums, das sie ihrem Beruf eher entfremdet als zugeführt hat.

Und manchen Studienräten graust es vor der Schule der Zukunft, wie sie von den Bildungspolitikern entworfen wird. Wer an diesen neuen Schulen lehren will, wird seinen Lehrerberuf ganz anders lernen müssen als es heute geschieht.

04.08.1969

„Mit dem Latein am Ende“

6. Fortsetzung

Der Professor: „Wir bewegen uns zwischen Zirkeln, Leerformeln, Alibis und Tabus. Juristen heute durchschauen weder ihre Eigenwelt noch „ihre Umwelt. Sie wissen buchstäblich nicht, was sie tun“ (Rudolf Wiethölter, Ordinarius für Bürgerliches Recht in Frankfurt).

Der Richter: „Es wird auch dem wohlwollendsten Betrachter deutlich, daß die juristische Ausbildung mitten in einer Strukturkrise steckt, die sich mit jedem Jahr verschärfen muß, in dem ihr nicht abgeholfen wird“ (Rudolf Wassermann, Landgerichtspräsident in Frankfurt).

Der Student: „Ihr habt jetzt das Studium der Rechtswissenschaft mit der gleichen Ahnungslosigkeit begonnen wie die Generationen vor euch. Und in ein paar Semestern werdet ihr vor lauter Paragraphen die Fragen nach Inhalt, Funktion, Methodik schon gar nicht mehr stellen. Auf diese Weise werdet ihr mit einiger Sicherheit gute und brave Juristen — gut im Sinne alter deutscher Juristentradition, das heißt staatsdienernd und staatserhaltend, das Vorgestern mit allen Mitteln und gesetzesinterpretatorischen Winkelzügen gegen das Morgen verteidigend, als Apostel der Statik und Feind jeder Dynamik“ (Aufruf des Berliner Jurastudenten Christopher Hein „An alle Erstsemester“).

Worin dieser Professor, dieser Richter und dieser Student übereinstimmen, macht die Erfahrung im Umgang mit Justiz und Verwaltung seit langem deutlich: Die Ausbildung von Juristen in Deutschland taugt nicht für das Ziel. dem sie dienen soll — Recht zu gewährleisten. Nur 24 Prozent der Bevölkerung waren bei einer Meinungsumfrage davon überzeugt, die meisten Richter seien aufgeschlossen und fortschrittlich und zeigten Verständnis für die Probleme der Zeit. Und „Vertrauensschwund“ — so urteilt der frühere Bundesverfassungsrichter Zweigert — „ist der erste Schritt zur Justizkrise“.

Doch was an deutschen Hochschulen, Gerichten, Behörden und Kanzleien — während eines Studiums von mindestens sieben Semestern und der sich anschließenden Referendarausbildung von zweieinhalb Jahren — heute als Krise der Juristenausbildung täglich aufs neue sichtbar wird, ist in Wahrheit nur Reflex jahrhundertealter Fehlentwicklung einer Wissenschaft, der Wertfreiheit als höchster Wert galt und die über der Pflege solchen Wissenschaftsideals die Funktionen von Recht in der Gesellschaft aus dem Blick verloren hat.

So leistet Rechtswissenschaft noch heute im wesentlichen nur Selbstbespiegelung ihrer Begriffsnomenklatur und vermittelt Jurastudenten die Illusion vom Recht als einem sich selbst genügenden Maßstab, mit dem sich gesellschaftliche Konflikte um so besser ausmessen lassen, je abstrakter die Sprache der Gesetze ist.

„Nach wie vor“, so meint der Gießener Jura-Professor Thilo Ramm, „werden Rechtstechniker und Kadijuristen ausgebildet.“ Und Fachkollege Helmut Ridder registriert einzig einen vermehrten Ausstoß von unkritisch stets um gefällige Patentlösungen beflissenen juristischen Fachidioten“.

Zwar ist es nicht nur Postulat radikaler Studenten oder Evidenz des juristischen Alltags, sondern Allgemeingut der rechtswissenschaftlichen Fakultäten, daß den Mängeln der juristischen Ausbildung abgeholfen werden müsse. Und nur für Karl August Bettermann, Rechtsaußen unter den deutschen Staatsrechtslehrern, ist fast alles noch im Lot: „Wenn die Studenten dieselben geblieben wären, brauchten wir nichts zu ändern.

Doch wo immer geändert wird — bislang bleibt es Korrektur an Randerscheinungen. Flickwerk statt Erneuerung. Und wo wie in Berlin die Freiheit der Lehre an der juristischen Fakultät seit Monaten vom Polizeischutz abhängt, wo bis auf einen alle Eingänge zum Fakultätsgebäude verschlossen sind und Polizeibeamte bei der Ausweiskontrolle nur noch Jurastudenten passieren lassen, da hat die Isolation der deutschen Rechtswissenschaft inzwischen ihr Symbol gefunden. FU-Dekan Pleyer: „Polizei an den Türen ist sicher ein Symptom dafür, daß man nur an den Symptomen korrigiert.

Nicht korrigiert hingegen ist bis heute jenes unpolitische Selbstverständnis von Recht, das den jungen Juristen hilflos läßt gegenüber Erkenntnissen und Wandlungen einer modernen Gesellschaft, auf die er gerade durch das Recht gestaltend einwirken könnte. Für den Frankfurter Landgerichtspräsidenten Rudolf Wassermann ist es „ein unhaltbarer Zustand, wenn derselbe Jurist, von dem man eines Tages in der Praxis erwartet, daß er das Recht auf wissenschaftlicher Basis interpretiert, seine Kenntnis der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung nur einem vorwissenschaftlichen Verständnis entnimmt“.

Unbeholfene Juristen und weltfremde Urteile bilden freilich nicht die einzigen Perspektiven solcher Ausbildungsmängel. Schwerer noch wiegt die Gefahr einer weitgehend in positivistischem Denken befangene Wissenschaft — eine Wissenschaft also, die für selbstverständlich hält, daß das gesetzte (positive) Recht auch für die Gerechtigkeit hinreiche — könne ein weiteres Mal anfällig sein für den Mißbrauch durch staatliche Autorität.

Die Überlebenskraft überholten Rechts, das sich im Dritten Reich fast widerstandslos dem Zugriff derer auslieferte, die sich rücksichtslos und planmäßig über das kunstvoll errichtete Normengebäude hinwegsetzten, scheint Wiethölter „ans Wunderbare zu grenzen — angesichts von Urteilen etwa wie jenem, das der Berliner Schwurgerichtsvorsitzende Ernst-Jürgen Oske (Jahrgang 1926) im Falle Rehse fällte, als er Unrecht für Recht hielt, weil es Gesetz war; er sprach den früheren Freisler-Beisitzer Rehse mit einer perfekt positivistischen Begründung frei und konnte noch „vollkommen überrascht“ darüber sein welche Empörung gerade diese Begründung weckte.

Der getrübte Blick für die gesellschaftliche Wirklichkeit ist, wie in anderen Disziplinen auch, unmittelbare Folge jener Selbstisolierung der Wissenschaft, die stets als gute deutsche Gelehrtentradition galt — schon seit Friedrich Carl von Savigny und seine Jünger Anfang des letzten Jahrhunderts sich in das Studium des römischen Rechts versenkten und ihrer Zeit den „Beruf zur Gesetzgebung“ absprachen. Mit anderen Worten: Die deutschen Juristen verzichteten darauf, auf die Weiterentwicklung des Rechts Einfluß zu nehmen; das überließen sie den staatlichen Autoritäten, die es ihrerseits fortan leicht hatten, die Justiz für ihre Interessen in Dienst zu nehmen.

Und was nach den Worten des Göttinger Rechtshistorikers Franz Wieacker für die Mitte letzten Jahrhunderts zutraf, gilt für die deutsche Justiz im Kern noch heute: „Entfremdung der Rechtswissenschaft von der gesellschaftlichen, politischen und moralischen Wirklichkeit des Rechts“ — Sieg des „Formalismus“.

Es war der schalkäugige Kommunarde Fritz Teufel, der mit provozierendem Ungehorsam diese Diskrepanz gerichtsnotorisch machte. Sein Beitrag zur „Strafprozeßunordnung“ gehört ebenso zur Anti-Justiz-Kampagne der radikalen Linken wie der Ablaß des Kotouriers Karl-Heinz Pawla vor einem Berliner Schöffengericht und der Busen-Strip junger SDS-Mädchen, die im Hamburger Amtsgericht eine „Ballade von den asexuellen Richtern“ sangen, studentische Sit-ins in Gerichtssälen ebenso wie Proteste gegen die Rechtsfindung nach veralteten Strafrechtsparagraphen über Auflauf und Landfrieden.

„Wir haben die Erfahrung gemacht. so der Jurastudent Christopher Hein in Berlin, „daß wohl kein Studienfach so stark die Gefahr der Anpassung und Integration, der Kritiklosigkeit und damit letztlich der Wissenschaftslosigkeit impliziert wie eben das Studium der Rechtswissenschaft.

Und Jürgen Baumann, reformfreudiger Professur in Tübingen: „Wie können wir die Wirkung einer Rechtsnorm in der modernen Industriegesellschaft kritisch reflektieren, wenn wir von dieser Industriegesellschaft, ihren … Voraussetzungen, ihren Strukturen. ihren Sozialwirkungen usw. nicht die leiseste Vorstellung haben“

In der Tat: Der angehende Jurist, der sich eines Tages womöglich mit raffinierten Wirtschaftsverbrechen befassen muß, vernimmt an der Hochschule nichts Wesentliches aus Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft. Psychologische Grundkenntnisse bleiben ihm, der eines Tages über aus der Bahn geworfene Mitbürger urteilen soll, grundsätzlich vorenthalten.

Kriminologie, Jugendstrafrecht oder Europa recht stehen nicht auf dem Pflichtprogramm und werden vom Gros der Studenten ausgespart. Doch haben sie Gelegenheit, ihr Rechtsverständnis für die Berufswirklichkeit zu entwickeln in einer „Übung zum Vermögensrecht im alten Ägypten und Vorderasien“ (Tübingen) oder in einem „Seminar über Rechtsarchäologie, Rechtssymbolik und Rechtstopographie insbesondere Bayerns“ (Würzburg).

Deutsche Jurastudenten erfahren alles über den Unterschied zwischen „relativer und schwebender Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften“, aber sie erfahren wenig oder gar nichts darüber, inwieweit privates Eigentum – wie es das Grundgesetz will – „dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ soll.

Was nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch als „sittenwidrig“ zu gelten hat, erläutert ihnen in Tübingen Professor Dieter Medicus am Beispiel der Prostitution und sagt ihnen auch, warum das so ist: „Das sind im wesentlichen Perversionen.“ Ob es aber auch — oder nicht viel eher — sittenwidrig ist, wenn Hausbesitzer es ablehnen, Ehepaaren mit kleinen Kindern eine Wohnung zu vermieten, ist für deutsche Universitäten kein Problem.

Jurastudenten hören in Deutschland viel über den Grundsatz der Vertragsfreiheit, aber nichts über die sozialen Abhängigkeiten, die diese Freiheit für viele illusorisch machen — etwa für den Arbeitnehmer, der allenfalls über den Abschluß eines Arbeitsvertrages frei bestimmen kann, kaum aber über die Modalitäten.

Sie erfahren alles über den jahrzehntealten Theorienstreit bei der Abgrenzung von Mord und Totschlag oder von Diebstahl und Unterschlagung, aber sie hören während des ganzen Studiums so gut wie nichts über die Kriterien der Strafzumessung, der Beweiswürdigung und die Rolle von Gutachtern vor Gericht.

Und es ist bezeichnend, „daß das Studium damit beginnt, daß der Studienanfänger die schwierigsten, abstrakten Teile des Lehrstoffs bewältigen muß — den Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Rechts etwa oder den Allgemeinen Teil des Strafrechts, in dem so komplizierte und umstrittene Rechtsfragen wie die Abgrenzung von „Tatbestands-, Verbots- und Subsumtionsirrtum“ erörtert werden.

Und nirgends präsentiert die Universität dem Studenten das Fachwissen anders als in kunstvoll voneinander isolierten Rechtsgebieten mit jeweils eigener Systematik — unter Mißachtung jeden Sachzusammenhangs. Eine Vorlesung etwa, die unter dem Thema „Der Verkehrsunfall“ alle damit zusammenhängenden Fragen aus Strafrecht, Zivilrecht, Arbeitsrecht und Versicherungsrecht behandelt, wird dem Studenten an keiner juristischen Fakultät in Deutschland geboten.

„Der Jurist“ — so zeichnet der frühere Bundesverfassungsrichter Zweigert die Konsequenz solch schematisierter Ausbildung -, „der nur an der Systematik der Gesetzbücher, an der von der Rechtswissenschaft entwickelten, bis zum intellektuellen Spiel vorgetriebenen Dogmatik und an den Methoden der Interpretation geschult ist, dieser Jurist sieht nicht mehr als einen schmalen Ausschnitt der Welt …“

Doch sorgen in der Regel schon die unzureichenden äußeren Bedingungen dafür, daß sich beim Studenten nicht zu viel Selbstbewußtsein entfaltet — etwa wenn, wie in Bochum, für 300 Teilnehmer einer Strafrechts-Übungsarbeit nur zehn neuere Strafrechtskommentare zur Verfügung stehen, wenn sich die Studenten einer Anfänger- und einer Fortgeschrittenen-Übung im Bürgerlichen Recht die wenigen Exemplare des „Palandt“-Kommentars nur jeweils für eine Stunde sichern, ein eigenes Exemplar Indessen nicht kaufen können, weil es 78 Mark kostet.

Doch selbst jener Jurastudent, der – wenn es ihn gibt – seine Arbeiten gewissenhaft und allein schreibt, der das Ergebnis seiner Fallaufgabe nicht davon abhängig macht, was die Mehrheit juristischer Fachkommentatoren zu Papier „gebracht hat und sich im Schrifttum gegen die „herrschende Meinung“ entscheidet, leistet im Hinblick auf seine spätere Praxis nutzlose Arbeit und bestätigt nach Ansicht des Berliner „Juristen Blatt“, einer Publikation linker Jurastudenten, nur die liberale Wissenschaftsfarce“.

Denn: „Sollte es ihm als Anwalt, Richter oder Staatsanwalt einfallen, sich zum Beispiel für eine Straflosigkeit des Versuchs der Abtreibung mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt zu entscheiden, so darf er ein entsprechendes Urteil von vornherein in den Wind schreiben — spätestens in der nächsten Instanz.

Unter diesen Umständen reduzieren sich die Ambitionen des deutschen Jura-Studenten in aller Regel auf den Wunsch, durchs Examen zu kommen — und selbst das muß er ohne die Universität bewerkstelligen. Nicht die Hochschule bereitet die Studenten auf das Examen vor, sondern eine private Instanz: der Repetitor.

Kaum ein anderer Umstand unterstreicht den Defekt des überkommenen Ausbildungssystems augenfälliger als der studentische Zulauf, der den Repetitoren in fast allen Universitätsstädten einen Einkommensstandard gewährleistet, den Jura-Professoren nie erreichen.

Solange die Universitäten für den Zustrom sorgen, ficht es die Repetitoren nicht an, davon zu leben, daß andere versagen … Hier sind Tausende von Menschen durchgegangen“, erinnert sich der Berliner Rechtsanwalt Mäder (Repetitor seit 1932), „viele der heutigen Richter und Staatsanwälte kenne ich, die haben alle einmal hier gesessen.“

Sie pochen auf die Anciennität des Gewerbes („Schon Bismarck war beim Repetitor“), und jedes gute Examen ihrer Schützlinge empfiehlt sie weiter. Ein Münchner Richter: „Man kann mit Repetitor Rottmann beide Staatsprüfungen ablegen, ohne je eine Vorlesung gehört zu haben.“

„Für viele unbemerkt, hat sich mancherorts zwischen Rechtswissenschaft und praktische Rechtspraxis eine das dogmatische Wissen von gestern als Erkenntnisbasis absolutierende theoretische Rechtspraxis geschoben, die weder Wissenschaft noch Praxis ist, sondern in unaufgeschlossen-unkritischer und unpraktischer Haltung das „ewig Gestrige“ für die Referendare immer erneut zum Ereignis“ werden läßt.“

So werden Juristen ausgebildet, die wenige Jahre später über menschliche Schicksale entscheiden müssen und denen auch in allen nichtrichterlichen Berufen im sozialen Rechtsstaat zunehmend mehr Verantwortung zuwächst.

Verständnis für quantitative Sorgen freilich vermag qualitative Mißgriffe und Unzulänglichkeiten unter den Ausbildern nicht zu überdecken. So weigerte sich unlängst der Präsident des Berliner Kammergerichts von Drenkmann, den Kammergerichtsrat Oske von seinem Amt als Arbeitsgemeinschaftsleiter abzulösen, der in seinem Rehse-Freispruch die Bluturteile des Volksgerichtshofs mit dem Argument gerechtfertigt hatte, „es ging damals darum, in einer schweren Krise den Bestand des Reiches zu sichern“.

… Berliner Referendare weigerten sich, von Oske weiter ausgebildet zu werden, und der Referendarausschuß beim Oberlandesgericht Hamburg schrieb an Drenkmann: „Wir sind der Ansicht, daß Ausbilder, an deren Verständnis der Rechtsordnung berechtigte Kritik geübt worden ist, für die Ausbildung untragbar sind. Wir halten Ihr Vorgehen, autoritär über Angelegenheiten zu entscheiden, in denen die Auszubildenden ein Mitspracherecht haben müssen, für unvereinbar mit den Grundvorstellungen einer demokratischen Gesellschaft.“

Solcher Mangel an demokratischem Bewußtsein in der deutschen Richterschaft, der vornehmlich die Ausbildung des juristischen Nachwuchses anvertraut ist, hemmt letztlich mehr denn technische Beschwernisse und fehlleitende Ausbildungsordnungen eine sinnvolle Heranbildung junger Juristen.

Die Hälfte aller Oberlandesrichter entstammen Beamtenfamilien, 56 Prozent aller Richter am Bundesgerichtshof und 63 Prozent aller Präsidenten und Senatspräsidenten der Bundesgerichte. Es ist eine Beamten-Elite ohne Nachwuchsproblem. Denn auch die Jurastudenten rekrutieren sich zu einem höheren Prozentsatz aus Beamtenfamilien als im Durchschnitt die Studenten aller anderen Fakultäten.

So erziehen in einem permanenten Akt juristischer Inzucht alte Richter junge Referendare im alten Geist.“ So scheint das deutsche Recht schon allein durch die Rekrutierung seiner Diener In mehrfacher Hinsicht von der sozialen Wirklichkeit der modernen, durch technische, wirtschaftliche und soziale Dynamik gekennzeichneten Gesellschaft distanziert und einer ideologischen Verallgemeinerung des „staatstragenden‘, das heißt auf Autorität und Ordnung ausgerichteten Selbstverständnisses der Juristen ausgeliefert zu sein“ — so die Soziologen René König und Wolfgang Kaupen.

„Ein „nützlicher Jurist‘ das wäre doch wohl ein Mann“, beleuchtet Professor Wiethölter solches Berufsethos, „der gar nichts weiß und alles kann: der Mann, der eben buchstäblich zu allem fähig ist.

Bis heute ist sinnvolle Reform der Juristenausbildung freilich nur Idee, die Misere aber tägliche Wirklichkeit. „Das wichtigste Reservoir der deutschen Elite“ — so eine Dahrendorf-Analyse des Juristenstandes — „ist nach Herkunft, Ausbildung, Stellung und Verhalten für die Verfassung der Freiheit nicht vorbereitet.“

Dieser Mangel macht unsicher. Die Frage nach einem erneuerten Selbstverständnis der Rechtsordnung ist gestellt, aber nicht beantwortet. Solange die Antwort ausbleibt, wird das eine Reform der Juristenausbildung eher hemmen als beflügeln.

Und so lange wird gelten, was Rudolf Wiethölter für die Gegenwart formuliert: „Von Juristen ist keine Veränderung der Gesellschaft zu „befürchten. Die Gesellschaft stabilisiert umgekehrt den Status quo vor allem mittels des Rechts und der Juristen.“

11.08.1969

Mit dem Latein am Ende

7. Fortsetzung

Das Mädchen Petra, acht Jahre alt, stand abseits auf dem Schulhof und schluckte; das Pausenbrot wollte nicht rutschen.

Die Mitschülerinnen liefen an dem Mädchen vorbei und hänselten: „Petra Guck-in-die-Luft!“

Tatsächlich: Selbst wenn die Lehrerin leichteste Fragen stellte, saß Petra zitternd da, rollte die Augen himmelwärts und schwieg; bei Klassenarbeiten sah sie aus dem Fenster.

Die Lehrer rügten die „Frechheit“ des Kindes und meinten, es solle sich gefälligst anstrengen. Vater und Mutter waren ratlos; so etwas hatte es in der Familie bislang nicht gegeben.

Petra wurde immer unsicherer, blieb ein paarmal sitzen, fand keinen Kontakt mehr zu Gleichaltrigen, fing an, mal über Kopfschmerz, mal über Appetitlosigkeit zu klagen. Der Hausarzt verschrieb Gelonida und so.

Dann, eines Tages, kam es zur Katastrophe: Das Mädchen, inzwischen 16, klappte auf der Straße zusammen und mußte ins Krankenhaus geschafft werden. Befund: Magengeschwür.

Es war einer jener Fälle, wie sie — so oder ähnlich — „auch bei uns zu Dutzenden vorkommen“, so der Gießener Psychotherapeut Professor Horst-Eberhard Richter.

Denn nach übereinstimmender Lehrmeinung von Psychotherapeuten und Psychologen liegen die Wurzeln vieler Krankheiten in Kindheitskonflikten, die unbewältigt und ungelöst bleiben, weil weder Schule noch Elternhaus, geschweige denn die meisten Ärzte die richtige Diagnose stellen können.

Psychoanalytiker Richter: „Kaum auszudenken, was alles an seelischen Erkrankungen, an Verwahrlosung und Kriminalität vermieden werden könnte, wenn die Chancen für psychohygienische Maßnahmen im Kindesalter endlich konsequenter genutzt werden würden.“

Freilich sind die Chancen, von denen Richter spricht, gering. In der ganzen Bundesrepublik gibt es kaum mehr als 120 sogenannte Schulpsychologen (einen für je 50 000 Schüler), deren Aufgabe es ist, seelische Verspannungen aufzudecken, die zunächst nur die schulischen Leistungen eines Kindes blockieren, später aber oft schwere Krankheiten verursachen.

Ebenso rar sind allerdings die vollausgebildeten Psychotherapeuten, die auf solche seelisch verursachten Leiden spezialisiert sind: 500 in der Bundesrepublik.

Im Land, wo die Gemütlichkeit erfunden wurde, hat das Gemüt eher lyrischen Wert, kaum wissenschaftlichen. Sowohl die

* Psychologen, die sich, so Psychologe Hans Jürgen Eysenck, „mit dem wissenschaftlichen Studium des menschlichen Verhaltens“ befassen. als auch die

* Psychotherapeuten, die seelische oder seelisch bedingte Störungen behandeln,

genießen nur geringe wissenschaftliche Reputation. Die Psychologen gelten meist als Wissenschafts-Hiwis, als „Zusatzkiki“, wie eine niedersächsische Erziehungsberaterin empfand. Und ein Psychotherapeut gar erscheint den meisten Laien, aber auch vielen Arztkollegen immer noch als nicht ganz ernst zu nehmender „Zauberer, der die Tauben aus dem Zylinder holt“, so der Frankfurter Psychotherapeut Alexander Mitscherlich.

Dabei leiden mindestens ein Drittel der zwölf Millionen Bundesdeutschen. die Jahr für Jahr in den Wartezimmern ihrer Ärzte sitzen, an Beschwerden, die ihre Ursache in seelischen Spannungen, Erregungen und Ängsten haben. Doch die Praktiker in den Sprechzimmern achten meist nicht darauf, tasten nach Leber und Galle, lassen sich die Zunge herausstrecken und rezeptieren die jeweils letzten Produkte der pharmazeutischen Industrie. Denn von der Psyche haben sie auf der Universität allenfalls läuten hören.

Als „eine Schande“ bezeichnete es der Heidelberger Mediziner Hans Schäfer, daß im fünfsemestrigen von klinischen Studium allenfalls während eines Semesters Psychologie gelesen wird, und dann auch höchstens zwei Wochenstunden — obwohl die Psyche des Menschen bei Erkrankungen „heute eine größere Rolle spielt als die naturwissenschaftlichen Faktoren“. Schäfer: „Hier wird in grotesker Weise der Schwerpunkt vertauscht.“

„Der Versuch, Stimmung und Leistungsbewußtsein großer Bevölkerungsteile mit chemischen Mitteln dem … Leitbild von fitness und Sorglosigkeit anzupassen, findet immer mehr und eher Zustimmung als die Mühe, die es kostet, mit Mitteln der Psychotherapie Arbeits- und Genußfähigkeit wiederherzustellen“, schrieb ein kritisches Autorenkollektiv zum 60. Geburtstag von Alexander Mitscherlich; Kapitel-Überschrift: „Medizin ohne Kenntnis der Phantasie ist Veterinärmedizin.“

Findet ein so „tierärztlich“ behandelter seelenkranker Mensch schließlich doch den Weg zum Psychotherapeuten, dann ist sein Leiden oft so chronisch geworden, daß er wegen der geringen Chance auf Heilung nicht angenommen wird. Das „Zentralinstitut für psychogene Erkrankungen der AOK Berlin“ etwa weist 30 Prozent der Anmeldungen aus diesem Grund zurück. Und wer angenommen wird, muß an diesem Institut mitunter zwei Jahre warten, ehe die Behandlung beginnt.

Das ist eine der Folgen davon, daß an den westdeutschen Universitäten kaum Psychotherapeuten ausgebildet werden: Nur an fünf Provinz-Hochschulen gibt es schon den bereits 1964 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für jede Medizinische Fakultät geforderten Lehrstuhl für Medizinische Psychologie oder für Psychotherapie. In Frankfurt und München gibt es zwar seit kurzem Institute, an denen Psychoanalyse gelehrt wird, aber sie sind bei den Philosophen, nicht bei den Medizinern untergebracht — bezeichnenderweise. „Die wollen von uns nichts wissen, die lassen uns nicht „ran“, klagt ein freischaffender Münchner Psychoanalytiker.

Selbst bei der Facharztausbildung zum Psychiater, also zum Facharzt für Gemütsleiden, ist der Mediziner, was Psychologie, Soziologie und Psychotherapie betritt, „auf den Zufall angewiesen“, so Paul Matussek, 50, Leiter der Forschungsstelle für Psychopathologie und Psychotherapie in der Max-Planck-Gesellschaft, München — also darauf, was an der jeweiligen Ausbildungsklinik an psychotherapeutischen Methoden vielleicht gerade akzeptiert und praktiziert wird.

Erste Zeichen der Anerkennung, die der Psychotherapie so endlich zuteil werden könnte, gibt es schon: Die Allgemeinen Ortskrankenkassen haben kürzlich auch psychotherapeutische Leistungen einschließlich der „großen Psychotherapie“. der Psychoanalyse, weitgehend erstattungsfähig gemacht.

Noch gibt es freilich auch Hinweise für das Bemühen der Universitäten, der Psychotherapie keinen Raum zu geben. An der Frankfurter Universität war ein Lehrstuhl für Psychotherapie jahrelang unbesetzt und wurde schließlich dem Fach Geschichte der Neurologie zugeschlagen. Auch in Berlin wurde ein psychotherapeutischer Lehrstuhl zweckentfremdet.

Selbst Psychologie hat in Deutschland ursprünglich die Tradition von Psychophysik, wo es nicht so darauf ankommt, Menschen zu verstehen, als ihren seelischen Apparat zu vermessen. Und auch das Kredo deutscher Psychiater hat immer noch zum Inhalt, daß Geisteskrankheiten nichts mit der Seele zu tun haben, sondern organisch bedingt und erblich sind.

Psychotherapeut Richter fand, daß vor allem „die seelisch bedingten dissozialen Verhaltensstörungen … für gewisse, namentlich ältere Gruppen unserer Gesellschaft noch immer in die Kategorie der durch Maßregelung zu unterdrückenden Unarten fallen, beileibe nicht in die Kategorie behandlungsbedürftiger Gesundheitsstörungen“.

Die Kultusministerien zögern angesichts des Geldgeschreis der vorhandenen Fakultäten und Fachrichtungen, noch weitere Fächer einzurichten, und an den Medizinischen Fakultäten, deren Aufgabe es wäre, Lehrstühle für Medizinische Psychologie zu fordern, ist neben alten Anti-Freud-Vorurteilen das Argument — laut Richter- zu hören: „Bis jetzt haben wir Glück, daß unsere Studenten friedlich sind. Wenn wir die Psychologische Medizin fördern, ziehen wir die unruhigen Köpfe in unsere Fakultät hinein.“

Bei dem liberalen Richter in Gießen sitzen die unruhigen Köpfe schon drin: Sie geben — wie auch anderswo — zu bedenken, ob man nicht „statt langwieriger psychoanalytischer Einzelbehandlung lieber die Gesellschaft ändern“ solle. Sie verdächtigen die Psychotherapie des Konformismus, meinen, sie wolle das Individuum dem herrschenden Leistungsprinzip gefügiger machen, statt ihm größere Kritikfähigkeit zu vermitteln und „den Schein von Unentrinnbarkeit zu zerstören, mit dem Unterdrückung und Ausbeutung sich umkleiden“ — so das Autorenkollektiv zum Geburtstag Mitscherlichs.

Tatsächlich haben die Psychotherapeuten, mit starrem Blick auf ihren Altmeister Sigmund Freud, in der Vergangenheit oft die sozialpsychologischen Komponenten von Verhaltensstörungen übersehen. „Berufsmäßig introvertiert“ (Richter), konzentrierten sie sich ganz auf die innere, „psychische Realität“ (Freud) ihrer Patienten und meinten mit dem Vater der Psychoanalyse, die psychotherapeutische Bemühung habe vor der äußeren, sozialen Welt, der „materiellen Realität“, halt zu machen.

Für sozialpsychologische Fragestellungen — etwa „die Abhängigkeit individueller Neurosen von Konflikten in der Familie und übergreifenden gesellschaftlichen Strukturen — hatte die Psychoanalyse, gerade wegen ihrer jahrzehntelangen Verhöhnung in Deutschland, zunächst wenig Verständnis. Erst neuerdings wird „die Tür des elfenbeinernen Turms ein wenig geöffnet“, so Psychiater Matussek.

Die analytische Gruppentherapie, in angelsächsischen Ländern bereits erfolgreich erprobt und von vielen Ausbildungskandidaten dringend begehrt, wird von einigen wenigen psychoanalytischen Lehrinstituten neuerdings angeboten.

Auch psychoanalytische Familientherapie und Familienberatung, ein zentrales Forschungsthema der Psychosomatischen Klinik Gießen, breiten sich zögernd aus. Und, wichtiges Indiz für die Überwindung der Psychoanalyse als „Gettowissenschaft“ (Brückner): Ihre Vertreter beginnen, sich der methodischen Überprüfung ihrer Heilerfolge zu unterziehen.

Noch ist allerdings häufig umstritten, welche Methoden der Psychotherapie zweckmäßig und ergebnisreich sind oder welche Therapie für welche Patienten am besten ist.

„Unendlich“ wie „die Wege der Seele“ (Mitscherlich) sind immer noch die Streitigkeiten in dieser Wissenschaft — willkommener Anlaß für konventionelle Mediziner, mit übertriebenem Grausen auf diese Richtungskämpfe hinzuweisen und so zu versuchen, ihre Mißachtung der Psychotherapie zu rechtfertigen.

Daß sie der Psychotherapie bis heute zu knappen Raum im akademischen Bereich gegeben haben und die Richtungskämpfe damit eher noch verstärkten, ist aber, so der Berliner Analytiker Helmut Bach, „das schwere Versäumnis der deutschen Universitäten“.

Nicht nur von Psychotherapie verstehen Deutschlands Ärzte wenig. Alexander Mitscherlich jedenfalls hat sich „teils in Trauer, teils in Zorn“ davon überzeugt, daß auch ihre „Unkenntnis der Psychologie nahezu vollkommen ist“. Kein Wunder; Weder für Mediziner, die sie in der Sprechstunde täglich anzuwenden hätten, noch beispielsweise für Juristen oder Studienräte, die sich ihrer gleichfalls bedienen müßten, ist die Psychologie bislang Pflicht- oder Prüfungsfach. Statt dessen gilt auch sie, so die Deutsche Forschungsgemeinschaft, noch immer „als eine Art von Geheimwissenschaft“ die sich „im Kampf gegen erhebliche Widerstände und Vorurteile“ befindet.

Anders als die Psychotherapie hat die Psychologie zwar einen Raum in der deutschen Universität, ist dort aber „so eine Art Staat Israel, der in ein Territorium hineingesetzt worden ist, das eigentlich anderen Leuten gehört“, so Norbert Bischof, 39, Lehrbeauftragter für Experimentelle Psychologie an der Universität München.

Und tatsächlich: Kaum ein anderes Wissensgebiet reicht in so viele Fächer hinein, kein anderes wäre deshalb auch so prädestiniert für interdisziplinäre Zusammenarbeit — aber die von der Forschungsgemeinschaft geforderten psychologischen Zentralinstitute mit Professoren aus mehreren Fachgebieten gibt es noch nirgends.

„Mit einer systematischen, von kommerziellen Aspekten freigehaltenen prophylaktischen Aufklärungsarbeit in Fragen der Erziehung‘, rügten die Tübinger Psychologie-Ordinarien Rudolf Bergius und Gerhard Kaminski‘ „ist noch so gut wie gar nicht begonnen worden.“

Bei Jugendbehörden und kirchlichen Einrichtungen gibt es zuwenig Planstellen, und nur so ist erklärlich, daß, wie die Mitglieder der Münchner Fachschaft Psychologie behaupten, „viele examinierte Kollegen als Taxifahrer und Reiseleiter arbeiten“. weil sie keine Stellen finden.

Immerhin hat der Studentenandrang dazu geführt, daß sich in den letzten vier Jahren an den Universitäten und Hochschulen die Zahl der Lehrkräfte ungefähr verdoppelt hat. …

Besser als ihre Kommilitonen von den anderen Fakultäten vermögen die Psychologen zu begreifen und in Worte zu fassen, was an den Universitäten faul ist: Sie haben sich studienhalber mit jener Frustration zu beschäftigen, die auch die Studenten in anderen Massenfächern empfinden. Und weil sie über „Gedächtnis und Lernen „Motivation“, „Denken und Entscheidung“ informiert werden, wird ihnen ihre eigene Lage bewußter, können sie ihren Unmut besser artikulieren.

Manche Studenten überlegen auch schon, was „die Psychologie zu einer einheitlichen revolutionären Theorie beitragen“ könnte — so das Thema eines Kongresses „oppositioneller“ Psychologen in Hannover. Vorschläge: vorschulische repressionsfreie Erziehung, „psychologische Selbsthilfe der kämpfenden Genossen“ durch kostenlose Therapie, „Vorbereitung auf die Belastungen des Strafprozesses und der Strafhaft“ und endlich „Kampf gegen die herrschende Psychologie“ an den Hochschulen.

Die Genossen sahen freilich ein, daß ein Psychologe bei der Ausübung solch „revolutionärer Berufspraxis“ bald „seinen Job“ verliert, und sie diskutierten deshalb „Verdienstmöglichkeiten, die möglichst viel Zeit und Mittel‘ für die Revolution bieten, nämlich, unter anderem, das „Drucken von Banknoten“.

Auch von diesen Studenten gilt, was Alexander Mitscherlieb von Psychologen und Psychotherapeuten insgesamt meint: „Außenseiterpositionen ziehen nicht nur Helden und Denker, sondern eben auch Außenseiter an.“

Daß die Wissenschaft von der Seele aus ihrer Außenseiterrolle erlöst wird, daß sie die Reputation erhält, die ihr in einer von Nervosität, Spannungen und Ängsten, eben von sozialen Krankheiten ergriffenen Gesellschaft zukommt — dazu hat die deutsche Universität in ihrer „konservativen Selbstfesselung‘ (Mitscherlich) bisher nicht viel beigetragen. Im Gegenteil: Weder Mediziner (deren Ausbildung bezeichnenderweise an Leichen beginnt), weder Juristen und Lehrer noch Volkswirte, Betriebswirte oder Architekten werden auf den Umgang mit den Menschen vorbereitet, mit denen sie später zu tun haben.

Indem die Universität sie zur Einäugigkeit erzieht, verwehrt sie den Studenten, so der Sozialkritiker Max Horkheimer, „sich mit Dingen zu beschäftigen, die eine bessere, vernünftigere Gestaltung der menschlichen Beziehungen ermöglichen“.

18.08.1969

„Mit dem Latein am Ende“

8. Fortsetzung

Der Diplomvolkswirt und Fraktionsvorsitzende der SPD, Helmut Schmidt, erklärte am 6. Oktober 1968: „Wir haben viel zuviel Soziologen und Politologen. Wir brauchen viel mehr Studenten, die sich für anständige Berufe entscheiden, die der Gesellschaft auch nützen.“ Und sein Koalitions-Genosse, der Wissenschaftsminister und beurlaubte Kieler Privatdozent für Neuere Geschichte Gerhard Stoltenberg (CDU), verkündete mit großer Geste, das Heil von Staat und Wirtschaft hänge zwar von mehr Naturwissenschaftlern und Computer-Experten ab, für ein weiteres Anwachsen der Zahl von Sozialwissenschaftlern bestehe dagegen kein Bedarf.

Sogar Soziologie-Professoren wie der Kölner Erwin Kurt Scheuch fragen nur noch rhetorisch: „Produziert die Soziologie Revolutionäre? Kaum mag noch jemand bestreiten, daß Sozialwissenschaftler den „harten Kern“ der studentischen Protestbewegung bilden oder doch wenigstens beleben. Die „Soziologie ist zuerst zum Modewort, jetzt aber zum Schimpfwort geworden“, konstatiert der Konstanzer Professor Ralf Dahrendorf: „Wo der Soziologe vorgestern bestaunt wurde, hebt man heute die Hände in Abwehr und sucht ihn zu verdrängen.“

Zwar meinen viele Sozialwissenschaftler wie die Gießener Soziologie-Professorin Helge Pross, die Studenten würden „auch ohne Soziologie auf die Straße gehen, rote Fahnen schwingen, die Internationale singen, sich als „Fundamentalopposition‘ begreifen. Nur würde das Lager der irrational Verfahrenden größer sein, gäbe es keine Soziologie“. Ein Team junger Sozialwissenschaftler am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung fand sogar heraus, daß die Absolventen des Politologie-Studiums in Berlin keine Unruhestifter seien, „eher das Gegenteil“.

Aber der Mehrzahl der Staatsbürger dienen provokante Demonstrationen, die nicht selten von prominenten Soziologiestudenten wie Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Bernd Rabehl und Hans-Jürgen Krahl angeführt worden sind, nur als schockierende Stütze ihres Mißtrauens gegen die Sozialwissenschaftler. Für die Öffentlichkeit kaum sichtbar, ohne deutlichen Bezug zu herkömmlichen Berufen, scheint sich deren undurchsichtige Aktivität auf die Hochschulen wie auf ein Getto zu beschränken; man traut den kleinen Gruppen alles zu. Wann immer Studentenratswahlen oder andere Abstimmungen eine Mehrheit der Linken ergaben, sah man sie schon die Macht in ganzen Universitäten ergreifen.

Schwankend wie die Meinungen über ihren Einfluß sind auch die Angaben über die derzeitige Zahl von Studenten der Sozialwissenschaften. Das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland nennt für das Wintersemester 1966/67 4005 Studenten der Soziologie und Sozialwissenschaften, 1745 Politologie- und 1603 Philosophie-Studenten; neuere Zahlen sind noch nicht ausgewertet.

Inzwischen verstopft aber die explosionsartig angestiegene Zahl von Studenten in den Sozialwissenschaften Seminare und Bibliotheken und spottet jeglicher Statistik. Ralf Dahrendorf erinnert sich: „Mancher deutsche Kollege, der vor acht Jahren seinen Lehrstuhl übernahm, war stolz auf die ersten fünf oder zuweilen zehn Studenten, die Soziologie als Hauptfach belegten. Heute gibt es an seiner Universität zwar einen zweiten, auch dritten Lehrstuhl; aber aus den zehn Studenten sind an einer Reihe von Orten fünfhundert, achthundert, tausend und mehr geworden. In der Bundesrepublik gibt es heute mit Sicherheit mehr als 5000, wahrscheinlich etwa 8000 Studenten der Soziologie.“

Das Anwachsen der Zahl sozialwissenschaftlicher Absolventen in den letzten acht Jahren von 828 auf 4000, also eine Steigerung von 400 Prozent, bei den Politologen allein sogar um 1500 Prozent, konstatierte vor wenigen Monaten die Verwaltungsoberrätin Dr. Höhborn von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Frankfurt. Zum Vergleich: Die Zahl der Betriebs- und Volkswirte stieg im gleichen Zeitraum nur um etwa 60 und 90 Prozent. Münchens Soziologe Karl Martin Bolte: „Wir sehen mit offenen Augen eine Katastrophe auf uns zukommen.“

Gründe für die Hausse in Soziologie lassen sich viele finden. Die Kollision mit undurchsichtigen Traditionen und überkommenen Hierarchien mündet für viele Studenten in Unzufriedenheit mit der Väter-Gesellschaft, die sich nur schwer durchschauen läßt und gleichwohl Zustimmung verlangt. Aufklärung wird zur ersten Station beim Wunsch nach Emanzipation, Veränderung; schließlich erzeugt die vordergründige Folgenlosigkeit aller bloßen Theorie Überdruß: ebenso an der Philosophie und Theologie wie an der Geschichte. Soziologie aber verheißt Abhilfe.

Schließlich spielt auch die Befürchtung keine geringe Rolle, unwiderruflich in diese Gesellschaft integriert zu werden. Der Freiraum der Universität läßt die Abhängigkeiten draußen um so mehr ahnen. Aber diese Distanz ist auch schick geworden, zur Mode. Freilich: Wo Bedürfnisse zur Mode verkommen, wird aus bloßer Mode vielleicht auch wieder ein Bedürfnis.

So studiert denn heute nach grober Schätzung jeder 30. der etwa 300 000 bundesdeutschen Studenten Soziologie, Politologie oder Philosophie; rechnet man Nebenfach-Hörer und die außerhalb ihres Fachs Interessierten dazu, beschäftigt sich mindestens jeder zehnte mit Sozialwissenschaften. Dem Riesenbedarf steht ein Angebot von 197 Lehrstühlen gegenüber: 82 für Philosophen, 58 für Soziologen und 57 für Politologen. Axel Cäsar Springers Tageszeitung „Die Welt“ („Wie gefährlich ist die Explosion der Sozialwissenschaften?“) wollte freilich schon vor zwei Jahren von „450 Lehrstühlen der Sozialwissenschaften — 100 mehr als in den Rechtswissenschaften“ wissen und bemerkte zu dieser nicht näher erläuterten wunderbaren Lehrstuhlvermehrung: „Das bringt viele Probleme mit sich …: so groß unsere Furcht aber auch sein mag, so sicher ist andererseits, daß es ein Zurück nicht gibt und daß ein wissenschaftlicher Defätismus das letzte wäre, was uns helfen könnte.“

Hat die Gesellschaft Angst vor den Gesellschaftswissenschaftlern? Vieles spricht dafür: das ungebrochene Juristen-Monopol in den Ministerien und Verwaltungen ebenso wie die schleppende Verabschiedung von Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für die Verwaltungslaufbahn von Soziologen und Politologen, der Mangel an Planstellen für angestellte Sozialwissenschaftler ebenso wie Anstellungsbedenken in der Wirtschaft.

Bereits voriges Jahr berichtete ein hoher Kommunalbeamter, mehrere große Firmen suchten mit Hilfe von Fragebogen zu erfahren, ob akademische Nachwuchskräfte Soziologie studiert hätten; bekannte sich jemand dazu, wurde er aus der Liste der Bewerber gestrichen.

Der Bundestag, der 1953 gesetzliche Grundlagen der Verwaltungslaufbahn für Nicht-Juristen verabschiedet hatte, ließ volle 15 Jahre verstreichen, ehe er im April 1968 auch die Laufbahn-Zulassung von Politologen beschloß. Im Saarland gab es schon 1963 eine solche Verordnung; bisher folgten nur Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz diesem Beispiel.

Die Universitäten in der Bundesrepublik und in West-Berlin taten ihrerseits freilich bislang so gut wie nichts, um diesem Mißtrauen gegen die Sozialwissenschaften abzuhelfen. Weder Soziologen noch Politologen mochten sich für ihr Fach auf einheitliche Studiengänge, Fächerkombinationen und Prüfungsordnungen festlegen ebensowenig wie sie das Studium einer späteren Berufspraxis angleichen oder Modelle solcher Berufe entwerfen wollten.

So kann man etwa in Berlin und Frankfurt Soziologie sowohl innerhalb der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät studieren, in Münster nur an der juristischen. Zum Abschluß des Studiums kann der Prüfling sich zwischen einem Diplom, dem Magister Artium (MA) oder der Promotion entscheiden. In Berlin, Frankfurt und München darf er nach dem jeweiligen Examen den Titel eines Diplomsoziologen, Dr. phil., Dr. rer. pol. oder Dr. oec. publ. führen, in Erlangen und Göttingen den eines Diplomsozialwirts, des Dr.phil. Dr. rer. Pol. oder Dr. oec., und in Köln kann er schließlich zum Diplomvolkswirt sozialwissenschaftlicher Richtung avancieren; Freiburg endlich vermag nur den MA‘ den Dr. phil. oder den Dr. jur. zu bieten. Das ist noch nicht alles: In Berlin und Frankfurt kann nur promovieren, wer zuvor das Diplom erworben hat.

Ähnlich bunt sind die Fächerkombinationen. Während in Berlin drei Hauptfächer (allgemeine, eine spezielle und empirische Soziologie) und zwei Nebenfächer (entweder Sozialpsychologie und Geschichte/Politik/Publizistik oder Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre) obligatorisch sind, können die angehenden Diplomanden nach freier Wahl ein drittes Nebenfach aussuchen. Dr. Werner Buth, Geschäftsführer des soziologischen Instituts in Berlin, zum SPIEGEL: „Das kann auch Theologie sein. In Göttingen und Erlangen/Nürnberg haben die Kandidaten dagegen keine Wahl; ihre Fächer sind: spezielle Soziologie, allgemeine Wirtschaftstheorie, Psychologie, Sozialpolitik, Staats- und Verwaltungsrecht und Privatrecht.

Obschon weniger verzweigt, ist auch das Politologie-Studium keineswegs einheitlich. Wie die Soziologie kann auch die Wissenschaft von der Politik (zuweilen wahlweise) in der philosophischen, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen und juristischen Fakultät studiert werden; wie bei der Soziologie kann man unterschiedliche Doktortitel, den MA oder auch ein Diplom erwerben. Der Titel eines Diplompolitologen bleibt freilich für Absolventen des Berliner Otto-Suhr-Instituts (der einstigen Deutschen Hochschule für Politik) oder einer Hamburger Fakultätsprüfung reserviert. Im übrigen ist Soziologie meist eines der Prüfungsfächer für Politologen.

Die Verwirrung wird noch dadurch erhöht, daß die lokalen Prüfungsordnungen und Studiengänge häufig revidiert werden und daß es bislang keine öffentliche Registratur gibt, der es auch nur annähernd gelungen wäre, die zahlreichen und phantasievollen Kombinationen von Themen und Titeln festzuhalten. Ein Fachausschuß für Hochschul- und Studienfragen der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ bat zum Beispiel in nunmehr fünfjähriger Arbeit noch nicht erreicht. präzise Informationen über Berufssituation, Studienplanung und Ausbildungsordnungen zu publizieren.

Um wenigstens diesem Mangel abzuhelfen, haben jetzt zwei Hamburger Studenten, der Politologe Fritz Wittek, 22, und der Soziologe Hans-Heinrich Henke, 27, Fragebogen an alle soziologischen und politologischen Seminare Institute und Fachschaften verschickt und um Auskunft über Studentenzahlen, Lehrveranstaltungen, Forschungsvorhaben, Prüfungsbestimmungen und so weiter gebeten.

Das Echo war mager. Abgesehen davon, daß bei den Soziologen bisher sechs und bei den Politologen sieben Hochschulen die Antwort schuldig blieben, schien manchen der angeschriebenen Institute die Studenten-Aktivität offenbar nicht seriös genug zu sein; so beschied etwa die „Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft die um zentralisierte Information bemühten Studenten sibyllinisch. sie könne das Werk nicht unterstützen, weil Sie „nur zentrale Befragungsaktionen gut zubeißen“ vermöge. Die gewünschte Orientierungshilfe wußte der Verein den Studenten freilich von sich aus auch nicht zu bieten.

Das Ausbildungslabyrinth bei den Sozialwissenschaften ist um so erstaunlicher, als sie sich selbst mit Problemen der Organisation und Kommunikation beschäftigen. Darüber hinaus stimmen bei nahezu allen anderen Wissenschaften Lehr-Gang und Lehr-Gut, Titel und Ordnung besser überein. Kaum irgendwo sonst haben sich die Gegensätze der Wissenschafts-Richtungen und Ordinarieninteressen bis in die Prüfungsordnungen ausgebreitet; nirgends gibt es eine vergleichbare Unsicherheit über das Studienziel.

Die Sozialwissenschaften waren lange Zeit das Stiefkind deutscher Universitäten. 1932 erst schien dem bedeutenden Soziologen Karl Mannheim „jener unhaltbare Zustand endlich aufgehoben, daß in einer Zeit, da in Frankreich bereits in der pädagogischen Sparte der höheren Schulen (école normale primaire) die Soziologie zum obligatorischen Lehrfach geworden ist und es in Amerika nicht nur soziologische Professuren. sondern bereits soziologische Fakultäten gibt (sociological department). in Deutschland noch immer die tiefsinnige Frage diskutiert wurde: Ist die Soziologie überhaupt möglich?.

Ein Jahr später war sie bereits wieder unmöglich geworden. Deutschland“ Soziologen mußten sich vor der nationalsozialistischen Machtergreifung entweder auf neutrale Positionen zurückziehen oder emigrieren. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse etwa zogen mit dem von ihnen gegründeten Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ über Genf nach New York. Nach 1945 kehrten viele der Vertriebenen zurück; unentschlossen zunächst, beantwortete die Soziologie schließlich die beginnende Restauration mit der Anknüpfung an ihre eigene Vergangenheit.

Seit der französische Mathematiker und Philosoph Auguste Comte (1798 bis 1857) zum erstenmal den Begriff „Soziologie“ gebraucht hatte, entwickelte sich daraus ein Programm: einerseits die Organisation der Gesellschaft nach dem Maßstab kritischer Vernunft (und nicht dem privater Interessen), andererseits die Aufklärung von Herrschaftsverhältnissen. Ziel dieser Aufklärung war es, die Herrschaftsverhältnisse für die Beherrschten durchsichtiger und schließlich kontrollierbar zu machen.

Soziologie, in der Anfangsphase nicht viel mehr als die säkularisierten Staats-Gedanken der Philosophen, wußte die Mängel der Gesellschaft zusehends konkreter auszudrücken. Damit machte sie sich freilich nicht nur Feinde, sondern spaltete sich auch in drei einander heftig bekämpfende Richtungen: Empiriker, reformfreudige Kritiker und radikale Verfechter notwendiger Umwälzungen.

Empiriker (Soziologenjargon: „Fliegenbeinzähler“) wie die Kölner René König, Erwin K. Scheuch und die Berliner Professorin Renate Mayntz-Trier sehen heute keinen Sinn mehr in Theorien über die Gesellschaft im ganzen allenfalls als Endprodukt als bloße Summe unzähliger Einzeluntersuchungen. Dem Professur Scheuch. als Schüler René Königs in Studentenzeiten wegen seiner Anpassungsfähigkeit „der kleine König“ genannt, erscheint „die sogenannte kritische oder dialektische Soziologie dementsprechend geradezu als „Gesellschaftstheologie“, in der die „Freiheit der Wissenschaft“ von „radikalisierten Studenten“ bedroht wird. Empirische Soziologie, so konterten aber die Angegriffenen auf dem letzten deutschen Soziologentag 1968, welche die Theorie vernachlässige, werde die Probleme der Gesellschaft gar nicht erst erkennen können.

Die meisten Soziologen wollen sich gegenwärtig als reformwillige Gesellschaftskritiker verstanden wissen. Im Unterschied zu den betonten Empirikern mögen sie sich nicht auf die Analyse von Gruppen und ihres Verhaltens beschränken; andererseits denken sie zu pragmatisch, um an eine Umwälzung der Gesellschaft im ganzen zu glauben. Sie sind bereit, sich für die bestehenden Parteien einzusetzen — wie der in Konstanz lehrende FDP-Bundestagskandidat Ralf Dahrendorf und der Berliner Soziologe und Politologe Otto Stammer (SPD); oder sie arbeiten für die Emanzipation der Frauen -, wie die Gießener Soziologin Helge Pross. Sie sind liberal, aber sie kritisieren am Liberalismus die naive Vorstellung, Herrschaftsausübung ließe sich auf den Bereich der Politik beschränken. im übrigen werde die Freiheit des einzelnen nur von den Spielregeln des Wettbewerbs und der Leistung begrenzt. Sie sind Demokraten. aber sie kritisieren an der Demokratie Herrschaft und Autorität, sofern sie nicht rational begründet sind.

Am aufmerksamsten registriert die Öffentlichkeit seit langem Worte und Taten der radikalen Kritiker, die diesen Gesellschaft für irreparabel halten. Der „naturwüchsige“ Kapitalismus, mittlerweile durch verfeinerte Technologie noch befestigt, hat in denn Augen dieser dritten Gruppe dem Widerspruch zwischen Ausbeutung und Ausgebeuteten keineswegs abgeschafft, sondern nur verschleiert. Reformen, die zum „reibungsloseren Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft beitragen. sehen sie folglich nur als Verdeckung und nicht als Beseitigung dieses Widerspruchs. Sie sind (oder waren doch) unorthodoxe Marxisten mit philosophischer, aber kaum ökonomischer Ausbildung wie etwa die Frankfurter Max Horkheimer und der vor wenigen Tagen verstorbene Theodor W. Adorno oder der in San Diego, Kalifornien, lehrende Herbert Marcuse — längst schon zweifelten sie daran, daß „das Leben des einzelnen geändert werden kann; es müssen die Systembedingungen geändert werden“ (Adorno). Ihre Schüler sollen deshalb „hellere Menschen“ werden, die „aus Einsicht allmählich die Welt verbessern. (Horkheimer).

Die Differenzen der drei Soziologen-„Schulen“ (bei den Politologen sind die Unterschiede auffälligerweise viel geringer) haben deutliche Auswirkungen auf die Praxis: Mit der gesellschaftskritischen Couleur wechseln auch Studentenzahlen, Ausbildungswege und Berufschancen. So stellte der Empiriker und studierte Philosoph Helmut Schelsky‘ Münster / Bielefeld, fest, daß gerade das „geisteswissenschaftlich-philosophische Studium der Soziologie in den letzten Jahren steigend wachsende Zahlen von Studienanfängern angezogen“ habe. Und der Soziologe Uwe Schlottmann meint sogar, daß „die meisten Studenten die angebotenen praxisnäheren Fächer verschmähen“.

Praxisnähere Fächer wie Verwaltungsrecht, Wirtschaftspolitik, Psychologie und Privatrecht kommen den Bedürfnissen der Wirtschaft entgegen, die zwar keine reinen Soziologen, wohl hingegen solche „Generalisten‘, solche Viel -Fach-Könner verwerten kann. Der weitgehende Verzicht auf eine spezielle Ausbildung in Soziologie wird also durch größere Arbeitsmarktchancen prämiiert. Umgekehrt müssen Studenten, die sich der „kritischen Theorie“ und damit etwa den Sozialphilosophen der „Frankfurter Schule‘ verschreiben, unsicheren Berufs-Zeiten ins Auge sehen: Chancen haben sie allenfalls an manchen Universitäten.

Dennoch ziehen die meisten Soziologiestudenten offenbar eine Ausbildung an den philosophischen Fakultäten von Berlin, Frankfurt oder Marburg den Aussichten auf lukrative Posten in der Wirtschaft vor. Das jedenfalls legte eine Studie über „Soziologen im Beruf“ nahe, die der Nürnberger Soziologe Uwe Schlottmann letztes Jahr publizierte.

Verglichen…, zeigt sich eine deutliche Entwicklung: Relativ weniger Soziologen finden Arbeit an der Universität, mehr in Wirtschaft, Industrie und Politik; auch der Wunsch, an der Universität zu bleiben, hat abgenommen. Am wenigsten kompromißbereit gegenüber der Berufswelt sind Frankfurter Absolventen; einer von ihnen schrieb: „Die Situation der Soziologen in der bürgerlichen Gesellschaft ähnelt derjenigen der Naturwissenschaften gegen Ende des Feudalismus: Ihre theoretischen Einsichten bedeuten eine Gefahr für den Bestand überkommener Institutionen.“ Folgerichtig gaben fünf Frankfurter (aber nur ein Berliner) auf die Frage nach der idealen Soziologen- Beschäftigung zu Protokoll: „Revolutionäre Tätigkeit.“

Aber auch von den Göttinger und Nürnberger Diplomsozialwirten mit ihrer berufsbezogeneren Ausbildung sieht niemand den idealen Arbeitsbereich in der Wirtschaft oder der Industrie; so will keiner der Nürnberger Absolventen auf eine spezifisch soziologische Tätigkeit verzichten — auch wenn ihnen das Nachteile einbringen würde.

Mit der Form ihrer Ausbildung sind von allen Befragten nur zwei zufrieden. Einhellig negativ werden an allen vier Hochschulen die juristischen Fächer beurteilt („Unwichtig für die Ausbildung“) — am besten die empirische Sozialforschung, die aber, besonders nach der Meinung vieler Göttinger und Frankfurter Studenten, zu kurz kommt. Klage führen die meisten schließlich darüber, daß ihre Fächer unvermittelt nebeneinander stehen und oft zu wenig auf Praxis bezogen sind. Drei Frankfurter Studenten ziehen daraus den Schluß, „zuviel Soziologie studiert“ zu haben.

Holler sieht in seiner Untersuchung Anzeichen für eine schwindende Anpassungsbereitschaft der Sozialwissenschaftler an eine aus Unkenntnis noch immer weitgehend „soziologenfeindliche Gesellschaft“. Fazit: „Will man nicht diese Gruppe von Wissenschaftlern in eine grundsätzliche Gegnerschaft zur Gesellschaft zwingen. so wird es immer wichtiger, angemessene Positionen für Soziologen zu schaffen.“

Doch damit hapert es nach wie vor; die Marktchancen in der Wirtschaft sind noch nicht einmal für wirtschaftswissenschaftlich vorgebildete Soziologen groß. Von der gelegentlich registrierten Meinung, daß „diese Leute ein zu großer Unruheherd sind“ reicht die Unsicherheit bis zu akademischen Berufsberatern der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, die den Ratsuchenden das Studium der Sozialwissenschaften immer dann ans Herz legten, wenn sie sonst keinerlei spezifische Begabungsrichtung erkennen ließen.

Noch heute lehnen Bundesbahn und Bundesbank die Einstellung von Sozialwissenschaftlern gleich welcher Richtung ab; ein Handelskammerpräsident gab zu, entsprechende Empfehlungen zu überlegen, und der Inhaber einer der größten deutschen Privatbanken ließ die Personallisten der letzten Jahre auf Soziologie-Verdächtige durchkämmen.

Unter 1269 Stellenangeboten in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ an zwei Wochenenden im vergangenen Dezember fanden sich nur sieben Angebote für Soziologen: je zwei aus Privatwirtschaft und Marktforschung und je eins aus Kommunalverwaltung, Werbung und einer Pädagogischen Hochschule. Auch auf der Suche nach Arbeit sind Sozialwissenschaftler also weithin auf eigene Initiative angewiesen.

Als Ausweg wird inzwischen allenthalben ein nach den Bedürfnissen der Wirtschaft angelegtes Studium gefordert, wie es sich schon aus Schlottmanns Untersuchung zu ergeben schien — und vielleicht die Abschaffung der Fachsoziologen zur Folge hätte. Immerhin stellt das Angebot keineswegs marktkonformer Studiengänge eine Art Verführung dar, für welche die Universitäten schließlich die Verantwortung tragen. Dieter Claessens, Soziologie-Ordinarius in Berlin, bekennt denn auch: „Wir haben ein mäßig gutes Gewissen insofern, als wir eigentlich nie Studenten zuraten, Soziologie zu studieren, … ihnen vielmehr zuraten, traditionelle Studienrichtungen zu verfolgen, um dann Soziologie im Nebenfach zu betreiben.“

Claessens war als Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Soziologie auch an einer Entschließung beteiligt, die Ralf Dahrendorf, der Vorsitzende, „einen weitreichenden Beschluß über die zukünftige Gestaltung soziologischer Studiengänge“ nannte. Am 11. April schlug die Soziologen-Gesellschaft vor:

* den Titel des Diplom-Soziologen an keiner Hochschule mehr neu einzuführen;

* diejenigen bestehenden Studiengänge, die mit dem Soziologie-Diplom abschließen, in sozialwissenschaftliche umzuwandeln;

* zu diesem Zweck „zwei oder mehr Fachgebiete im Hinblick auf theoretische Problemstellungen oder praktische Bedürfnisse“ zu kombinieren und als Abschluß den (neuen) Titel eines Diplomsozialwissenschaftlers zu vergeben.

Die marktorientierte Beschränkung des Soziologie-Studiums aufs Nebenfach könnte freilich zum Bumerang für Soziologie-Professoren werden. Mit der Anpassung an den „Annoncenteil von Fachzeitschriften“ — so ein Studentenpapier — könnte diese „Disziplin ohne Disziplin“ (Dahrendorf) ihre mühsam erreichte Autonomie und damit auch ihre kritische Funktion in der Gesellschaft wieder einbüßen. Sie könnte zur bloßen Regeltechnik degenerieren: In den Vereinigten Staaten, wo ohnehin Sanierung zugunsten der Armen selten ist, spielten etwa Soziologen im Auftrag des CIA mit Computersystemen modellhaft die Dynamik eines Aufstands in einem Neger-Slum durch („Counterinsurgencyproject“) — nicht, um die sozialen Verhältnisse so zu ändern, daß Aufstände unnötig würden, sondern um einen Aufstand schneller ersticken zu können. Soziologie, die sich derart auf die Erhaltung bestimmter Herrschaftsverhältnisse spezialisiert, ist das genaue Gegenstück zu ihrem „utopischen Ursprung als einer Oppositionswissenschaft“ geworden — wie ihn Arnhelm Neusüss in seinem Buch über „Utopie“ dargestellt hat.

Obwohl der Deutschen Gesellschaft für Soziologie längst entfremdet, hat der Berliner SDS ebenfalls im April die „Forderung nach Abschaffung der Soziologie als Hauptfach“ veröffentlicht — allerdings nicht gerade mit der Absicht, das Studium den Forderungen der Wirtschaft anzupassen. Die Genossen sehen weder in der Universitäts-Soziologie („luxurierende Wissenschaft ohne Praxis‘) noch in Wirtschaft, Industrie, Behörden oder Verbänden („systemstabilisierende Praxis“) mögliche Ansätze für eine „revolutionäre Berufsperspektive“.

Während aber die SDS-Strategie bisher darin bestand, „sich den Institutionen so lange wie möglich zu verweigern“, erscheint sie nun als „Forderung, in Fächer mit guten Berufsaussichten und strategischer Relevanz überzuwechseln und die Soziologie als Nebenfach weiterzuführen“. Solche Berufe sind zum Beispiel Lehrer, Sozialarbeiter, Mediziner, Juristen und Architekten, mit deren Hilfe schließlich „die jeweilige Institution selber aufgebrochen werden“ soll.

Beides, die Anpassungs-Taktik der Senior-Soziologen ebenso wie die Unterwanderungs-Strategie der Berliner Soziologie-Revolutionäre, sind, zureichend oder nicht, Antworten auf die groteske Immobilität einer Gesellschaft, die zwar mit Zyklotron und Mondflug, nicht aber mit Verkehrs-~ und Wohnverhältnissen oder auch nur mit der Resozialisierung von Kriminellen fertig werden kann.

Das altliberale Konzept eines Gemeinwesens, in dem schon relativer Wohlstand ausreichen soll, damit sich alles übrige marktgerecht von selbst reguliere, ist längst gescheitert; seinen Verfechtern mag allenfalls das Privat-Interesse noch eine Weile den Blick dafür trüben. Längst schon ist erwiesen, daß die Industriegesellschaft nicht ohne Bildungsplanung und Bildungssoziologie, Stadtplanung und Siedlungssoziologie, Wissenschaftsplanung und Sozialpsychologie bestehen kann.

So kommt es denn, wie der holländische Soziologe Sjoerd Groenman schreibt, „nicht darauf an, Soziologen auszubilden, so wie sie die Gesellschaft gern haben möchte. Ich muß als Soziologe bezweifeln, ob die Gesellschaft imstande ist, genau zu bestimmen, welches ihre eigene Problematik ist, und ob sie sich ein richtiges Bild von der praktischen Nützlichkeit des Soziologen ausgemalt hat. Falls wir angewandte Soziologie an den Universitäten treiben wollen, müssen wir uns den wirklichen Fragen der Gesellschaft zuwenden, nicht nur den Fragen, die uns von dieser Gesellschaft zur Lösung vorgelegt werden“.

Um solche „wirklichen Fragen der Gesellschaft“ untersuchen zu können, müßten freilich Soziologen in Positionen eingestellt werden, die es derzeit noch gar nicht gibt. „Man müßte den Bedarf verändern“, meint Erich Frister, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Und der Münchner Soziologe Emerich Francis erklärte seinen Studenten: „Ihr müßt euch selbst euren Platz in der Gesellschaft schaffen.“

Ein solcher Platz ist die Raumplanung. Im Märkischen Viertel, einer neu errichteten Berliner Trabantenstadt, hatte man beispielsweise nicht daran gedacht, daß sich die Abgeschiedenheit von städtischen Vergnügungszentren und die Symmetrie der Betonfassaden auf das Wohlbefinden der Bewohner niederschlagen könnten. „Die graue Hölle is det hier!“ — resümierte ein Mieter. Schon nach kurzer Zeit reichten die vorhandenen Schulen und Kindergärten nicht mehr aus — Konsequenzen die Soziologen und Sozialpsychologen vielleicht hätten voraussehen können, wären sie zu Rate gezogen worden.

„Stadtplanung, Regionalplanung“, schrieb der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich, Direktor des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts‘ „ist im Bewußtsein unserer Öffentlichkeit kein Politikum, sondern eine Sache von Geschäftsleuten, die Grundstücke handeln, und von Unternehmungen, die sie bebauen. Man zieht eines Tages ein, einen Einfluß auf die Gestaltung neuer Satellitenstädte kann man sich offenbar gar nicht denken.“ Gleichwohl, als im Juli der Bundeswohnungsbauminister Lauritzen (SPD) erstmals nach dem Kriege ein „Städtebau-Förderungsgesetz“ vorlegte, verhinderte die CDU dessen endgültige Beratung und damit auch die Verabschiedung.

In welchem Ausmaß Soziologie-Aktivität bei der Stadtsanierung eingesetzt werden könnte, demonstrierte der US-Nobelpreisträger und Kanzler der Universität Chicago, George W. Beadle, auf der diesjährigen Lindauer Nobelpreisträger-Tagung. Der Chicagoer Stadtteil Hyde Park-Kenwood, in dem die Universität liegt, schien nach dem Krieg zu einem riesigen Slum abzusinken, in dem Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, Armut und Verbrechen dominierten. Immer weniger Professoren und Studenten mochten in Chicago bleiben; schließlich begann man bereits mit dem Gedanken zu spielen. die Universität zu verlegen.

Anfang der fünfziger Jahre ergriff die Universität die Initiative zur Sanierung des Stadtteils. Ein noch heute bestehendes, eigenes Stadtplanungszentrum arbeitete zusammen mit Stadt und Staat gesetzliche Grundlagen aus, ließ Gebäude abreißen und wiederaufbauen, half bei der Umsiedlung von Teilen der Bevölkerung und erreichte am Ende sogar, daß der Anteil der Farbigen (40 Prozent) völlig integriert wurde.

Aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft besteht ein Bedarf an Sozialwissenschaftlern, ohne daß deshalb mehr als nur vereinzelt Stellen eingerichtet worden wären:

* Bildungs-, Wissenschaftsplanung, Koordinierung von Forschungsaufgaben, Entwicklung neuer Studiengänge

* Kriminalsoziologie, Verbrechensverhinderung, Resozialisierung; Jugendsoziologie, sozialpsychologische Untersuchung von Gruppenverhalten und Generationenkonflikten;

* Medizinsoziologie, Einfluß sozialer

Faktoren auf Krankheiten; Agrarsoziologie, Strukturprognosen, Siedlungsplanung;

* Betriebssoziologie, Analyse von Arbeitsprozessen und den Auswirkungen bestimmter Formen von Arbeitsteilung.

In der Bundesrepublik „unterließ man jene Experimente, ohne die man in die Zukunft taumelt“ (Mitscherlich), während beispielsweise in Holland Stadtplanung und Sozialarbeit immer mehr zur Domäne von Soziologen wurden. Statt dessen begegnet deutschen Gesellschaftswissenschaftlern noch immer das Mißtrauen der Gesellschaft. So verhinderte erst kürzlich Bayerns reaktionärer Kultusminister Huber die Berufung eines Lehrbeauftragten für Soziologie an die Münchner Kunstakademie. Und im Sommer 1968 verwarf der Göttinger Althistoriker Alfred Heuß als Mit-Gutachter die Soziologie-Dissertation des Studenten Martin Baethge über „Wirtschaftsinteressen und Bildungspolitik“, obwohl er von der Sache nichts verstand — bloß weil ihm Vokabular und Arbeitsergebnisse mißfielen (SPIEGEL 31/1968).

Bezeichnenderweise gilt dieses Mißtrauen keineswegs im gleichen Ausmaß den Philosophen und Politologen. Von Platon bis Hegel gab es utopische oder kritische Theorien des Staates und der Gesellschaft, die sich freilich selten zur konkreten Alternative des Bestehenden verdichten ließen. Seit sich aber unter dem Einfluß von Comte und Marx die Soziologie von der Philosophie losgelöst hatte, verschwand aus dem Staats-Denken deutscher Philosophen mehr und mehr der Bezug zur Praxis.

Die Philosophie ist heute an den bundesrepublikanischen Universitäten in den Schatten der Entwicklung geraten. Aus der traditionellen Spitzenposition in den philosophischen Fakultäten längst durch Fächer mit mehr Studenten und mehr Professoren verdrängt, wird inzwischen — nicht zuletzt durch Soziologen — auch ihr Rang als Grundlegung von Wissen und Handeln in Frage gestellt. Ohnehin kaum noch in der Lage, die Ergebnisse von Naturwissenschaft und mathematischer Logik, Linguistik und Tiefenpsychologie gleichermaßen zu verarbeiten, gerät sie häufig in die Nähe der Mythologie oder verschreibt sich der Beobachtung ihrer eigenen Geschichte.

Mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und dem Saarland, wo Philosophie seit wenigen Jahren obligatorisches Lehrfach in der Unter- und Oberprima der höheren Schulen ist, können Philosophie-Absolventen allenfalls hoffen, ihren Beruf an der Universität auszuüben — wenn sie eine der wenigen Assistentenstellen bekämen. Gelingt ihnen das nicht, müssen sie versuchen, in Lektoraten, Pädagogischen Hochschulen oder Goethe-Instituten Wartestellung zu beziehen, um durch Aufsätze oder Bücher auf sich aufmerksam zu machen.

Hauptfach-Philosophen, die nicht Philosophie-Lehrer werden und dann auch noch mindestens ein weiteres Fach für den Schuldienst studieren wollen, können an Deutschlands Universitäten nur promovieren; die meisten Hochschulen sehen zusätzlich den Studienabschluß als „Magister Artium‘ (MA) vor, der sich freilich bislang noch nicht recht durchzusetzen vermochte.

Die immer noch vergleichsweise hohe Zahl von Philosophie-Lehrstühlen (derzeit 82 in der Bundesrepublik und West-Berlin) fand nach dem Krieg eine Motivation in der Einrichtung des „Philosophikums“, einer Zwischenprüfung, der sich alle Lehramtskandidaten für den höheren Schuldienst vor dem Staatsexamen zu unterziehen hatten — gleichgültig, ob sie später als Mathematik-, Physik- oder Deutschlehrer tätig werden wollten. Von dem ziemlich losen und meist recht kurzen Kontakt mit der Philosophie erhofften Universitäten wie Kultusministerien zumindest allgemeinbildende Rückwirkungen aufs Fachstudium — im Sinne des damals ebenfalls eingeführten und, mangels studentischer Beteiligung, einige Jahre später wieder aufgegebenen Studium Generale.

Aber schon die Koordination des angebotenen Lehrstoffs mißlang häufig — oder wurde gar nicht erst versucht. Philosophie der Naturwissenschaften etwa, wie sie sich für Chemie-, Physik- und Biologielehrer angeboten hätte, konnte an manchen Universitäten nicht gelehrt werden, weil es keine naturwissenschaftlich vorgebildeten Philosophieprofessoren gab. So erregte die Berufung des Physikers Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker auf einen Hamburger Philosophie-Lehrstuhl 1957 noch weithin Aufsehen.

Inzwischen ist das Bildungs-Konzept vollends fragwürdig geworden. Mögen manche Philosophiedozenten aus dem jedes Semester wiederkehrenden Ritual massenhafter Philosophikum-Prüfungen eine Stärkung ihres Selbstbewußtseins gezogen haben, andere, wie etwa der Berliner Ordinarius Wilhelm Weischedel, haben längst das Zweifelhafte dieser erzwungenen Beschäftigung mit Philosophie erkannt. Resultat kritischer Überlegungen: In Baden-Württemberg wurde das Philosophikum 1966 abgeschafft, nach einem Beschluß der Kultusministerkonferenz vom vergangenen November sollen dem alle anderen Bundesländer folgen.

Beides, die stufenweise Abschaffung des Philosophikums ebenso wie der enorme Aufschwung der aus der Philosophie hervorgegangenen Soziologie, könnte auf lange Sicht ein weiteres Absinken des Interesses für Philosophie — und damit eine Verringerung der Anzahl philosophischer Lehrstühle — bewirken. Nach einem Jahrhundert der Selbstkritik — Marx und Nietzsche, zwei Philosophen, suchten die Philosophie als Metaphysik zu zerstören — ist sie nun auch aus der Rolle der Königin der Wissenschaften verdrängt worden. Überflüssig ist sie damit allenfalls in den Augen der Befürworter bloß technokratischer Hochschulreformen.

Ihr Argwohn gegenüber dem Nützlichkeitsdenken der Industriegesellschaft und dem Fortschrittsglauben von Wissenschaft und Technik hat die Philosophie zur skeptischen Instanz dieser Gesellschaft werden lassen. So gerieten denn auch unterschiedliche Denker wie Martin Heidegger, Herbert Marcuse oder Max Horkheimer mit ihrer Zivilisationskritik alsbald in Gegensatz nicht nur zur Öffentlichkeit. sondern auch zu vielen Wissenschaftlern. Freilich: Philosophie, die allein mit Gedanken streitet, erscheint mehr als Objekt der Ehrfurcht denn als ernst zu nehmender Gegner. Erst wenn sie. wie etwa bei Marcuse, praktisch wird, in die Nähe der Soziologie gerät, erregt sie Anstoß.

Vielleicht mit weniger Ehrfurcht als den Philosophen, jedenfalls aber auch mit weniger Mißtrauen als den Soziologen begegnete die bundesrepublikanische Gesellschaft der Wissenschaft von der Politik. In der Bundesrepublik erst 1948 begründet, ist dieses Fach heute schon an 29 Universitäten eingerichtet. Mittlerweile haben etwa 800 Studenten ein Politologie-Diplom erworben, die meisten in Berlin.

Zu Anfang freilich dachte man nicht an Examen. Als Ernst Jäckh 1920 in Berlin die Deutsche Hochschule für Politik (HfP) gründete, wollte er damit einen „Kristallisationspunkt für den geistigen und seelischen Wiederaufbau Deutschlands“ schaffen. Zugang zu dieser Hochschule hatten keineswegs. bloß Abiturienten, sondern Gewerkschaftsfunktionäre, Parteipolitiker, Diplomatennachwuchs, Beamte und Verwaltungsangestellte. Keiner von ihnen erwartete zum Abschluß mehr als ein Beteiligungszeugnis.

Entgegen den pessimistischen Prognosen von Helmut Schmidt, Gerhard Stoltenberg und dem Inhaber des Diploms der HfP Josef Stingl (CDU), dem derzeitigen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg (Stingl: „Der Bedarf an Politologen, Soziologen und Psychologen ist auf dem freien Arbeitsmarkt unverändert gering“), hat die Bildungs-Forschung ergeben, „daß sich die zunächst überflüssigen Absolventen im Laufe der Zeit einen Bedarf selbst geschaffen haben“.

Während etwa das Juristen-Monopol in den Verwaltungen bislang noch nicht gefährdet worden ist, hat sich der größte Teil der beruflich erfolgreichen Politologen in neu entstandenen Berufen und neuen Institutionen eingerichtet, zum Beispiel in einer Public-Relations-Agentur, einer Abendakademie, der neu geschaffenen Informationsabteilung eines Großkonzerns oder einem parlamentarischen Hilfsdienst. Der Aufbau der Erwachsenenbildung ist zum großen Teil eine Leistung von Politologen.

Freilich, Politologen wie auch alle anderen Sozialwissenschaftler „müssen bei der Stellensuche sehr viel mehr eigene Initiative und Phantasie aufwenden als etwa Juristen oder Diplom-Kaufleute“ (Winterhager); darüber hinaus würden sich ihre Chancen bei einer Wirtschafts-Rezession rapide verschlechtern. Hilfe von seiten des Deutschen Politologenverbandes ist nach dessen bisheriger Passivität kaum zu erwarten.

Dieser Verband, nach Ansicht der „Frankfurter Rundschau“ eher ein „konservativer Veteranenverein“, besteht aus 250 Mitgliedern, die ängstlich darauf bedacht sind, ihren Studenten kein Stimmrecht einzuräumen.

Ralf Dahrendorf jedenfalls meint, daß „noch der konservativste Soziologe für den ernsthaft Konservativen ein Störenfried sein muß: weil er vom Unaussprechlichen redet und damit das Überleben des Bestehenden schon gefährdet“. Er hält die Praxis der Soziologie für „eine immer schon verändernde“.

Der SDS geht weiter. Für ihn ist es „zweifellos wichtig, Schmidt (gemeint ist Helmut Schmidt, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion) weiterhin mit Stinkbomben zu bewerfen. Aber die revolutionäre Bewegung ist inzwischen so weit vorangeschritten, daß diese Funktion nicht mehr von brotlosen Soziologen, sondern von „anständigen Berufen‘ wie Lehrern, Medizinern und anderen Gruppen ausgeübt werden kann“: Soziologie im Nebenfach.

25.08.1969

„Mit dem Latein am Ende“

9. Fortsetzung

„Geschicktere und bessere Untertanen zu erziehen“ — darin sah Friedrich der Große die Aufgaben eines Schulmeisters. Und schon damals fragte Johann Gottfried Herder: „Wer hat ein mühsameres Amt als ein Schullehrer? … Und welches Amt im Staat ist, wie das seinige, so gar ohne Lohn und Ehre?“

Ehre wurde den Volksschullehrern nur zuteil, soweit sie Untertanen züchteten. Nach der Revolution von 1848 aber galten sie als „Erzwühler des Volkes“ und „politische Verbrecher“, als „Galgenvögel … aufgeblasen wie die Feuerkröten“ (so ein Graf Pfeil 1850 in Schlesien). Wie ihnen Friedrich Wilhelm IV. „Afterbildung“ nachsagte, klassifizierte Adolf Hitler sie als „Dreckfinken“ und „ein ganz besonders dummes und unselbständiges geistiges Proletariat“.

Ihr Lohn war immer kärglich. Volksschullehrer nährten sich (Verfügung von 1736) von Alimenten („Dem Schulmeister eine Kuh und ein Kalb, ein paar Schweine und etwas Federvieh“), Spenden („Der zweite Klingelbeutel ist vor die Schulmeister“) und Almosen; sie aßen „mittels des Wandeltisches oder der Beköstigung im Reihen-Umgang“ — so verfügte es die Regierung der preußischen Stadt Arnsberg 1817.

Volksschullehrer wurden vor rund 200 Jahren mit Nachtwächtern und Kuhhirten gleichgesetzt, ersuchten 1890 untertänigst darum, „mit den Subalternbeamten erster Klasse“ gleichgestellt zu werden, und zu Anfang dieses Jahrhunderts wurden sie besoldet wie Pförtner und Kanzleidiener.

Heute werden sie, 155 205 an der Zahl, von allen Pädagogen am schlechtesten bezahlt. Gering blieb — auch das ein Erbstück deutschen Bildungsdünkels — das Ansehen der Volksschullehrer, die immer noch fast 75 Prozent aller Deutschen ausbilden und 100 Prozent bis zum 10. Lebensjahr.

Da „die meisten Leute Volksschüler und Volksschullehrer für etwas Minderes halten“ (so der Frankfurter Didaktik-Professor Erwin Schwartz), rangiert der Pädagogen-Beruf „in der öffentlichen Wertschätzung als unterster Grenzberuf der sozialen Oberschicht“ (so der Frankfurter Bildungsökonom Hasso von Recum); er rangiert hinter Professoren, Ärzten, Studienräten, Pfarrern, Großbauern und Offizieren.

Es ist bezeichnend für das seit eh und je erschütterte Selbstbewußtsein dieser Berufsgruppe, daß — so eine Umfrage — die Hälfte aller weiblichen Lehrkräfte an Volksschulen nicht als Lehrerinnen erkannt werden möchte und daß ein Drittel von ihnen den Beruf nicht ein zweites Mal wählen würde. Den deutschen Volksschullehrern eignet, was der frühere Generalbundesanwalt Max Güde einmal den deutschen Richtern bescheinigt hat: gebrochenes Rückgrat.

Wohl hat sich noch etwas von der idyllischen Vorstellung erhalten, der Volksschullehrer sei „ein ganzer Mensch, der die Singstunde leitet und Geschichte vorträgt … ein Mensch, der das Beispiel von Lebensart und Weisheit, Zucht und Güte in sich vereint“ (Pädagogik-Professor Hartmut von Hentig).

Aber wie sehr dieses Scheinbild trügt, erhellt aus dem Urteil des Kieler Pädagogik-Professors Hans Thiersch. Danach fehlt den Volksschullehrern „Souveränität und Distanz; sie handeln aus schul- und schichtspezifischen Ideologien … Diese Verengungen … sind Indiz dafür, daß die Lehrer zur Zeit nicht über ein ihren Aufgaben entsprechendes Könnens- und Verhaltensrepertoire verfügen.“

Das ist schwerlich den Volksschullehrern anzulasten in einer bildungsbornierten Gesellschaft, die Volksschulen weithin noch immer als eine unselbständige schulische Vorstufe mit Zulieferungsfunktion für die höheren Lehranstalten betrachtet und die ihre pädagogischen Leitbilder, so sie welche hat, aus der Pestalozzi-Ära bezieht.

Einem Volk, das Tapferkeit vor dem Feind kreuzweise erster und zweiter Klasse honoriert, mag denn auch selbstverständlich erscheinen, daß es Lehrer erster und zweiter Klasse geben müsse: die Studienräte, die an der Universität ausgebildet werden, und die Volksschullehrer, die ihr Rüstzeug an Pädagogischen Hochschulen (PH) erwerben — wobei entscheidend ist, daß die PH, verglichen mit den Universitäten, etwa das Renommee eines DKW-Zweitakters gegenüber einem Mercedes 300 genießen.

Aus den Trümmern nationalsozialistischer Bildungspolitik entstanden die Pädagogischen Akademien neu: eigenständige Lehrerbildungsanstalten, nun Pädagogische Hochschulen genannt, meist konfessionell ausgerichtet und der Kulturhoheit der Länder unterstellt.

Anfang dieses Jahres gab es außer 26 simultanen PH 19 katholische und zehn evangelische. Und wie zu Zeiten des Reichspräsidenten Hindenburg gibt es „eine erstaunliche Uneinheitlichkeit“ — so der Studienausschuß des Arbeitskreises Pädagogischer Hochschulen — mit „einer Fülle von Abwandlungen und Versuchen“.

Mit der konfessionellen Neutralisierung und mit der vollen Integration wäre erreicht, was Volksschullehrer, PH-Professoren und PH-Studenten seit Generationen fordern: wissenschaftliche Ausbildung als Vollakademiker.

Deutschlands Volksschullehrer, Jahrhunderte hindurch beschimpft und verhöhnt, zeigen sich entschlossen, die Verachtung der Gesellschaft und die daraus resultierenden Minderwertigkeitsgefühle abzuschütteln. Mehr als die Hälfte, nahezu 80 000 gewerkschaftlich organisiert, sind angetreten zum Kampf für dasselbe Ansehen, das Pädagogen an höheren Schulen genießen. Mit ihnen streiten

* ihre Lehrer: 3000 Professoren, Dozenten und wissenschaftliche Angestellte der PH für Gleichstellung mit den Kollegen an den Universitäten, und

* 60 000 PH-Studenten für die Anerkennung als Vollakademiker.

So forderte der renommierte Pädagogik-Professor Heinrich Roth: „Auch der Volksschullehrer muß die Wissenschaft von Grund auf kennen … Ich empfehle den Durchbruch zur vollen Wissenschaftlichkeit.“

Der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) verlangt: „Grundausbildung und Fortbildung der Lehrer sollen grundsätzlich an wissenschaftlichen Hochschulen erfolgen.“ Und der GEW-Vorsitzende Erich Frister postuliert: „Akademisches Studium an einer wissenschaftlichen Hochschule.“

Professor Ludwig Raiser, ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftsrates, erkannte, die Volksschullehrer „drängen mit Vehemenz an die Universitäten. Je länger ich das beobachte, um so deutlicher wird mir, daß Proteste der Universitäten gar nichts mehr nützen“.

Freilich, da dem deutschen Bildungsbürger nur als gebildet gilt, wer sein Studium an der Universität vollendet hat, suchen deutsche Volksschul-Pädagogen ihr Sozialprestige zu bessern, indem sie — fälschlich — Universität und Wissenschaft als Synonyme gebrauchen.

Obgleich „die Universität, wie sie heute ist, eine optimale Ausbildung aller Lehrer mit Sicherheit nicht leisten“ kann (Professor Erwin Schwartz; siebe SPIEGEL-Interview Seite 113), gerieren sich PH-Dozenten wie Universitätsprofessoren und üben sich im akademischen Gehabe der traditionellen Universität.

Damit geraten angehende Volksschullehrer in denselben Sog, der die Studienrats-Ausbildung so fragwürdig erscheinen läßt (SPIEGEL 31/1969). Im Sommersemester 1969 beschäftigten sich PH-Studenten, als wollten sie Germanisten werden, mit mittelhochdeutscher Lektüre (Nibelungenlied) und Goethes Faust ebenso wie mit Hölderlins späten Hymnen und mit Schillers Schriften zur Philosophie und Kunst.

Sie studierten die „Malerei der Ägypter, Griechen und Römer“ und versuchten in Mathematik den „Unendlichkeitsbegriff in projektiver, mengentheoretischer, euklidischer, hyperbolischer und anderer mathematischer Darstellung“ zu begreifen, in Musik die „Sonate und Sinfonie der Klassik“.

Wie ihre Lehrer wissen sie, daß derartige Themen so gut wie nie in Grund- und Hauptschule zu unterrichten sind. Dennoch lesen sie die Philosophen: Platos Dialoge, Friedrich Hegels „Philosophische Propädeutik“ Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“, das Hauptwerk deutscher idealistischer Philosophie.

Die PH übernehmen immer stärker denselben schulfremden Wissenschaftsbetrieb, unter dem Lehrerstudenten an Universitäten seit langem leiden: das Studium abgelegener und abwegiger Gebiete.

„Schon nicht mehr Fiktion. sondern Maskerade bestimmt das Gesicht der pädagogischen Institute, an denen der wichtigste aller Bildungsstände, der Volksschullehrer, für seinen Beruf vorbereitet wird“, urteilt der Göttinger Germanist Professor Walther Killy. „Hier spielt man Hochschule um jeden Preis — oder vielmehr um den billigsten, nämlich den der Übernahme äußerer Formen und entleerter Begriffe von Wissenschaft.“

Götz Harbsmeier („Ich war selbst zehn Jahre lang mit Freuden Lehrer an einer PH“) findet, „die ganz Törichten“ unter den PH-Studenten „nehmen diese ganze sterile Wissenschaftlichkeitsdebatte zum Anlaß für albernen Akademikerstolz und spielen das Spiel der Scientifizierung im Ernst mit nachgemachten Formen und Formeln“.

Und Albert Huth, Professor für Psychologie an der PH München-Pasing, wies darauf hin, daß bereits heute „die Erziehungswissenschaften teilweise betont ‚wissenschaftlich‘ (d. h. schulfremd) … vorgetragen werden, oft ohne jede Beziehung zum Schulleben“.

Eine optimale Ausbildung der Grund- und Hauptschullehrer kann — wie Professor Erwin Schwartz meint — die Alma mater gegenwärtig nicht bieten. Das wäre erst Aufgabe einer an Haupt und Gliedern reformierten Universität,

In fachübergreifender Arbeit mit Soziologen und Psychologen könnten an den Universitäten pädagogische Modelle entwickelt und Grundbegriffe pädagogischer Forschung definiert werden, die künftig den Lehrern aller Stufen — von der ersten Klasse bis zur Oberprima — Nutzen bringen würden. Denn die Pädagogik ist wie die übrigen Sozialwissenschaften auf Kooperation angewiesen und von sich aus noch nicht in der Lage, das „erforderliche wissenschaftliche Rüstzeug in der Form von gesicherten Erkenntnissen und erprobten Methoden bereitzustellen“, wie der Hamburger Pädagogik-Professor Gottfried Hausmann bereitwillig einräumt.

So sind unter deutschen Pädagogen wichtige Grundbegriffe noch immer umstritten — etwa der Begriff Begabung. Was darunter zu verstehen ist, schwankt zwischen „naturhaft vorgegebenen Gaben“ (PH-Dozent Walter Hammel) und der sichtbar erfolgreichen Aneignung kultureller Leistungsformen (Universitäts-Professor Heinrich Roth).

Ungeklärt ist auch, was mit dem zentralen Begriff Didaktik verbunden wird. Nach dem von Pädagogik-Professor Hans-Hermann Groothoff (Universität Köln) herausgegebenen Pädagogik-Lexikon gibt es vier verschiedene Definitionen.

Auch die Verfahren der Auslese für die weiterführenden Schulen sind noch immer „ein offenes Feld für die Diskussion“ (so der Diplom-Psychologe und Universitäts-Professor Udo Undeutsch). Und der ehemalige Volksschullehrer und gegenwärtige Abteilungsdirektor am Pädagogischen Zentrum in Berlin Karlheinz Ingenkamp (Spezialgebiet: Tests) beklagt den „erheblichen Rückstand“ des deutschen Schulwesens in der Kenntnis der Testmethodik und -praxis“, die allein sichere Auslese gewährleisten würde.

Solche Fragen werden um so bedeutsamer, je deutlicher wird, daß die Schule, so Soziologe Helmut Schelsky, „zur ersten und damit entscheidenden zentralen sozialen Dirigierstelle für die künftige soziale Sicherheit, für den künftigen sozialen Rang“ gerät — eine Dirigierstelle, die noch in aller Regel falsch dirigiert.

Das westdeutsche Schulsystem verwehrt den Schülern Chancengleichheit; es befördert 36,6 Prozent Akademiker-Kinder auf die Universitäten, aber nur 5,7 Prozent Arbeiter-Kinder. Es wird der geistigen Entwicklung und der speziellen Begabung der Schüler nicht gerecht, indem es an Jahrgangs- anstelle von Leistungsklassen festhält. Die Schule differenziert das Stoffangebot nicht hinreichend und gibt sich statt dessen dem „Mythos“ hin, „daß eine allseitige Entfaltung der Persönlichkeit des Schülers durch Erwerb enzyklopädischen Wissens möglich“ sei (so ein Autoren-Kollektiv in der Broschüre „Die demokratische Leistungsschule“).

Damit wird die heutige Volksschule im Kern nicht den Bedürfnissen der Industriegesellschaft gerecht, die darauf angewiesen ist, daß jedermann, seinen Fähigkeiten und Begabungen entsprechend gefördert wird — was einerseits den größten ökonomischen Nutzen verspräche und andererseits dem einzelnen Genugtuung und Selbstbestätigung verschaffen würde.

Einsichtige Bildungspolitiker und Schulplaner haben denn auch erkannt, daß die „soziale Dirigierstelle“ anders konzipiert und konstruiert werden muß: Abschaffung des jetzigen dreigliedrigen Schulsystems (Volksschule, Realschule, Oberschule) — statt dessen Einführung der Gesamtschule, wir sie etwa in Schweden bereits existiert.

Die Gesamtschule würde sich in Leistungsklassen gliedern und von der ersten Klasse bis zur Hochschulreife führen. Jeder Schüler erreicht den Schulabschluß, der seinen Leistungen und seiner Begabung entspricht — ohne daß er von vornherein auf einen bestimmten Abschluß festgelegt würde. Versuche mit Gesamtschul-Modellen verschiedener Art gibt es bereits in allen Bundesländern außer in Schleswig-Holstein und dem Saarland.

Wenn dies der Schultyp der Zukunft ist, wofür alles spricht, dann erscheint die getrennte Lehrerausbildung vollends widersinnig. Denn in der Gesamtschule müßte von jedem Lehrer — ob er Schulanfänger, Mittelklassen oder Abiturienten unterrichtet — ein gleich großes Maß an Kenntnissen und Fertigkeiten in Pädagogik, Psychologie und Didaktik gefordert werden. Längst ist, so Pädagoge Heinrich Roth, „die Zeit des ‚geborenen Lehrers‘ … vorüber. Die Aufgabe des Lehrers ist zu kompliziert geworden, als daß er sie noch mit instinktiven Impulsen und dem gesunden Menschenverstand lösen könnte.“

Die Ausbildung für den Fachunterricht (Englisch, Chemie, Physik etwa) müßte hingegen je nach Schulstufe unterschiedlich intensiv sein. Der Lehrer, der Schulanfängern Lesen und Schreiben beibringt, benötigt keine einführende Vorlesung in Thomas Manns „Zauberberg“ oder Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“; seine Abiturkenntnisse in Deutsch sollten ausreichen. Wer in der Abschlußklasse Mathematik unterrichtet und zeigen muß, wie Differential-Gleichungen zu lösen sind, benötigt nach wie vor eine qualifizierte Fachausbildung.

Erst wenn der Unterricht in den Anfängerklassen, wo das schulische Fundament für die Gesamtentwicklung des Kindes gelegt wird, für genauso wichtig genommen wird wie die Vorbereitung auf das Abitur, ist ein Ende der „Jahrhundertkämpfe zwischen Studienräten und Volksschullehrern“ (Dahrendorf) um ihren jeweiligen Status abzusehen.

Statt Prestigekämpfe auszutragen, wäre es die vordringliche Aufgabe der Lehrerschaft und der ausbildenden Professoren insgesamt, das erziehungswissenschaftliche Handwerkzeug zu verbessern und im Schulalltag anzuwenden. Denn bisher ist für Lehrer aller Schulen weitgehend Katheder-Weisheit, was der deutsche Bildungsrat als Grundlage zur Schul- und Lehrerbildungsreform im vergangenen Jahr in einer 600seitigen Studie über „Begabung und Lernen“ zusammentragen ließ:

* daß Leistungen in der Schule, seien sie mangelhaft oder ausgezeichnet, zwar auch genetische Ursachen haben, „daß aber ebenso Umweltwirkungen gleichermaßen Gewicht für sich beanspruchen können“ (so die Humangenetiker Dr. Wolfgang Engel und Professor Horst Ritter);

* „daß es im menschlichen Verhalten keine höheren Leistungen gibt, welche im Gefolge der physiologisch-anatomischen Reifung einfach auftauchen“, (so der Konstanzer Psychologie-Professor Hans Aebli), sondern daß jeder Lernschritt einen vorausgehenden bedingt und auf diese Weise unzureichende oder nicht sachgemäße Unterweisungen in der Kindheit auch für den Erwachsenen ein kaum zu beseitigendes Handikap bedeuten;

* daß Kinder zwar über ein individuelles Maß an Vitalität und Energie verfügen, daß es aber zum Großteil „von der jeweiligen Unterrichtsgestaltung (Lehrer, Lehrmittel, Unterrichtsorganisation und Lehrplan) abhängig“ Ist, in welchem Maße dieses natürliche Potential für den Lernprozeß nutzbar gemacht wird (so der Bochumer Psychologie-Professor Heinz Heckhausen);

* daß Chancengleichheit für alle Schüler mit konventionellen Lehrmethoden nicht zu erreichen ist, weil gerade den benachteiligten Kindern aus den unteren sozialen Schichten jene Einstellungen und Interessen fehlen, „die für das schulische Lernen, besonders in weiterführenden Schulen, mit einer geradezu naiven Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden“ (so Pädagogik-Professor Heinrich Roth);

* daß die Bewertungsmaßstäbe der Schule „mannigfachen Fehlerquellen unterworfen“ sind und Zensuren meist nicht mehr bedeuten „als eine individuell unterschiedliche Anmutung, die der Lehrer von bestimmten Merkmalen des Schülers hat“ (so der Berliner Privatdozent Dr. Karlheinz Ingenkamp);

* daß in einem modernen Schulsystem „keine allgemeine Bildung im Sinne gleichmäßiger Leistungsanforderungen in allen Fächern mehr möglich ist, sondern notgedrungen und notwendigerweise zunehmend die Bildung von Leistungsschwerpunkten gestattet werden muß“, je nach der Begabung des Kindes (so der Konstanzer Erziehungswissenschaftler Professor Karl-Heinz Flechsig);

* daß es bei dem ständig anwachsenden Wissensstoff in allen Bereichen weniger darauf ankommt, immer mehr Faktenwissen zu vermitteln. sondern daß der Lehrer vorrangig „eine Übertragbarkeit des Gelernten auf andere Gegenstands- und Denkbereiche fördern und zu produktiv-kreativen Leistungen ermutigen“ muß (so der Göttinger Pädagogik-Doktorand Klaus Riedel);

* daß lernbehinderte Kinder, so sie nur rechtzeitig in Sonderschulen aufgenommen werden, sich „insgesamt in Gesellschaft und Beruf überraschend gut“ bewähren; ein Teil der heute an Sonderschulen überwiesenen Kinder könnte zudem bei entsprechender individueller Förderung „zum Abschluß der Hauptschule geführt werden (so der Kieler Psychologie-Professor Hermann Wegener).

„58 Prozent aller neu eintretenden Lehrer“, so klagte die „Hessische Lehrerzeitung“ im Juni dieses Jahres, üben ihren Beruf ausschließlich oder vornehmlich in der Grundschule aus; aber nur zehn Prozent sind in ihrem Studiengang auf diese Tätigkeit vorbereitet worden.

Geld, Prestige und akademische Würden — wenn es nur um eine solche Aufbesserung des sozialen Status ginge, bliebe ein wesentliches Stück Bildungsreform ausgespart: die Schule neuen Typs, die einen neuen Lehrer braucht (nicht Studienräte. die sich als Privatgelehrte verstehen, nicht Volksschullehrer, die sich als pädagogische Flickschuster mißachtet fühlen).

Der fortschrittliche Berliner Schulsenator Carl-Heinz Evers erkennt, „daß der deutsche Bildungsnotstand zwei Komponenten hat: eine äußere in Form des Fehlens von Lehrern, Räumen und Geld und eine innere Komponente, die ich als Modernitätsrückstand bezeichne und die sich durch mangelnde Ergiebigkeit, durch das Begünstigen von Bildungsressentiments, durch einen verordneten, oft wirklichkeitsfernen Unterrichtsstil und durch einen letztlich inhumanen pädagogischen Ansatz ausdrückt. Wenn wir uns zur Reform an Haupt und Gliedern anschicken, dann müssen alle unsere kleinen Schritte an einem Ziel, an einem Bild der Schule von morgen orientiert sein.“

Das Bild von heute ist düster: Deutschlands Lehrer studieren in überfüllten Hörsälen und unterrichten in überfüllten Klassen. Weltfremd und praxisfern ausgebildet verlassen sie die Universitäten und Hochschulen, mit dem unnötigen Ballast spezieller Wissensgebiete befrachtet, doch als Ignoranten in elementaren Bereichen der Schule.

Sie wissen zuwenig von der Psyche der Kinder und von der Arbeit im Sprachlabor, sie dilettieren in Pädagogik und Psychologie ebenso wie in modernen Unterrichtsmethoden.

Wie ihre Professoren an Pädagogischen Hochschulen leiden Lehrer an Grund- und Hauptschulen unter Prestige-Neurosen: Sie selbst bewerten ihr Ansehen eher noch niedriger als die Gesellschaft. Wie die Professoren an Universitäten krampfen sich Lehrer an höheren Schulen am schwindenden Ansehen ihres Standes fest.

Gleich jedoch sind beiden Lehrersparten tiefe Unlustgefühle bei ihrer pädagogischen Arbeit. Denn alle Lehrer wissen: Sie sind schlecht ausgebildet und haben deshalb anfangs oft Angst vor dem Unterricht.

Alten Lehrern erstarrt die Arbeit in zu großen Klassen mit der ungewohnt unruhigen Jugend zur Routine; aus Pädagogen werden verknöcherte Beamte, unwillig, weil desinteressiert an den Problemen der Kinder.

Studienassessoren, die mit 30 Jahren ihr erstes Gehalt verdienen, wollen vor allem eins: Ruhe. Nach oft ärmlicher Studienzeit, in der sie sich den Ansichten ihrer Professoren anpassen mußten, und nach den Notjahren als Referendare, in denen sie oft die fragwürdigen pädagogischen Methoden ihrer Mentoren zu kopieren hatten, ist ihnen nahezu alles egal.

Gebiete, die sie nicht kennen, wollen sie sich nun nicht mehr erarbeiten für didaktische Fragen haben sie kaum noch Interesse, für demokratische Behandlung ihrer Schüler fehlt ihnen — bisher selber autoritär gegängelt — oft das Verständnis.

Selten nur vermag ein derart ausgebildeter Junglehrer den Kreislauf zwischen obrigkeitlicher Schule und obrigkeitlicher Universität zu durchbrechen. Seine Fehler und Schwächen projiziert er auf die Schüler.

01.09.1969

„Mit dem Latein am Ende“

10. Fortsetzung

Keine Vorlesungen an den deutschen Universitäten sind so überbelegt, in keiner Fakultät fallen in jedem Semester so viele Kandidaten durch die Prüfung wie bei den Volks- und Betriebswirten. In keinem anderen Fachbereich ist das Elend der deutschen Universität sichtbarer.

Dennoch sind die Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen (Wiso-)Fakultäten Oasen der Ruhe. An den jungen Ökonomen liegt es gewiß nicht, daß Deutschlands Universitäten heute als Brutstätten des revolutionären Aufbruchs gelten. Jene Wissenschaft, die sich mehr als hundert Jahre lang als politische verstand und zu deren führenden Geistern die französischen Frühsozialisten Claude Henri Samt-Simon und Pièrre Joseph Proudhon, der britische Verteilungstheoretiker David Ricardo, Karl Marx, der Entlarver des Kapitalismus, und John Maynard Keynes, der Retter des Kapitalismus, zählen, hat in der Bundesrepublik kein politisches Gesicht.

„Deutschlands angehende Volks- und Betriebswirte“, so das Fachblatt „Der Volkswirt“, „werfen keine Steine. Sie bereiten sich vielmehr auf reputierliche Positionen im kapitalistischen Establishment vor.“

Die Universität gilt ihnen als eine Art Schnellaufzug in die Beletage des Erfolgs; sie sind, wie der Heidelberger Nationalökonom Professor Wilhelm Kromphardt schrieb, „nicht wissenschaftsorientiert“ sondern diplomorientiert“. Der Hamburger Statistiklehrer Professor Harald Scherf meinte: „Ökonomen sind eben Ökonomen. Sie wollen Examen machen und Geld verdienen.“

Ob freilich das Studium der Nationalökonomie und der Betriebswirtschaftslehre die Absolventen zum ersehnten Platz in den hochbezahlten Entscheidungsgremien von Wirtschaft und Exekutive führt, muß bezweifelt werden. Denn die Institutionen, die ihre Kandidaten für den Erwerb von Reichtum und Erfolg präparieren sollen, leben selbst in den allerbescheidensten Verhältnissen.

Rund 35 000 künftige Nationalökonomen, Diplom-Kaufleute und Handelsschullehrer studieren derzeit an 21 deutschen Universitäten und sechs Technischen Hochschulen. Sie stellen allein fast 14 Prozent aller Studenten, aber für ihren Unterricht stehen nur sechs Prozent aller Ordinarien zur Verfügung.

Im Wintersemester 1965/66 fiel fast ein Viertel aller betriebswirtschaftlichen Prüfungskandidaten durch das Examen. Bei den Volkswirten versagte sogar jeder dritte Diplom-Anwärter. Etwa 20 Prozent der Studierenden bringt es nicht einmal zu Kandidaten-Ehren, weil sie schon vorher kapitulieren.

Von allen 1751 Studenten, denen die Prüfungskommissionen im Frühjahr 1966 per Einschreiben die Mitteilung „nicht bestanden“ zustellen ließen, war jeder vierte ein Volks- oder Betriebswirt.

An den Diplomen, deren Erwerb so schwierig erscheint, hängt kein Berechtigungsschein für finanziellen Erfolg. Nur etwa 20 Prozent der Führungspositionen in hundert nordrhein-westfälischen Industriebetrieben, so ermittelte die Kölner Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik“ sind mit Wirtschaftsakademikern besetzt.

Die Geschäftsleitungen von Banken und Versicherungen suchen ihren Führungsnachwuchs in seltenen Fällen unter den Volks- und Betriebswirten, noch seltener in ihren eigenen reichlich besetzten volkswirtschaftlichen Abteilungen. Nur 2,8 Prozent der führenden Banker sind Wirtschaftswissenschaftler, 63,9 Prozent der Führungskräfte aber sind Nichtakademiker. In der Spitze der Assekuranz sitzen zu 74 Prozent Nichtstudierte, nur 4,9 Prozent der leitenden Angestellten sind Volks- oder Betriebswirte.

„Der Staat“, so schrieb der verstorbene Münchner Ordinarius Erich Preiser, einer der wenigen deutschen Volkswirtschafts-Professoren“ der wie die angelsächsischen Gelehrten sein Fach auch Laien verständlich darstellen konnte, „hat die Verantwortung für stetiges Wachstum und sozialen Frieden — er braucht dazu den Nationalökonomen.“

„Die Ideen der Ökonomen und politischen Philosophen, ob sie richtig sind oder falsch“, so schrieb der britische Wirtschaftstheoretiker John Maynard Keynes, der die moderne Antikrisenpolitik entwickelte, „regieren die Welt.“ Im Deutschland des Dr. Karl Marx, der wie kein anderer Nationalökonom die Welt verändert hat, aber werden die Wirtschaftswissenschaften gering geachtet. In der deutschen Politik haben nationalökonomische Erkenntnisse erst seit dem Einzug des Hamburger Ordinarius für Volkswirtschaftslehre, Karl Schiller, in das Bonner Wirtschaftsministerium einen Stellenwert. Sein Vorläufer Ludwig Erhard hatte noch geglaubt, seine Geschäfte mit der „Souveränität eines freischaffenden Künstlers“ betreiben zu können. Karl Schiller: „Naive Wirtschaftspolitik.“

Tatsächlich verstehen ausgelernte Wirtschaftsstudenten heute von der Nationalökonomie erheblich mehr als Ludwig Erhard und sein konservativliberaler Anhang. Für die Auf gaben der Praxis aber sind sie schlecht gerüstet.

Das evangelische „Sonntagsblatt“ warf den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten vor, sie seien „Diplom-Fabriken, die haarscharf an der Praxis vorbeiproduzieren“.

Hingegen beklagt die kleine Gruppe der linken Wiso-Studenten gerade, daß ihre Ausbildung sich allzusehr nach der „Verwertbarkeit der Kenntnisse“ bemesse. Die SHB-Gruppe der Hamburger Fachschaft erklärte, „das Studium an der kapitalistischen Fakultät“ sei „ohne politische Relevanz“. Gelehrt und gelernt werde bestenfalls, „was der Markt nachfragt“ und die schlechten Studienbedingungen sind der Preis, den der Bewerber zahlen muß“.

Nur in Deutschland ist die Ökonomie in die zwei streng geschiedenen Teilbereiche Nationalökonomie und Betriebswirtschaftslehre gespalten, deren ordinierte Vertreter meist weder miteinander reden können noch wollen.

In der Praxis, so berichtete Manfred Wahl, Geschäftsführer der deutschen IBM-Niederlassung, konkurrieren Volks- und Betriebswirte um die gleichen Positionen. Auf der Universität jedoch lernen sie grundverschiedene Dinge. Volkswirte verstehen nur selten etwas von Kostenrechnung, Finanzierung und von Absatzstrategien. Betriebswirte haben während ihres gesamten Studiums kaum etwas über Inflation, Wirtschaftswachstum oder Währungspolitik gehört. Lediglich zum Examen wird das nötigste Wissen des Schwesterfaches angepaukt.

In keinem Fach, behauptet der Statistiker Harald Scherf, studieren so viele Studenten mit schlechten Abitur-Noten. Gerade die Mindestvoraussetzungen für ein erfolgreiches Ökonomiestudium, gute Englisch- und Mathematik-Kenntnisse, werden laut Scherf von den wenigsten Studenten erfüllt. Der Berufsberater schicke ausgerechnet Abiturienten, die für nichts besonders und für Mathematik schon gar kein Interesse zeigen, an die Wirtschaftsfakultät. Scherf: „Hierzulande studiert kaum ein intelligenter Mensch Ökonomie.“

Die deutschen Professoren freilich haben auch nicht gerade Weltformat. Keine Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät hat den Glanz von Oxford und Cambridge oder das Ansehen der Harvard Business School. Seit 1933 produzierten Deutschlands Wirtschaftsgelehrte kaum etwas von internationalem Rang.

Bis heute hat sich die deutsche Ökonomie nicht von dem Aderlaß, den ihr die Nazis zufügten, erholt. Nach Hitlers Machtübernahme emigrierten fast alle namhaften Hochschullehrer, und kaum einer kehrte an eine westdeutsche Universität zurück.

Durch mehr Geld allein freilich, so meinen die linken Wiso-Studenten, könne das Elend der deutschen Wirtschaftswissenschaften nicht behoben werden. Sie fordern eine neue kritische Ökonomie“ die „bewußt kulturelle, soziale Werte und politische Zielsetzungen in ihre Fragestellungen“ hineinnimmt (SHB-Flugblatt).

Denn die meisten deutschen Gelehrten interessiert nicht, was der Berliner Ökonom Gustav Schmoller 1897, drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen des „Kapital“ von Karl Marx, postulierte: die Volkswirtschaftslehre als „große moralisch-politische Wissenschaft, welche neben der Produktion die Verteilung der Güter, neben den Werterscheinungen die Institutionen untersucht, welche statt der Güter- und Kapitalwelt wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellt“,

Schon Schmollers Zeitgenossen Max Weber und Werner Sombart freilich bestritten, daß der Ökonom auch werten dürfe. „Wir sind der Meinung“, so schrieb Max Weber, „daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.“ Und Sombart spottete: „Für Werte lebt man, für Werte stirbt man, wenn es notwendig ist. Werte aber beweist man nicht. Welchen Sinn hätte es, für etwas, das man als ‚richtig‘ beweisen kann, zu sterben.“

Unter dem Mantel der Wertfreiheit, so klagt die studentische Linke, habe die Wirtschaftswissenschaft seither ein System von Modellanalysen aufgebaut, das die Gesetze der Wirtschaft angeblich neutral untersucht, tatsächlich aber die Rechtfertigungslehre der bestehenden Gesellschaftsordnung, mithin Ideologie sei. Der Ökonom als Gesellschaftswissenschaftler könne sein Studienobjekt, von dem er selbst ein Teil sei, gar nicht so neutral und unbefangen betrachten wie etwa die Forscher in der Physik oder Chemie.

Hinter jedem volkswirtschaftlichen Modell und jeder Aussage verstecke sich daher oft ein ganzes Bündel von Werten und Zielsetzungen „Diese Möglichkeit“, so die SHB-Studenten“ „hat selbst der positivistische Erzvater Max Weber betont, doch von den heutigen Wissenschaftlern wird sie gern unter den Teppich gefegt.“

Noch ärger gehen die Studenten mit der Betriebswirtschaftslehre ins Gericht. In einem Flugblatt mit dem Titel „Ökonomisere“ klagt die Basisgruppe der Hamburger Wiso-Fachschaft, die Betriebswirtschaft sei über ihr Handelshochschulformat nicht hinausgewachsen. Sie sehe immer noch ihre Hauptaufgabe „in der Heranbildung von praxisorientierten Absolventen, was sie mit dünner Theorie verbrämt, ansonsten aber durch fortschreitende Spezialisierung eine Entfremdung des Studenten von der Arbeit und von der Gesamtschau erreicht. Die Weite und Übersicht der Betriebswirte erstreckt sich nur so weit, daß sie mit Hilfe ganz bestimmter ideologisch vorgeprägter Erkenntnisse von Nachbarwissenschaften eigene „Erkenntnisse“ verifizieren können.“

Mit ihrer Kritik stehen die Studenten keineswegs allein. Die heutigen Wirtschaftsgelehrten, so bemängelt etwa der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas, seien zwar gute Technokraten, aber nicht in der Lage, Orientierungshilfen für gesellschaftliche Veränderungen zu liefern.

Werner Hofmann, Ordinarius für Soziologie in Marburg, moniert, die modernen Wirtschaftstheoretiker unterschieden nicht mehr, wie Ricardo und Marx, zwischen „hervorbringender und bloß aneignender Tätigkeit“.

Alles, so der Marburger Soziologe, was einen Marktpreis erziele, werde für wertvoll erachtet. „Der Umstand, daß Einkünfte natürlich auch Hoteliers, Werbeagenturen, Heiratsvermittlungsbüros, Ministern, Zuhältern und Verfassungsschützern zufallen, erscheint als hinreichende Bestätigung für den produktiven Charakter der so entgoltenen Tätigkeit.“ In der neueren Nationalökonomie würden „alle Gruppen der Gesellschaft auf die Position des kalkulierenden, seinen Vorteil suchenden Unternehmers reduziert“. Dadurch, daß sie sich mit dem bestehenden Gesellschaftssystem identifiziere und, „dem Augenschein zum Trotz, die Möglichkeit eines anderen ausschließt, hat sie totalitäre Tendenz erhalten“

Die Ökonomie, so sekundiert der Darmstädter Volkswirtschaftsprofessor Gerhard Kade, habe sich „zu einem Instrument der Herrschaftsstabilisierung entwickelt, das sich heute hinter der Scheinobjektivität eines mathematischen Formalismus“ verstecke.

Der Mannheimer Wissenschaftstheoretiker Hans Albert wirft den Ökonomen sogar vor, ihre Theorien erklärten meist noch nicht einmal die Realität der Marktwirtschaft; ihre Abstraktionen, die sie gegen die Erfahrung immunisieren, seien lediglich „Modellplatonismus“.

Die Fraktion der kritischen Studenten fordert, an deutschen Universitäten müsse wieder Politische Ökonomie gelehrt werden. Die Deutsche Studenten Union in Bonn formulierte jüngst in einem Reformpapier: „Da der wirtschaftliche Prozeß die Politik beeinflußt, und da der gesellschaftliche Wirtschaftsprozeß aufgrund herrschender Lehre gesteuert wird“, müßten die Zusammenhänge „dargestellt und kritisch reflektiert werden.

Nach einem Vorschlag der Wiso-adhoc-Gruppe an der Freien Universität Berlin soll Politische Ökonomie I und II Pflichtfach mit Abschlußprüfung werden. Erwünschte Studienthemen: Ideengeschichte sozialer Bewegungen, moderne Kapitalismus-Kritik, Klassenkampf oder Sozialpartnerschaft.

Auch ein Ausschuß der Bundesassistenten-Konferenz nahm kürzlich während eines „Werkstatt-Seminars“ in Konstanz die Politökonomie in ihren Studien-Vorschlag als Pflichtfach auf. Besonderer Wert wird auf die politischen und gesellschaftlichen Bezüge der Wirtschaftswissenschaft, die Vorläufigkeit aller Hypothesen und die Notwendigkeit einer differenzierten Theorie gelegt. Die Ergebnisse jeder theoretischen Problemlösung müßten im Universitätsunterricht einer „empirischen Prüfung und einer ideologischen Kritik unterzogen werden“.

Bislang haben die Kultusminister der Länder freilich keine ernsthaften Schritte unternommen, die Struktur-Misere der Wiso-Fakultäten“ die Schwächen des Lehrplans und das kapitale Mißverhältnis zwischen der Zahl der Lehrenden und Lernenden zu beseitigen…

08.09.1969

„Mit dem Latein am Ende“

11. Fortsetzung

Deutsche Architekten ernten Ruhm in aller Welt:

* „Menschlichkeit“ bescheinigte die „Times“ Hans Scharoun für „den schönsten Konzertsaal Europas“, die neue Philharmonie in Berlin.

* „Intelligenz“ sah der amerikanische Architektur-Kritiker Wolf von Eckardt in Egon Eiermanns neuem deutschen Botschaftsgebäude in Washington.

* „Eleganz“ erlebten kanadische Besucher an Frei Ottos Kunststoff-Zelt, dem deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal. Über Sepp Rufs Kanzler-Bungalow in Bonn urteilte der Hamburger Architekt Hermann Funke neidlos: „Wer nicht sieht, daß dieses Haus schön ist. muß schon ein sehr dickes Brett vor dem Kopf haben.“

Und die kleine Burg, die sich Deutschlands führender „Brutalist“, Professor Oswald Mathias Ungers, als Heimstatt in Köln errichtete, wertete der britische Architektur-Historiker Reyner Banham als „eines der wenigen qualitätvollen modernen Bauwerke in Nordeuropa“.

Doch deutsche Architekten ernten weit öfter Schande im eigenen Land:

* Als „tot“, „brutal“, „gemein“ empfinden die aus Sanierungsgebieten umgesiedelten Bewohner das West-Berliner „Märkische Viertel“.

* „In dieser Ode gehen wir ein“, klagen Mieter in der Hamburger Wohnsiedlung Lohbrügge-Nord.

* „Das ist keine Stadt“, befanden Karlsruher Architekten über die neuerrichteten Häuser-Haufen in München-Perlach, „sondern eine undifferenzierte Addition von Wohngebieten, in denen das Leben von hunderttausend Menschen auf die Funktionen Arbeiten, Einkaufen und Schlafen reduziert wird.“ Über die Frankfurter Limes-Stadt urteilte der Ulmer Designer Otl Aicher: „An Monotonie nicht zu überbieten.“ Und die neue schwäbische Wohnstadt Aalen fand im Fachblatt „Baumeister“ derart Kritik: „Eine Untat gegen Menschen und Landschaft, entwürdigend und vergeudet.“

Große Würfe, das steht zu erwarten, werden auch Meistern der künftigen Architekten-Generation gelingen. Aber solche Repräsentativbauten, das steht zu befürchten, werden einsame Kristalle im Betonbrei sein.

Denn die jetzt schaffenden, die den Nachwuchs prägenden, die lehrenden Architekten haben weithin resigniert. Ihr überkommener Baumeister-Anspruch wurde an einer Gesellschaft zuschanden, die jedes Jahr mehr als 40 Milliarden Mark für Hochbau ausgibt, aber allenfalls mit Teak-Ramsch „schöner wohnen“ will. Kaum ein anderes Problem, das alle Bürger betrifft. wird so sehr vernachlässigt wie dieses — welche Gehäuse der Mensch in welcher Umwelt jetzt und künftig wirklich braucht. Die vorhandenen unzulänglichen Bauten haben den Blick dafür verstellt, was Architekten mit den modernen Methoden und Materialien leisten sollten.

Die Krise des Architektur-Studiums ist kein speziell bundesdeutsches Problem. Sie zeichnet sich weltweit seit anderthalb Jahrzehnten ab.

Früher reisten Studenten scharenweise zu den Internationalen Kongressen für Moderne Architektur (CIAM), um „zu Füßen ihrer großen Meister zu sitzen“ (Architektur-Historiker Banham). Aber 1956 in Dubrovnik störten die britischen Eheleute Alison und Peter Smithson erstmals die Eintracht mit einem Manifest, in dem sie konstatierten, „daß die Mehrheit der Architekten den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren hat und Träume von gestern errichtet“.

Spätestens seitdem aber wurden auch die Mißstände der Architekten-Ausbildung in der Bundesrepublik offenkundig. Deren „Leitbild ist“, wie Architekt Roland Ostertag aus Leonberg formulierte, „heute wie im 19. Jahrhundert immer noch der freie unabhängige Baukünstler“, oder, wie der junge West-Berliner Architekt Johann Friedrich Geist urteilt, „der in sich gefestigte Dienstleistungsunternehmer“.

Aber selbst für eine solche Stellung werden die Architektur-Studenten nur mangelhaft vorbereitet. Unentwegt hantieren sie in hellen Sälen, tüchtig, beflissen, irregeleitet, mit Tusche und Storchschnabel und Moos-Bäumchen — als würden sie später nie mit profitgeleiteten Bauunternehmern und kleinkarierten Baunutzungsverordnungen konfrontiert.

„Selbstüberschätzung“ und „Größenwahn“ nannte selbst der greise Berliner Professor Edgar Wedepohl, 74, als typische Berufskrankheiten seines Standes, der bei den Bundesbürgern in der Wertschätzung der Berufe an fünfter Stelle steht. Unverblümt forderte deshalb Brutalist Ungers seine Diplomanten auf: „Werfen Sie Ihr Berufsbild über Bord.“ Denn: „Sie finden nur noch Baugesellschaften“ und „werden so bauen, wie die Behörde es verlangt“.

Es wurde versäumt, konstatierte Rolland Ostertag, „Architektur als Umweltgestaltung zu definieren“. Nun soll der Architekt, wie es in Aachen Cornelius van Geisten formulierte, „über die Lage derer nachdenken, die in seinen Wohnungen hausen müssen“ — das wäre die Antwort auf den Vorwurf, den der Frankfurter Psychosomatiker Professor Alexander Mitscherlich erhoben hat: „Sie bauen, ohne ans Wohnen zu denken.“

„Das Bauen der Zukunft kann vollständig ohne Architekten auskommen“, hat der französische Soziologe Michel Ragon geschrieben, „wenn sie damit fortfahren, sich an der Vergangenheit zu orientieren.“

Die Architekten-Ausbildung müsse mobil werden, der Architekt seine Aufgaben neu definieren — oder der Baumeister-Beruf werde „verschwinden, wie so viele andere Berufe verschwunden sind … wie Holzschuhmacher und Laternenanzünder“.

15.09.1969

„Mit dem Latein am Ende“

12. Fortsetzung

Weltweiten Ruhm ernteten einst Deutschlands Naturforscher: Insgesamt 30 deutsche Wissenschaftler — Physiker. Chemiker, Biologen und Mediziner — wurden in den ersten drei Dekaden dieses Jahrhunderts mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Eine Kette glanzvoller Namen kundete von den Erfolgen deutscher Wissenschaft. Studenten aus aller Welt strömten in die Hörsäle der Koryphäen. Forscher von Weltruf wie Niels Bohr oder Ernest Rutherford suchten in Berlin oder Göttingen den Kontakt mit der deutschen Forscher-Garde — mit Albert Einstein und Max Planck, mit Otto Hahn und Max Born.

Vom Goldenen Zeitalter deutscher Naturwissenschaft blieb kaum mehr als die Erinnerung. Rund 2000 prominente Forscher gingen ins Exil, als Hitler die Macht ergriff, und abermals Tausende wurden außer Landes gebracht, als des Führers Krieg verloren war — allein 5000 Techniker und Wissenschaftler wurden in die Sowjet-Union deportiert.

Heute verzeichnen die internationalen Fachblätter nur selten Forschungsberichte deutscher Gelehrter; immer noch verlassen in jedem Jahr rund 400 Forscher die Bundesrepublik; nur elfmal fiel im Vierteljahrhundert seit Kriegsende ein Nobelpreis an deutsche Naturwissenschaftler.

Seit mehr als 20 Jahren, so klagt der Karlsruher Kybernetik-Professor und Kulturkritiker Karl Steinbuch („Falsch programmiert“), werde der Kulturbetrieb in der Bundesrepublik von einer wissenschaftsfeindlichen „Hinterwelt“ regiert. Umnebelt von den Schwaden einer humanistischabendländischen Ideologie, haben die Dunkelmänner der Hinterwelt Deutschlands Naturwissenschaft weiter verkümmern lassen.

Während Amerika den Mond eroberte, wurde in deutschen Oberschulen der naturwissenschaftliche Unterricht reduziert; und Deutschlands Universitäten und Forschungsinstitute, ehemals weltberühmte Elite-Schulen für Junge Naturwissenschaftler, verloren derweil ihren einstigen Rang — sie repräsentieren, so urteilt Steinbuch, nur mehr ein provinzielles „System hoffnungsloser Mittelmäßigkeit“.

Fixiert an „eingefrorene Irrtümer“ und „erfüllt von historischen Denkmodellen“ (Steinbuch), konservieren die Bildungspolitiker der Hinterwelt seit Jahren ein Ausbildungssystem für Naturwissenschaftler, das den Erfordernissen der Gegenwart immer weniger zu genügen vermag:

* Obgleich die Zahl der Studierenden in Mathematik, Physik, Chemie und Biologie seit langem kontinuierlich ansteigt, wuchs die Zahl der Professoren, Dozenten und Assistenten in diesen Fächern nur wenig — die Studenten bleiben während des Studiums weitgehend sich selbst überlassen.

* Obgleich der rapide wachsende Wissensstoff gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern eine sinnvolle Auswahl und Gliederung sowie neue Vermittlungsformen verlangt, blieben die Hochschulen bis heute beim traditionellen Unterrichtsschema — eine Hochschul-Didaktik für Naturwissenschaften existiert bislang nur in Ansätzen.

* Obgleich die überkommenen Lehrfach-Grenzen längst nicht mehr mit der wissenschaftlichen Wirklichkeit übereinstimmen (Physik und Chemie etwa durchdringen einander), basiert die Hochschul-Organisation immer noch auf dem überholten Fächer-System — nur selten und widerwillig finden sich Lehrstuhl-Inhaber und Institutsdirektoren zur Kooperation mit Wissenschaftlern aus benachbarten Fächern bereit.

* Obgleich die komplexen Probleme moderner Forschung die Wissenschaftler zur Team-Arbeit zwingen, dominiert im Lehr- und Forschungsbetrieb immer noch der Geist autoritärer Professoren-Herrschaft — Wissenschaftler aller Rangstufen bleiben bei ihrer Arbeit Gefangene der starren Hochschul-Hierarchie.

* Obgleich die Hochschullehrer die Fülle ihrer Aufgaben kaum mehr bewältigen können, wollen sie jene Doppelrolle nicht preisgeben, die ihnen die Humboldt-Hochschule zuweist: Sie wollen Lehrer und Forscher bleiben — auch wenn sie beide Funktionen zugleich schwerlich zu erfüllen vermögen.

Daß die Professoren und Dozenten der naturwissenschaftlichen Fakultäten ihres Lehramts nur noch nachlässig walten, wird gemeinhin zur ersten Erkenntnis der Studienanfänger. Nach der Immatrikulation finden sich die Studenten von ihren Lehrern alleingelassen: Hilflos und gänzlich unvorbereitet stehen sie vor einer Fülle von Lehrveranstaltungen; ein Studienplan existiert meist nicht, den Weg zur (häufig von Studenten organisierten) Studienberatung finden die Anfänger nur selten — oft erfahren sie nicht einmal, daß es Beratungsstellen gibt.

Freilich, fehlende Studienberatung, mangelnde Hochschul-Didaktik, wissenschaftlicher Hochmut vieler Ordinarien — all das reicht nicht hin, die Frustrationen des Studienbeginns zu erklären. Die Wurzeln der Anfängermisere liegen außerhalb der Universität: Keine Gruppe von Hochschul-Neulingen ist für das Studium schlechter gerüstet als die Studenten der naturwissenschaftlichen Fächer.

Die meisten Abiturienten, die ein naturwissenschaftliches Studium beginnen, sind kaum imstande, auch nur die Umrisse ihres selbstgewählten Fachgebietes zu erkennen.“ Für viele von uns war die Wahl ein Lotteriespiel“, so erinnert sich ein Münchner Chemiestudent — daß sie eine Niete gezogen haben, entdecken manche Studenten erst nach mehreren Semestern.

So lange dauert es oft, bis sie wenigstens die Grundlagen ihres Fachs erlernt haben. Denn die naturwissenschaftlichen Schulkenntnisse reichen oftmals „gerade noch aus, um uns vor dem Wissen zu bewahren, daß wir im Grunde nichts wissen“ — so klagt ein angehender Biologe aus Hamburg.

Wie es um die Schulkenntnisse der angehenden Naturwissenschaftler bestellt ist, hat der Tübinger Botaniker Bünning bei seiner Anfänger-Umfrage ermittelt: Auf die Fragen etwa, aus welchen Elementen Luft sich zusammensetze, wie die chemische Formel der Essigsäure laute oder zu welcher Stoffgruppe Zucker gehöre, konnte nur jeder fünfte Studienanfänger die richtigen Antworten finden. Bei 49 Prozent der Befragten erwiesen sich die Auskünfte als „völlig unzureichend“, bei einem Drittel der Studenten waren die „Kenntnisse einigermaßen befriedigend“.

Noch dürftiger waren die Kenntnisse der Abiturienten auf dem Gebiet der Physik. Befragt nach dem „physikalischen Unterschied von Radio- und Lichtwellen“ etwa, gab die Mehrheit der Uni-Neulinge keine Antwort oder entwickelte „völlig absurde“ Vorstellungen (Bünning), 80 Prozent der Studenten, so konstatierte Bünning, gaben „völlig unzureichend“ Auskunft, 14 Prozent waren „sehr dürftig“ unterrichtet — nur bei sechs von hundert Befragten reichte das physikalische Wissen aus.

In der 13 Jahre dauernden Schulzeit, so resümiert Botaniker Bünning angesichts der kärglichen Kenntnisse seiner Studenten, werde Deutschlands Abiturienten offensichtlich „nicht die richtige Basis zum Studium der Naturwissenschaften“ vermittelt. Statt dessen konzentriere sich die Ausbildung in der Schule zunehmend „auf die sehr speziellen Gebiete, die man in früheren Jahrhunderten als entscheidend wichtig ansah“ — „eine Beschäftigung mit der jetzigen Welt gilt als unfein, einerlei ob es sich um Zeitgeschichte, um die Beherrschung moderner Sprachen oder um Technik und Naturwissenschaften handelt“.

Die Bildungspolitiker in der Bundesrepublik geben sich nach Ansicht Bünnings „krampfhaft Mühe, das Rad immer weiter zurückzudrehen“ — in Richtung auf ein Bildungsideal, das dem Unterricht in sprachlich-humanistischen Fächern eindeutig den Vorrang gibt.

Einen entscheidenden Schritt zurück taten Deutschlands Schulpolitiker im September 1960. In Saarbrücken beschlossen damals die elf Kultusminister der westdeutschen Bundesländer eine „Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien“; der Inhalt dieser sogenannten Saarbrücker Rahmenvereinbarung:

* Die naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer (Physik, Chemie, Biologie) und in den altsprachlichen Gymnasien auch Mathematik gelten in den letzten beiden Schuljahren vor dem Abitur grundsätzlich nicht mehr als Pflichtfächer.

* Die Oberschüler können in der Unterprima einzelne naturwissenschaftliche Fächer „abwählen“; sie müssen lediglich eines dieser Fächer als sogenanntes Wahlpflichtfach bis zum Abitur beibehalten; der Wahlmodus hängt vom Schultyp ab — an altsprachlich-humanistischen Gymnasien können alle naturwissenschaftlichen Fächer abgewählt werden, statt dessen können sich die Schüler für Englisch, Französisch oder auch Russisch als Wahlpflichtfach entscheiden; außerdem kann Mathematik schon vor dem Abitur mit einer Prüfung abgeschlossen werden.

Die Saarbrücker Minister-Runde — sie enthielt keinen einzigen Naturwissenschaftler — deutete ihre Reform-Vereinbarung als einen Versuch, den Unterricht in den Oberstufen der Gymnasien aufzulockern und von vermeintlich störender Fächer-Vielfalt zu befreien. Die Oberschüler sollten Gelegenheit bekommen, sich stärker als bisher auf jene Fächer zu konzentrieren, denen jeweils ihr besonderes Interesse gilt.

„Die Verminderung der Zahl der Pflichtfächer und die Konzentration der Bildungsstoffe“, so verheißt der Vorspann des Abkommens, werde künftig „eine Vertiefung des Unterrichts ermöglichen und die Erziehung des Schülers zu geistiger Selbsttätigkeit und Verantwortung fördern.“

Schulmänner und Hochschullehrer freilich sahen schon 1960 in dem Reformwerk eher eine groteske „Fehlentscheidung“ — so der Gymnasialprofessor Dr. Hans-Helmut Falkenhan aus Würzburg, „Die Unglücksvereinbarung von Saarbrücken“, so prophezeite der Münchner Physik-Ordinarius Edgar Lüscher, werde sich auf den Standard der naturwissenschaftlichen Ausbildung mit Sicherheit verhängnisvoll auswirken. Die DDR-Fachzeitschrift „Biologie in der Schule“ sah Westdeutschlands Gymnasien ins „Mittelalter“ zurückversetzt.

Proteste und Warnungen der Pädagogen und Wissenschaftler blieben ohne Widerhall. Vergebens wandten die Kritiker ein,

* daß der Unterricht in nur einem Wahlfach nicht ausreichen könne, um das Verständnis für naturwissenschaftliche Zusammenhänge zu fördern — es sei vielmehr gerade heute eine notwendige Aufgabe, die zunehmende Verflechtung der verschiedenen Wissensgebiete im naturwissenschaftlichen Unterricht sichtbar zu machen;

* daß erst in den Oberklassen der Gymnasien für die Lehrer eine Möglichkeit bestehe, auf angemessenem Niveau die komplizierten Probleme moderner Naturwissenschaft zu erörtern — aufgrund der Rahmenvereinbarung aber werde die Ausbildung den Mittelstufen-Standard kaum überschreiten;

* daß jeder Abbau des naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Oberstufe die ohnehin bestehende Kluft zwischen Schule und Universität noch vergrößern müsse es werde den Abiturienten künftig an den Voraussetzungen für das Studium fehlen.

Die pessimistischen Prognosen haben sich längst bestätigt. Der Saarbrücker Reform-Beschluß, so konstatierte im April dieses Jahres der Marburger Zoologie-Professor Friedrich Seidel, habe zu einer bildungspolitischen „Katastrophe“ geführt.

Darüber hinaus sei der Bundesrepublik ein kaum überschaubarer Schaden zugefügt worden — zu diesem Urteil kommt der Karlsruher Professor Karl Steinbuch in einer Studie, die er für das Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg anfertigte: „Wenn die Folgen dieser Rahmenvereinbarungen in Mark und Milliarden ausgerechnet werden könnten, dann würden sie zweifellos in kürzester Frist korrigiert werden.“ Da indes „niemand über die unwiederbringlichen Verluste Rechenschaft“ ablegen müsse, werde die „Abwertung der naturwissenschaftlichen Fächer an unseren Gymnasien“ weiterhin „gleichgültig und fahrlässig“ hingenommen.

Welchen Effekt die Bestimmungen der Rahmenvereinbarungen in der Schulpraxis zeitigen, offenbart eine Untersuchung, die im September 1968 in der Fachzeitschrift „Naturwissenschaftliche Rundschau“ erschienen ist. Die Studie, in der das „Wahlverhalten der Gymnasiasten“ an einer Heilbronner Oberschule analysiert wird, kommt zu einem Ergebnis, das den Absichten der Saarbrücker Reform-Väter klar widerspricht.

So ließen sich die Schüler des Heilbronner Gymnasiums keineswegs von wissenschaftlichen Neigungen leiten, als sie sich für ihre Wahlpflichtfächer entschieden. Vielmehr tilgten sie häufig gerade jene Fächer aus ihrem Stundenplan, in denen sie bis dahin besonders gute Leistungen erbracht hatten; zum Wahlfach erkoren sie statt dessen bevorzugt Unterrichtsfächer, in denen sie es nur zu mäßigen Zensuren gebracht hatten.

Hinter solcher scheinbar paradoxen Wahltaktik verbirgt sich die Absicht, den Zensuren-Spiegel im Reifezeugnis von störenden Flecken freizuhalten: Indem die Schüler ihre Glanzfächer abwählen, erhalten sie sich die einmal erreichten guten Noten — die Zensuren werden später ins Abiturzeugnis übernommen. Zugleich können sich die Gymnasiasten fortan auf ihr schlechtes Fach konzentrieren, um auch hier noch eine bessere Abiturnote zu erzielen.

Bei ihrer Wahlpflichtfach-Entscheidung und beim Bemühen, ein möglichst gutes Abi-Zeugnis zu erhalten, richten sich die Oberschüler außerdem oft nach den Zulassungsbedingungen für das Hochschulstudium: An vielen Universitäten besteht ein Numerus clausus für naturwissenschaftliche Studienfächer — die Zulassung hängt meist von einem guten Noten-Durchschnitt im Reifezeugnis ab, gelegentlich auch von der Leistung in bestimmten Fächern.

Der Minister-Beschluß von 1960, so macht die Heilbronner Studie deutlich, hat dazu geführt, daß die Schüler in der Oberstufe deutscher Gymnasien Überwiegend in Fächern ausgebildet werden, für die sie wenig Interesse aufbringen; keine Ausbildung hingegen wird ihnen häufig in jenen Unterrichtsfächern zuteil, für die sie Talent und Neigung besitzen.

Zugleich wurde der (ohnehin dürftige) naturwissenschaftliche Schulunterricht auf ein Mininalmaß reduziert. In den Oberstufen rheinischer Gymnasien, so berichtet der Marburger Biologe Professor Seidel, hörten im Jahr 1963 rund 40 Prozent der Schüler weder Chemie noch Biologie; 25 Prozent der Oberstufen-Schüler erhielten überhaupt keinen naturwissenschaftlichen Unterricht.

Solch widersinnige Schulpolitik hat zur Folge, daß die Abiturienten in der Bundesrepublik immer weniger geneigt sind, ein technisches oder naturwissenschaftliches Studium zu beginnen. Während etwa in Frankreich — einem Land mit ungefähr gleicher Bevölkerungszahl wie Westdeutschland — rund 80000 Studenten eine naturwissenschaftliche Ausbildung erhalten, sind es in der Bundesrepublik gegenwärtig nur 32 000.

Im letzten Jahrzehnt etwa hat sich die Zahl der Chemiestudenten nicht erhöht, obwohl die Gesamtzahl der Studenten in Westdeutschland in dieser Zeit um die Hälfte zugenommen hat.

Nur 25 Prozent aller Studienanfänger, die im letzten Wintersemester mit dem Studium begannen, entschieden sich für Mathematik oder naturwissenschaftliche Fächer. Etwa 12 Prozent der Studienanfänger wählten eine ingenieurwissenschaftliche Ausbildung.

In einem hochentwickelten Industrieland wie der Bundesrepublik aber müßten etwa 50 Prozent aller Studenten naturwissenschaftliche und technische Fächer belegen — so jedenfalls urteilt der Münchner Bildungsforscher Alois Stork in einer Studie, die im Mai dieses Jahres erschienen ist. Stork, der an Hand einer Umfrage die „Bildungsabsichten der Abiturienten in Bayern“ untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, daß sich das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlich — technischen Hochschul-Absolventen und Studierenden in anderen Fächern auch künftig nicht verbessern dürfte — trotz weiterhin steigender Studentenzahlen.

Auch in den nächsten Jahren, so prophezeit Stork, werde der Anteil der Naturwissenschaftler an westdeutschen Hochschulen kaum steigen — der Anteil an Ingenieurstudenten werde vermutlich sogar zurückgehen. Für die Scheu der Studenten vor Labors und Reißbrettern glaubt Stork eine Erklärung gefunden zu haben: Es habe sich bei den Abiturienten „herumgesprochen“, daß „diese Studien einfach schwieriger, geregelter und disziplinierter sind als andere“.

In einem Bericht des Umfrage-Instituts „infratest“ wird die Stimmungslage der Jung-Akademiker so umschrieben: „Viele von ihnen befinden sich offenbar in einem Zustand, der kaum noch mit Unzufriedenheit charakterisiert werden kann — Hoffnungslosigkeit, ja Demoralisierung dürften ihn besser beschreiben.“

Auch viele Studenten haben den Glauben an eine rasche Reform des desolaten Ausbildungssystems

aufgegeben. Immer häufiger schließen sich an westdeutschen Universitäten angehende Naturwissenschaftler zu Experimentier-Gruppen zusammen, die neue Formen der Ausbildung erproben.

Physikstudenten in Hamburg haben damit begonnen, den Unterrichtsstoff anhand von Lehrbüchern gemeinsam durchzuarbeiten und zu diskutieren. Ihre Lehrer wählen die Schüler selber — ältere Semester oder Assistenten, die den Anfängern bei ihrem Selbststudium weiterhelfen.

Die Assistenten, unzufrieden wie die Studenten, teilten auch Seminarscheine aus. Zensuren schrieben sie nicht darauf.

22.09.1969

„Mit dem Latein am Ende“

13. Fortsetzung

Wahlredner verkünden die frohe Botschaft auf allen Marktplätzen: Nie ging es den Deutschen so gut wie heute — im 25. Jahr seit Kriegsende.

„Größer als jemals zuvor in einer ähnlichen Zeitspanne“, so rühmt Bundesforschungsminister Gerhard Stoltenberg, sei in den letzten 20 Jahren „der soziale Aufstieg breiter Volksschichten“ gewesen; und unaufhaltsam werde der Wohlstand der Deutschen auch künftig weiterwachsen — „manchen pessimistischen Prognosen“ zum Trotz.

Für den Weg der Bundesrepublik in eine goldene Zukunft formuliert Stoltenberg den Marschbefehl: „An der vordersten Front der Forschung und Entwicklung“ müsse Westdeutschland „eigene Leistungen“ vollbringen — denn „wie wir im letzten Drittel unseres Jahrhunderts leben werden, hängt entscheidend davon ab, was wir heute für die Forschung tun“.

Was in der Bundesrepublik heute für Forschung und Entwicklung getan wird, läßt die Parole vom unaufhaltsamen Aufstieg Deutschlands als schiere Augenwischerei erscheinen. So kärglich blieben nach dem Krieg die Aufwendungen für Forschung und Wissenschaft, daß fachkundige Kritiker wie etwa der Karlsruher Kybernetik-Professor Karl Steinbuch fürchten, Westdeutschland könnte sich bis zum Jahre 2000 „dem Zustand eines unterentwickelten Landes“ genähert haben.

Nur mühsam gelingt es den Bonner Wissenschaftspolitikern, wenigstens einige Glanzlichter aufzusetzen: Auf dem Sektor der Kernforschung und des Reaktorbaus, so vermerkt ein vom Stoltenberg-Ministerium herausgegebener Wahlprospekt“ sei den deutschen Physikern immerhin ein „Durchbruch“ gelungen — „bahnbrechend“ sei dabei „die großzügige Förderung durch den Staat“ gewesen.

Neutrale Beobacher sehen es anders: Experten der weltweiten Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) konstatierten 1968, es gebe „kein Gebiet der Wissenschaft mehr, in dem Deutschland als führend bezeichnet werden könnte“; Hauptgrund für den deutschen Rückstand sei „die Vernachlässigung von seiten des Staates“.

Die OECD-Statistiker ermittelten, daß die Bundesrepublik für den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt seit langem einen weit geringeren Anteil ihres Einkommens ausgibt als fast alle übrigen Industrienationen:

* 1967 investierte der Bonner Staat 1,94 Prozent des westdeutschen Bruttosozialprodukts in Forschungs- und Entwicklungsprojekte; nur wenige Jahre zuvor erreichte der Betrag kaum mehr als ein Prozent des Nationaleinkommens.

* In den USA und in der Sowjet-Union hingegen betrugen 1967 die Forschungsausgaben jeweils etwa drei Prozent, in Frankreich und Großbritannien je 2,3 Prozent des Bruttosozialprodukts.

Dieser Vorsprung gegenüber den dürftigen Aufwendungen der Bundesrepublik hat längst dazu geführt, daß der wissenschaftliche und technologische Standard Westdeutschlands einem internationalen Vergleich nur noch schwer standzuhalten vermag:

* Immer häufiger sind westdeutsche Industriefirmen gezwungen, Erfindungen und technische Neuerungen im Ausland einzukaufen — 768 Millionen Mark zahlte die deutsche Wirtschaft 1967 für ausländische Patente und Lizenzen, der Export Oben: In Garching bei München. Unten: Bei einem Besuch in einem Münchner Strahlenforschungsinstitut.

eigener Ideen brachte ihr nur 359 Millionen Mark ein.

* In vielen zukunftsträchtigen Branchen können sich die westdeutschen Firmen der ausländischen Konkurrenz kaum mehr erwehren; so stammen 80 Prozent aller Computer, die in der Bundesrepublik verkauft oder vermietet werden, von amerikanischen Elektronikfirmen; die US-Hersteller sind den Deutschen gegenüber eindeutig im Vorteil — während sich in Amerika der Staat mit einem Anteil von 62 Prozent an den Forschungsausgaben der Computer-Industrie beteiligte, zahlte Bonn den heimischen Elektronikfirmen nur vier Prozent der Entwicklungskosten.

* In Westdeutschland arbeiten weniger Forscher als in den meisten anderen Industrieländern; auf je 10000 Einwohnern kommen in den USA etwa 25 Wissenschaftler, in der Bundesrepublik dagegen nur sechs; während in Amerika insgesamt 435 000 und in der Sowjet-Union 416 000 Techniker und Wissenschaftler arbeiten, verfügt die Bundesrepublik nur über etwa 40 000 Physiker, Chemiker und Ingenieure.

* Das westdeutsche Forscher-Defizit wird sich auf absehbare Zeit kaum ausgleichen lassen; von jeweils 10000 Bundesbürgern besuchen nur 45 die Universität in den USA studieren hingegen 200, in der Sowjet-Union 117 von je 10 000 Einwohnern) und während sich nur drei von zehn westdeutschen Studienanfängern für ein naturwissenschaftliches Fach entscheiden, stellen in den USA und der Sowjet-Union die Studenten der Naturwissenschaften die Hälfte des akademischen Nachwuchses.

Vor dem Hintergrund derart beklemmender Statistiken bietet sich an Deutschlands Hochschulen ein groteskes und verwirrendes Bild: Trotz der vergleichsweise niedrigen Studentenzahlen sind die Universitäten überfüllt; obgleich der Bedarf an Physikern, Mathematikern, Chemikern und Technikern in den nächsten Jahren mit Sicherheit ansteigen wird, bestehen an vielen westdeutschen Hochschulen Zulassungsschranken für naturwissenschaftliche und technische Disziplinen.

Und trotz solch offenkundigen Notstands erhält sich in der Bundesregierung ein Hochschulsystem, das seit seiner Entstehung vor mehr als 150 Jahren den Bedürfnissen der naturwissenschaftlichen Forschung immer weniger gerecht zu werden vermag und das eine optimale Ausbildung von Naturwissenschaftlern und Technikern längst nicht mehr gewährleisten kann.

Als hohe Schule der Philosophie, so vermerkt der Kieler Medizinprofessor Enno Freerksen, habe Wilhelm von Humboldt einst das deutsche Universitätsmodell konzipiert, in dessen Zentrum die Forderung nach der Einheit von Lehre und Forschung steht. Als Wissenschaft habe in jener Zeit „ein nahezu geschlossenes System von „Meinungen“ und „Überzeugungen““ gegolten — „philosophisch oder theologisch begründet, nicht selten extrem subjektiv“.

Lehre, so interpretiert Freerksen, bedeute im Sinne Humboldts „Verkündigung von Überzeugungen durch den „Meister“ an seine „Jünger“ — nicht „Weitergabe von Kenntnis und Erfahrung“ in wissenschaftlichen Spezialfächern; und unter Forschung habe Humboldt die gemeinsame Denkarbeit des Philosophen und seiner Schüler verstanden — die Entfaltung eines universellen Gedankengebäudes, nicht empirische und experimentelle Wissenschaft.

In diesem Humboldtschen Hochschul-Modell können nach Ansicht Freerksens die exakten, dem Experiment verpflichteten Naturwissenschaften einen angemessenen Platz kaum finden. Allein der Titel Professor (zu deutsch: Bekenner) widerstreite dem Selbstverständnis des Naturforschers: „Zum wissenschaftlichen Befund“, so konstatiert der Kieler Mediziner, brauche „man sich im naturwissenschaftlichen Bereich nicht zu bekennen“.

Mit der „zunehmenden Dominanz der Naturwissenschaften“ an den Hochschulen habe sich immer deutlicher gezeigt, daß die Grundprinzipien der Humboldt-Universität für Forschung und Ausbildung eher Nachteil als Nutzen brächten; längst habe sich herausgestellt,

* daß die Einheit von Forschung und Lehre zur „Fiktion“ geworden sei; meist bleibe den Professoren neben ihrer Forschungsarbeit kaum Zeit für die Aufgaben des Unterrichts — im Bereich der Naturwissenschaft sei deshalb die Einheit von Forschung und Lehre „sachlich nicht begründbar, praktisch nicht durchführbar und ökonomisch nicht vertretbar“ (Freerksen);

* daß der von Humboldt verlangte enge Kontakt zwischen Lehrer und Schülern nicht mehr möglich, aber auch nicht unbedingt erforderlich sei; die vor allem in den Anfangssemestern erforderliche Vermittlung von umfangreichem Faktenwissen könne auch auf anderem Weg als dem der traditionellen Vorlesung erfolgen (überdies müsse ein guter Forscher nicht notwendig auch ein guter Lehrer sein);

* daß die Humboldtsche akademische Freiheit — des Forschens, Lehrens und Lernens — zumindest für die Studenten der naturwissenschaftlichen Fächer seit langem illusorisch geworden sei; denn nicht allein die Prüfungsordnung reglementiere den Studiengang, auch aus dem folgerichtigen Aufbau des naturwissenschaftlichen Lehrstoffs ergebe sich notwendig ein streng geregelter Studienplan.

Anders als die Studenten in den geisteswissenschaftlichen Fächern sind die angehenden Naturwissenschaftler gezwungen, ihr Studium konsequent aufzubauen: Einem Philosophiestudenten mag es freistehen, ob er sein Studium mit Heidegger oder mit Thomas von Aquino beginnen will; ein Physikstudent aber wird einer Vorlesung über Quantenmechanik nicht folgen können, wenn er nicht zuvor die Grundvorlesungen über Wellenlehre oder Optik gehört hat.

Noch von einer anderen Seite erscheint die akademische Freiheit bedroht: Da die „Intentionen immer größerer Studentenmassen nicht auf Forschung, sondern auf den Beruf gerichtet sind“ (Freerksen), orientieren sich die Jung-Akademiker bei der Wahl ihrer Studienfächer immer häufiger an wissenschaftsfremden Gesichtspunkten.

Aber trotz der breiten Kluft zwischen Humboldt-Idealen und Hochschul-Wirklichkeit blieb das traditionelle Bild der deutschen Universität auch auf dem naturwissenschaftlichen Sektor bis heute nahezu unangetastet. Wie eh und je sind die Studienanfänger darauf angewiesen, bei der Wahl der Vorlesungen, Übungen und Lehrer von der akademischen Freiheit Gebrauch zu machen — obwohl eine solche Freiheit der Wahl nur noch dem Anschein nach besteht.

„Die ganze Ausbildung“, so kritisiert ein Karlsruher Physiker, „wird zum Stafettenlauf durch die Marotten der Professoren, die am Ende des Studiums im Prüfungszimmer warten.“

Unter diesen Umständen scheint das Studium der Naturwissenschaften kaum geeignet, die Entfaltung schlummernder Forscher-Talente in akademischer Freiheit zu fördern. Fixiert an die Lehrmeinungen der Professoren und mit Lernarbeit überhäuft, finden die Studenten zudem nur selten Zeit und Gelegenheit, ihren geistigen Horizont über die engen Grenzen des jeweiligen Fachs hinaus zu erweitern.

Von den Studenten, die das Berliner Institut befragte, glaubten nur etwa zwei Prozent, daß sie ihre Ausbildung in der offiziellen Studienzeit würden beenden können. Rund die Hälfte (49 Prozent) der befragten Physikstudenten nannten als Grund dafür „zu umfangreicher Stoff“.

Nur 46 Prozent der überlasteten Studenten glaubten, daß es möglich sei, auch „Vorlesungen und Seminare“ zu besuchen, „die nicht zu ihrem Fachstudium gehören“. 89 Prozent der Jung-Physiker allerdings wünschten sich fachfremde Anregungen.

Doch die Studenten bleiben nicht nur in ihre Fachgebiete eingeschlossen; sie sind obendrein zu einem passiven Schüler-Dasein verurteilt: Fast bis ans Ende Ihres Studiums wird ihnen ausschließlich Paukarbeit abverlangt, Erst bei den Vorbereitungen für die Diplomprüfung — das Abschlußexamen der Naturwissenschaftler — werden den Studenten Forschungsaufgaben übertragen. Doch auch dann werden die Jungforscher zu selbständigem Denken und Arbeiten kaum ermuntert.

Meist entspricht das Thema der Diplom-Aufgaben nicht oder nur wenig den Neigungen des Studenten — eher richtet es sich nach den Interessen des jeweiligen Ordinarius. Außerdem werden die Diplomanden häufig genötigt, bei der Arbeit möglichst perfekt die Denkweise ihres Professors zu imitieren.

Der Direktor des Hamburger Instituts für Physikalische Chemie beispielsweise gibt hektographierte „Ratschläge“ heraus, die den Freiheitsraum der Jungforscher genau umreißen. Bei der Anfertigung der Diplomarbeit, so fordert der Professor, „soll sich der Verfasser als mein Schüler vorstellen“. Die Arbeit solle „deshalb den Stil widerspiegeln, durch den wir in der Literatur bekannt und anerkannt worden sind“. Diesen Stil müsse der Schüler durch „wiederholtes gründliches Durcharbeiten unserer Publikationen aus den verschiedensten Gebieten“ erlernen — „oder“, so präzisiert der Professor, „man paßt sich ihm an“.

Bei den Vorbereitungen für die Diplomprüfung — wie auch in den naturwissenschaftlichen Übungen und Seminaren — fehlt zudem ein Kennzeichen moderner Forschung: die Arbeit im Team. Kooperation, wie sie unter Wissenschaftlern heute selbstverständlich ist, wird den Nachwuchsforschern meist nicht gestattet. Statt dessen werden sie zur Arbeit in Isolation genötigt — zu einem wirklichkeitsfremden Forscher-Verhalten.

Freilich, ursprünglich diente die Diplomarbeit nicht dem Ziel, die Studenten an die Forschung heranzuführen, Die Diplomprüfung als Abschluß des naturwissenschaftlichen Studiums wurde erst während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten eingeführt. Bis dahin konnte das Studium nur mit der Promotion zum Dr. rer. nat. (Doktor der Naturwissenschaften) abgeschlossen werden.

Die Neuerung sollte dazu dienen, den in Kriegszeiten dringend benötigten Nachschub an Physikern, Chemikern und Technikern sicherzustellen. Die Prüfungsordnung begrenzte die Studiendauer auf acht Semester; den Studenten sollte ein Weg eröffnet werden, die Ausbildung möglichst rasch und ohne die zeitraubende Doktor-Arbeit, aber dennoch mit einem Examen zu beenden.

Ausdrücklich war damals festgelegt worden, daß die neue Diplomprüfungsordnung nur als „vorübergebende Ausnahmeregelung“ zu gelten habe — so hieß es in einem Runderlaß des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung von 1942. in dem eine Neuordnung des Mathematik- und Physikstudiums beschlossen wurde.

Doch die improvisierte Neuordnung ist bis heute in Kraft geblieben — und sie hat sich ins Gegenteil dessen verkehrt, was sie ursprünglich bezwecken sollte: Sie hat zur Verlängerung des Studiums geführt.

Nach dem Krieg wuchsen die Diplomarbeiten namentlich in den Fächern Physik und Chemie zu immer anspruchsvolleren wissenschaftlichen Abhandlungen aus; die Diplomarbeit wurde, wie Kritiker bemängelten, zur „kleinen Doktorarbeit“, Gegenwärtig nimmt die Vorbereitung und Abfassung einer Diplomarbeit in Physik durchschnittlich zwei Jahre in Anspruch,

Zugleich wurde auch für Doktoranden die Diplomarbeit zur stillschweigenden Voraussetzung für die Promotion — offiziell freilich kann die Doktorprüfung auch ohne vorangehendes Diplomexamen abgelegt werden. Damit hat sich auch für die Promovenden die durchschnittliche Ausbildungsdauer erheblich verlängert. Ein Physikstudent etwa, der den Doktorgrad erwerben will, muß derzeit mit einem Studium von acht Semestern, mit zwei Jahren Arbeit für die Diplomprüfung und anschließend noch mit einer drei bis fünfjährigen Vorbereitungszeit für die Promotion rechnen.

Die Einführung der Diplomprüfung war der bislang einzige Versuch, das Studium der Naturwissenschaften am aktuellen Akademiker-Bedarf zu orientieren. Obgleich Industrie und Wirtschaft zunehmend auf qualifizierte Chemiker, Physiker, Biologen und Techniker angewiesen sind, haben sich Westdeutschlands Hochschulen bis heute nicht auf gesellschaftspolitische Bedürfnisse eingestellt.

Und obgleich die Mehrheit der jungen Naturwissenschaftler im Hochschulstudium vor allem eine Berufsausbildung sieht, die auf die Arbeit in der Industrie, in der Wirtschaft oder im Schuldienst vorbereiten soll, orientiert sich die Ausbildung an den Universitäten fast ausschließlich am Idealbild des reinen Wissenschaftlers.

Dabei werden, so kritisiert der Karlsruher Kybernetik-Professor Steinbuch, „Hunderttausende so ausgebildet, wie es dem Bedarf nicht entspricht“. Unterschiedslos werden künftige Chemielehrer, Industriephysiker, Wirtschaftsmathematiker oder Hygiene-Beamte nach demselben praxisfernen Schema geschult — nach einem Studienmodell, das für eine Wissenschaftler-Elite taugt, aber kaum für eine breite Schicht von Gebrauchsakademikern.

Über mangelnde Beziehung des Studiums zur späteren Berufspraxis führen auch die Studenten der Technischen Hochschulen Klage, die überwiegend zu Diplom-Ingenieuren ausgebildet werden. Obgleich sich ihr Studium an festumrissenen Berufsbildern orientiert, werden die Studenten, so jedenfalls kritisiert der Karlsruher Physik-Professor Gerhard Grau, zu Zwitterwesen ausgebildet, die weder Wissenschaftler noch optimal geschulte Praktiker sind: „Wir züchten hier“, so Grau, „das eierlegende Wollmilchschwein“.

Welche Kenntnisse und Fähigkeiten ein Naturwissenschaftler besitzen muß, wenn er in der Industrie oder Wirtschaft arbeiten will, ist bislang weitgehend unklar geblieben.

Eine Kurzausbildung für Industriewissenschaftler gibt es seit langem an amerikanischen Universitäten. Dort können College-Absolventen mit einer naturwissenschaftlichen Grundausbildung ein Jahr lang an der Universität Physik studieren und dann die Ausbildung mit dem „Master of Science“ abschließen.

Pläne allerdings, das naturwissenschaftliche Studium drastisch zu verkürzen und allein auf den Bedarf in Wirtschaft und Industrie auszurichten, stoßen bei vielen Studenten auf erbitterten Widerstand.

Das Ausbildungsniveau, so kritisierte der Verband Deutscher Studentenschaften, werde weiter sinken, „wenn der weitaus größte Teil der Studienzeit dazu verwandt werden muß, sich Faktenwissen einzupauken“, In einem solchen System werde „der Typ des unkritischen. die Zusammenhänge nicht erkennenden Studenten gefördert“ — der Student mit dem „Kneifzangengedächtnis, mit einem Wort der unkritische Fachidiot“.

Gegen alle Reformplaner, die grundlegende Mängel des Ausbildungssystems mit Hilfe improvisierter Notmaßnahmen beheben wollen, wendet sich auch Hochschulkritiker Steinbuch. „Eine wirksame Reform“ der deutschen Universität müsse eine „Totalreform“ sein, so fordert Steinbuch in einer Studie („Zukunftsforschung und Bildungsplanung“), die er für das Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg angefertigt hat.

Die Hochschulausbildung der Zukunft, so postuliert Steinbuch, dürfte gerade nicht ein starres, auf überkommene Berufsbilder bezogenes Bildungssystem sein: In einer von Wissenschaft und Technik beherrschten, sich rasch wandelnden Gesellschaft werde es auf lange Sicht unveränderliche Berufs- und Bildungsziele mit Sicherheit nicht mehr geben. Deshalb müsse die Universität „konsequent zu der ursprünglichen Idee der Freiheit des Lernens zurückkehren“ — es gelte, so formulierte Steinbuch, ein „Bildungs-Freiwahlsystem“ zu entwickeln.

Nicht länger dürfe den Studenten eine Ausbildung In Form „genormter Pakete“ aufgezwungen werden, auf verbindliche Studienpläne und Prüfungsordnungen, auf „Zwangskombinationen“ von Studienfächern müsse verzichtet werden.

In jeder Phase seines Studiums müsse der Student die Möglichkeit haben, seine Entscheidung für bestimmte Fächer zu revidieren und sein Studienziel gegebenenfalls zu ändern; ohne unnötigen Zeitverlust und ohne zusätzliche Prüfungen sollte etwa ein Biologe imstande sein, zum Medizinstudium überzuwechseln.

Damit könnte der Student nicht nur jederzeit seine Berufswahl revidieren, sondern darüber hinaus sein Studium präziser auf die Ansprüche des selbstgewählten Berufs abstimmen. Voraussetzung für das Funktionieren eines solchen Systems freilich, so glaubt Steinbuch, wäre eine intensive „persönliche und individuelle“ Studien- und Berufsberatung der Studenten. Doch auf absehbare Zeit wird sich das von Steinbuch entwickelte, nach allen Seiten durchlässige Freiwahlsystem an westdeutschen Hochschulen kaum installieren lassen. Denn das Steinbuch-System steht In offenkundigem Widerspruch zur gegenwärtigen Form der Hochschulorganisation. Einzig in einer Gesamthochschule, wie sie als Zukunftsmodell von progressiven Bildungspolitikern diskutiert wird. könnte der von Steinbuch entworfene Plan verwirklicht werden.

Bislang setzten die Universitäten allen Versuchen, die starre Fächer-Struktur aufzulösen hartnäckigen Widerstand entgegen. Obwohl gerade in den Naturwissenschaften die einzelnen Fachgebiete einander zunehmend durchdringen, scheuen sich die Lehrstuhlinhaber immer noch, mit den Kollegen aus benachbarten Wissenschaftsbereichen zu kooperieren. Vielmehr führte die fortschreitende Spezialisierung innerhalb der Naturwissenschaft nur zur Gründung neuer Fachlehrstühle, deren Inhaber nach altem Vorbild auf strikte Unabhängigkeit bedacht waren.

Angesichts der deprimierenden Zustände an den Forschungsinstituten sind viele junge Wissenschaftler geneigt, zu resignieren — viele erwägen, in die USA auszuwandern.

„Die oft nahezu verzweifelte Stimmung unserer Gesprächspartner“, so vermerkt der „Infratest“ -Bericht, „wird weiterhin genährt durch die Tatsache, daß kaum einer glaubt, der gegenwärtige Zustand werde in absehbarer Zeit eine wirklich ins Gewicht fallende Verbesserung erfahren“; eine solche Verbesserung, so meinten die befragten Wissenschaftler, „könne überhaupt nur von außen kommen, da die für die Mängel des gegenwärtigen Systems Verantwortlichen wohl kaum Interesse an einer Veränderung haben würden“.

Desinteresse, aber vor allem auch mangelnder Sachverstand herrscht in der Tat bei jenen vor, die den desolaten Zustand der deutschen Naturwissenschaft beheben könnten: Nur zu fünf Prozent, so konstatierte der Münchner Bildungsforscher Alois Stork. bestehe die Führungsschicht der Bundesrepublik aus Naturwissenschaftlern und Technikern — vor allem Juristen und Wirtschaftler bestimmen die Wissenschaftspolitik des Landes Wissenschaftsminister Stoltenberg ist gelernter Historiker.

Symbolkräftig markierte die Bonner Regierung im Mai gleichwohl die gegenwärtige Lage der deutschen Naturwissenschaften. Das Kabinett beschloß, zum 20. Jahrestag seit Gründung der Bundesrepublik neue Zwei-Mark-Stücke prägen zu lassen. Die Münzen sollen nicht mehr das Profil es Physikers Max Planck tragen, sondern das Bild eines CDU-Politikers: Konrad Adenauer.

30.09.1969

„Mit dem Latein am Ende“

14. Fortsetzung

Am 25. August erkundigte sich der SPIEGEL brieflich bei 47 deutschen Hochschulprofessoren, wieviel Geld ihnen im vergangenen Jahr aus dem Universitätsetat, aus anderen öffentlichen Mitteln und aus Spenden zur Verfügung gestellt wurde. Schlußfrage: „Für welche Firmen, Ministerien, Verbände usw., auf welchen Gebieten und für jeweils welche Beträge haben Sie im vergangenen Jahr Auftragsforschung betrieben?“

Die 47 Befragten waren sämtlich Direktoren von Hochschulinstituten für Maschinenbau oder Elektrotechnik. Bis zum letzten Wochenende hatten 13 von ihnen geantwortet. Elf teilten mit, sie hätten im vergangenen Jahr keinerlei Forschungsaufträge für Industrie, Verbände oder andere universitätsfremde Instanzen ausgeführt. Zwei von ihnen machten Angaben über Auftragsforschung, die sie betrieben hatten — der eine für eine nicht genannte Summe, der andere für rund 12 500 Mark, das entspricht 4,9 Prozent seines gesamten Forschungsetats von 252 400 Mark. 34 der Befragten antworteten dem SPIEGEL nicht.

Ebenfalls im August bat der SPIEGEL fernschriftlich 33 deutsche Großfirmen und Firmengruppen um Auskunft darüber, welche Forschungs- und Entwicklungsaufträge sie an Hochschulinstitute vergeben hätten. Bis zum letzten Wochenende hatten 22 Firmen geantwortet. Mit zwei Ausnahmen — es handelt sich um den Röchling- und um den Philips-Konzern, die keine Forschung an Hochschulen betreiben ließen — machte keine dieser Firmen präzise Angaben über Art der Forschungsaufträge, Höhe der Aufwendungen und Empfänger der Mittel.

Die Mitteilungen waren ausnahmslos vage — derart, daß „eine ganze Reihe“ (Blendax), „in unbedeutendem Umfang“ (Kali-Chemie), „in der Regel nicht“ (Wacker-Chemie) oder auch mit „fast allen Hochschulen“ (AEG 1 Telefunken) Forschungsverbindungen bestünden.

AEG / Telefunken bat um „Verständnis, daß wir Ihnen mit spezifizierten Angaben über diesen Komplex nicht dienen können“; ähnlich äußerte sich das Volkswagenwerk. Die Mainzer Blendax-Werke fanden, daß sie „aus Wettbewerbsgründen diese Dinge nicht veröffentlichen sollten“.

Geheimhaltung also überall. Und es nimmt nicht wunder, daß der FDP-Wissenschaftsexperte Karl Moersch zu dem Schluß kommt, in der Bundesrepublik wisse „niemand, wer was wo mit welchen Mitteln forscht“. Einer der volkswirtschaftlich wie bildungspolitisch wichtigsten Investitionsbereiche in Westdeutschland liegt im dunkeln.

„Von wem ich mein Geld bekomme, brauchen nur meine Frau, meine Sekretärin und ich zu wissen“, antwortete ein westdeutscher Ordinarius unlängst akademischen Interviewern im Rahmen einer wissenschaftssoziologischen Untersuchung, die zur Zeit ausgewertet wird. Dem entspricht auf seiten der Industrie der Standpunkt der Oetker-Gruppe, die sich „nicht daran interessiert“ zeigte, „einzelne Angaben über Aufwand und Art der Aufträge an Hochschulinstitute, Forschungsinstitute oder einzelne Professoren zu veröffentlichen“.

Die Gründe des Schweigens sind vielfältig. Die Industrie nimmt die Geheimhaltung im Interesse des Wettbewerbs für sich in Anspruch. Die Firmen möchten Konkurrenten keine „Aufschlüsse über unsere Forschungsvorhaben“ geben (Esso AG). Konsequenterweise verpflichten sich auch häufig die Forscher durch Verträge mit Partnern aus der Wirtschaft zur Diskretion. Daß mancher Professor einen Teil seiner Nebeneinkünfte aus Forschungsaufträgen dem Finanzamt vorenthalte, daß manche Ordinarien nicht gern preisgaben, wieviel Arbeitskraft sie außeruniversitären Vorhaben widmen — das sind begleitende Motive, die an jeder Universität zum Kollegen-Gemunkel gehören.

„Wir und die gesamte Öffentlichkeit sind auf den Zufall angewiesen“, schreibt der SDS, der zusammen mit dem Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) im kommenden Wintersemester eine „Auftrags- und Kriegsforschungs — Kampagne“ plant. „Wir sollten uns genau überlegen, was das heißt, wenn in einem hochindustrialisierten Land, das auf die Wissenschaft angewiesen ist, eine Handvoll Leute hinter verschlossenen Türen darüber bestimmt, worüber und für welche Zwecke wissenschaftlich gearbeitet wird“.

Das genau ist das Problem, das nicht nur aus SDS-Perspektive wichtig erscheint. Wenn in öffentlich-rechtlichen Hochschulen, deren Professoren beamtet sind, und mit staatlich finanzierten Ausstattungen Forschungsaufträge — seien sie vom Staat, von der Wirtschaft oder von Privatpersonen erteilt — ausgeführt werden, dann bedarf dies in einer modernen demokratischen Gesellschaft einer Kontrolle. Denn Forschungsfinanzierung bedeutet, zumindest teilweise, Forschungssteuerung. Was aber erforscht zu werden verdient, ist in gleichem Maße Sache der Wissenschaft selbst wie der Gesellschaft. Der Göttinger Soziologe Professor Hans Paul Bahrdt: „Eine Forschungspolitik, die nicht einer technokratischen Aushöhlung der Demokratie den Weg ebnen will, … muß das schwierige Problem lösen, wie auch die Öffentlichkeit so weit über die Probleme der Wissenschaftspolitik orientiert wird, daß sie zum Mitakteur werden kann.“

Die Bundesrepublik — öffentliche Hand und Wirtschaft — gab 1968 rund 14 Milliarden Mark für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung aus. Da aus Dutzenden von Etats Mittel in die Hochschulen fließen, manchmal die Hochschulforschung im engeren Sinn gefördert, dann aber auch wieder „Forschung und Entwicklung“ finanziert wird, besagen diese Zahlen wenig.

Ein überaus dichtes Netz von — teils sichtbaren, teils unsichtbaren — Finanzierungskanälen verbindet Hochschulen und Geldgeber. Mittel fließen aus den öffentlichen Haushalten, aus Gewerkschafts- und Parteikassen, aus den Forschungsfonds der Industrie. Stiftungen wie die VW-Stiftung subventionieren ebenso wie private Mäzene. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zahlt ebenso wie die Arbeitsgemeinschaft Industrieller Forschungsvereinigungen (AIF).

Ein wichtiger Geldgeber ist das Verteidigungsministerium in Bonn (Forschungsmittel 1969: über eine Milliarde Mark), das zwar die Groß- und Geheimprojekte an die Rüstungsindustrie oder an hochschulferne Institute vergibt, aber auf dem Gebiet der Grundlagenforschung weitgehend auf die Hochschulen angewiesen ist: In den vergangenen Jahren floß denn auch bis zu einem Viertel der Rüstungsforschungsgelder in die Hochschulen — freilich nicht offen.

Bei der Abwicklung tritt nicht das Verteidigungsministerium auf, das die Auswahl von Forschern und Forschungsvorhaben trifft, sondern die von ihm beauftragte und teilfinanzierte Münchner Fraunhofer-Gesellschaft (FhG). Diese „Verwaltungshilfe“ mag psychologische Gründe haben: Mancher Hochschul-Wissenschaftler hält militärische Forschung, so FhG-Vorstandsmitglied Professor Hans Jebsen-Marwedel, für „ethisch anfechtbar oder belastet“.

Um „Nutzen aus den wichtigen, weltweit verstreuten Wissenschaftlern ziehen zu können“, vergibt auch das US-Verteidigungsministerium Forschungsgelder. Allein in diesem Jahr werden an acht Universitäten, drei Technischen Hochschulen und vier anderen Institutionen der Bundesrepublik Pentagon-Aufträge in Höhe von mindestens 2,7 Millionen Mark bearbeitet (SPIEGEL 21/1969).

Die Militärs interessieren sich zunehmend auch für die Geisteswissenschaften: Der Mannheimer Soziologie-Professor Mario Rainer Lepsius beispielsweise leitet den deutschen Zweig eines auf Formosa und in der Bundesrepublik betriebenen, in den Vereinigten Staaten koordinierten und vom US-Verteidigungsministerium finanzierten „Social Movement“-Projekts. Zweck des Vorhabens: Analyse von „institutionalisierten Verhaltensmustern“, um für das Pentagon „ein Modell zu erstellen, das die Voraussage für den Ablauf gegenwärtiger politischer Protestbewegungen ermöglicht“.

Wie sich die direkte oder indirekte militärische Forschung in den Einzeletats der Hochschul-Institute niederschlägt, ist ebenso unbekannt wie der Anteil der industriellen Auftragsforschung. „Weder bei den akademischen Behörden noch bei der staatlichen Verwaltung“ gibt es Unterlagen über das Ausmaß der Vertragsforschung, stellte der Wissenschaftsrat fest.

„Die Hochschulen wären als Forschungsinstitutionen längst nicht mehr ernst zu nehmen, wenn es den Institutsdirektoren nicht immer wieder gelänge, sich bei Verbänden, Ministerien, Stiftungen, Industrieunternehmen als Akquisiteur zu betätigen“, meint Soziologe Bahrdt.

Mit solcher Tätigkeit begeben sich Wissenschaftler nur allzu leicht in einen Teufelskreis, in dem sie gezwungen sind, sich „angstvoll von Auftrag zu Auftrag zu hangeln“ (Bahrdt): Direktoren von Mini-Instituten mit geringer Forschungskapazität, die für wenige oder gar nur einen einzigen Auftraggeber arbeiten, laufen Gefahr, in Abhängigkeit zu geraten. Dazu ein Ordinarius für Elektrotechnik: „Man müßte die Möglichkeit haben, ein Projekt abzulehnen. Man müßte eigentlich immer mit mehreren Firmen arbeiten.“

Das aber gelingt in der Regel nur Instituten mit einer ausreichenden „technischen und personellen Forschungskapazität““ die wiederum nichts anderes ist als das „Ergebnis der Akkumulation von Menschen und Betriebsmitteln durch frühere Forschungsaufträge“. Bahrdt: „Auf dem Forschungsmarkt herrscht die Regel: Wer hat, dem wird gegeben.“

Doch selbst in Groß-Instituten „weht“, so Bahrdt, „der Geist nicht, wo er will“. Auch die Chefs dieser Institute können nicht nur „wissenschaftlich wünschenswerte“ Forschung treiben — sie müssen aus „Sorge um die betriebliche Kontinuität … immer neue Forschungsaufträge“ beschaffen.

Diese Querverbindungen zwischen Interessenten außerhalb und Wissenschaftlern innerhalb der Universität wirken sich für die Forschung nicht nur nachteilig aus. Ein Braunschweiger Elektrochemie-Professor: „Ohne Anregungen aus der Industrie wird man betriebsblind.“ Ein hannoverscher Elektrotechnik-Professor: „Unsere Erfahrungen stammen aus der Industrie. Wir sind durch die Industrie up to date. Wie der Chirurg nicht ohne Klinik, so kann ich nicht ohne Industrie arbeiten. Die Industrie ist praktisch mein Krankenhaus.“

Andererseits muß die Hochschule erkranken, wenn sich aus Kontakten etwa zur Industrie Abhängigkeiten entwickeln und wenn die Zusammenarbeit nicht von wissenschaftlichen Motiven bestimmt wird.

Doch für die Industrie verliert die Vergabe von Forschungsaufträgen zunehmend an Bedeutung: Der Anteil der externen Industrieforschung an den rapide gewachsenen Gesamtforschungsaufwendungen der Wirtschaft sinkt.

Der Göttinger Professor Bahrdt sieht „selbstverständlich Gefahren für eine freie Entfaltung der Wissenschaft“, wenn die Kontakte der Wirtschaft zur Forschung nicht durch „echtes Mäzenatentum“, sondern durch ein „handfestes Bedürfnis nach praktisch verwertbaren Ergebnissen“ bestimmt würden.

Nicht überall führt freilich die Einwirkung der Wirtschaft so augenscheinlich zur Verkrüppelung der Wissenschaft wie zuweilen Im Bereich der Arzneimittelforschung: Immer wieder finden sich Professoren, die — honoraris causa — im Auftrage pharmazeutischer Werke neue Medikamente testen und feine Gutachten (in Wirklichkeit wissenschaftlich verbrämte Reklame) in Fachblätter lancieren.

„Es gibt viele Möglichkeiten“, kritisiert der Hamburger Pharmakologe Walter Braun, „negative Befunde nicht so deutlich mitzuteilen und positive überzubetonen.“ Oft wird das Positive allerdings so sehr betont, daß Leser von Fachblättern, wie der Hamburger Physiologe Christoph Weiss formuliert, „bei der Lektüre im Hintergrund die Kassen klingen hören“. Weiss: „Man merkt: Aha, der Mann Ist gekauft.“

Mehr noch als die Gefahr des Mißbrauchs spricht ein anderes Argument gegen Interessentenforschung: Sie wird zwar in öffentlichen Instituten, aber oft, laut Wissenschaftsrat, zum „ausschließlichen Nutzen“ der privaten Auftraggeber betrieben. Die Folge: Ein Teil dessen, was an Deutschlands Hochschulen erforscht wird, kommt nicht der Allgemeinheit zugute.

Gotthard Gambke, Generalsekretär der Stiftung Volkswagenwerk, konstatiert denn auch: „Die Angst der Wirtschaft, daß die Konkurrenz möglicherweise zuviel erfahren könnte“, bewirke, „daß die Idee selber in sicheren Tresoren gehütet und ihr Schöpfer jeweils nach dem Grad der Abhängigkeit mehr oder weniger vollständig isoliert wird; im äußersten Grenzfall bis zum Verlust des Kontaktes zur aktuellen Wissenschaft“.

Solcher Kontaktverlust führt häufig zu Parallelarbeit — und damit zu Vergeudung öffentlicher Forschungskapazitäten. „Bei mir“, gab ein Professor aus dem Bereich des Bauingenieurwesens zu Protokoll, „läuft ein Projekt, bei dem sich eine Zusammenarbeit mit einem anderen Institut unmittelbar anbietet. Ich kenne den Ordinarius sehr gut. Aber er hat den Auftrag von einer Industriefirma und hat Geheimhaltungsvorschriften. Ich habe Kontakte zur Konkurrenz. Wir können gar nicht zusammenarbeiten, obwohl wir es wollen.“

VW-Forschungsförderer Gambke führt solche „Hindernisse“ auf „das Gesellschaftssystem“ zurück. In der Tat sind westliche Wirtschaftswissenschaftler längst zu der Einsicht gekommen, daß, so der renommierte US-Ökonom Wassily Leontief, „die Privatwirtschaft nicht einmal annäherungsweise in der Lage ist, die gleichen Vorteile aus den neuen wissenschaftlichen und technischen Ideen zu ziehen, wie es die gesamte Volkswirtschaft bei deren voller Ausnützung könnte.

Beispiel: Weil, nach einer Erhebung des industriellen „Stifterverbandes“, rund 80 Prozent aller Forschungsaufträge in Deutschland von Großunternehmen (mit mehr als 2000 Beschäftigten) vergeben werden, schlägt sich ein Großteil des an deutschen Hochschulen produzierten Wissens in den Patent-Depots weniger Mammutfirmen nieder. Dort aber werden zudem ungefähr drei Viertel aller Patente gleichsam eingefroren, nur um sie dem Zugriff der Konkurrenz zu entziehen.

Wenn Forschungsergebnisse aber nicht auf Patent-Friedhöfen landen, sondern industriell verwertet werden, fließen die Gewinne in private Taschen — obwohl die Forschungskosten zum Teil vom Staat getragen worden sind, der die Universitäten finanziert und die beamteten Auftragsforscher besoldet.

Forderungen wie die des sozialdemokratischen hessischen Wirtschaftsministers Rudi Arndt, Firmen sollten bei wirtschaftlicher Nutzung staatlich subventionierter Forschung Rückzahlungen leisten, sind ungehört verhallt.

„Übergang von der Ordinarien-Universität zur Industrie-Universität“… Eine solche Entwicklung aber wäre nur in Gesellschaftsformen unbedenklich, in denen sich die Interessen der Industrie mit denen der Allgemeinheit decken. Doch der Glaube daran, daß das für privatwirtschaftlich organisierte Industriestaaten wie die Bundesrepublik gilt, schwindet selbst bei Liberalen.

„Funktionen“ die das Industriesystem nicht braucht, die der Staat aber trotzdem erfüllen muß“, bemerkt der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith („Die moderne Industriegesellschaft“), „leiden unter einer deutlichen Diskriminierung.“ An den westdeutschen Hochschulen veröden all jene Bereiche, in die Bonner Forschungsförderer nichts oder zuwenig investieren und die zugleich der Wirtschaft keinen kurzfristigen Profit versprechen.

Obwohl die Bundesrepublik zum drittgrößten Automobilproduzenten der Welt avanciert ist, hängt, wie im August das „Deutsche Ärzteblatt“ kritisierte, die Verkehrsunfallforschung noch immer im wesentlichen von der Initiative einiger weniger ab“. „Weshalb“, fragte das Blatt, „sinkt nicht die Zahl der Verkehrstoten“ jährlich 17 000 — „um die Hälfte, wie es theoretisch möglich wäre?“ Antwort „Es fehlt an Geld.“…

Obwohl „das gegenwärtige krebsartige Wachstum der Kraftfahrzeugdichte die Bewegungsmöglichkeit nicht mehr fördert, sondern sie einschränkt“, befürchtet der Kybernetiker und Wissenschafts-Autor Karl Steinbuch („Falsch programmiert“), daß die Deutschen sich vor den Automobilen nicht anders verhalten werden als „die Inder vor den heiligen Kühen“. Forschung nach neuen Verkehrsmitteln, die auf lange Sicht Autos weitgehend überflüssig machen könnten, gibt es in der Bundesrepublik in nennenswertem Umfang nicht — sie widerspricht, so Steinbuch, „den Interessen mancher Industriezweige“.

Deutsche Städtebauer und Raumordner wissen häufig von ihrem Fach so wenig „wie die Mediziner vor 100 Jahren“ („Die Welt“). Für Bauforschung wurden bislang je Bundesbürger jährlich kaum zwei Pfennig ausgegeben. Nur werden die Versäumnisse auf diesem Gebiet, so der Architekt Richard Neutra unlängst in Frankfurt, „nicht so deutlich sichtbar wie beim Mediziner, weil niemand, der in ein miserabel und gesundheitsschädlich gebautes Haus einzieht, auf der Stelle tot umfällt“.

Die Ernährungsforschung, ein Gebiet von „unmittelbar lebenswichtiger und lebensentscheidender Bedeutung“, befindet sich nach den Worten des ehemaligen Direktors des Physiologisch-Chemischen Instituts der Universität Hamburg, Professor Joachim Kühnau, in der Bundesrepublik „in einem bedauerlichen Rückstand gegenüber anderen Ländern“…

Im Mitteilungsblatt des industriellen „Stifterverbandes“ rief der Direktor des Physiologischen Instituts der Universität Heidelberg, Professor Hans Schaefer, die Wirtschaft auf, die medizinische Forschung stärker zu fördern, „obwohl die Wirkung der Medizin … sich kaum in finanziellen Größen messen läßt“. Schaefer warnte vor „Kurzschlüssen“ wie dem: „Was kann es den Fabrikherrn angehen, daß Kranke gesunden oder arbeitsfähig werden, solange es sich nicht um seine eigenen Arbeiter handelt?“

Doch auf eine Unternehmerschaft, für die noch nicht einmal immer die Anstellung von Werksärzten selbstverständlich ist, wirken solche Appelle kaum, Spenden aus der Wirtschaft werden vor allem in solchen Bereichen der Medizin vermißt, die der Staat vernachlässigt und an denen fachnahe Industriezweige — seien es Pharma-Hersteller, seien es Apparatebauer — nicht interessiert sind.

Flankiert von Mülleimern, in einem notdürftig eingerichteten Keller, haust die experimentelle Abteilung der Chirurgischen Klinik an der Universität Bonn. Hilfspersonal ist so knapp, daß selbst Reinigungsarbeiten von wissenschaftlichen Kräften miterledigt werden müssen. Daß diese Klinik gleichwohl bemerkenswerte wissenschaftliche Leistungen aufweisen kann — dort gelang die erste Leber-Transplantation in Deutschland -, erschien dem „Deutschen Ärzteblatt“ als „ein kleines Wunder“.

Die vorbeugende Medizin ist, so Forschungsgemeinschafts — Präsident Speer, trotz einer Starthilfe der DFG „in Deutschland so gut wie gar nicht vertreten“. Auch auf dem Gebiet der Erforschung von Alterskrankheiten ist in der Bundesrepublik nach den Worten des Nürnberger Medizin-Professors René Schubert „überhaupt noch nichts Wesentliches“ geschehen.

Bei der Hochschulforschung im Bereich der Arbeitsmedizin registrierte das Fachblatt „Arbeitsmedizin/Sozialmedizin/Arbeitshygiene“ sogar einen „bedauernswürdigen Rückstand“ gegenüber der DDR „in der Zahl der Institute — von der Zahl der zur Verfügung stehenden Wissenschaftler ganz zu schweigen“. Das Blatt weiter: „Es ist sicher so, daß Entwicklungsländer oft in Gebieten der Sozialmedizin größere Fortschritte gemacht haben,“

Das Sozialmediziner-Organ zählte auf, welche Ergebnisse dieses brachliegende Forschungsfeld verspräche, wenn es kultiviert würde: Geklärt werden könnte beispielsweise die Auswirkung der „erhöhten Mittätigkeit der Frau in Deutschland, insbesondere der verheirateten Frau, in der Industrie, auf die „gegenüber anderen Ländern doch so wesentlich schlechtere Zahl hinsichtlich der Neugeborenen-Sterblichkeit“,

* der Einfluß „sozialer Faktoren auf Krankheiten“, der „Zusammenhang von Betriebsklima und Krankenstand“ und „das gewaltige Zunehmen einer Krankheit wie zum Beispiel des Herzinfarktes“.

„das Ausmaß von Verschleiß, Aufbrauch, Erschöpfung und Voralterung durch Berufsarbeit“.

Wissenschaftler, die so etwas erforschen wollen, müssen fast immer in finanzieller Bedrängnis und nicht selten in räumlicher Enge arbeiten. Teile des Instituts für Arbeitsmedizin der Universität Tübingen waren jahrelang in muffigen Kellerräumen untergebracht, „so daß es sich für die Besucher empfahl, ihre Nasen durch Taschentücher vor dem üblen Geruch zu schützen“ („Stuttgarter Zeitung“).

Wo immer in der Bundesrepublik Hochschulforschung zwar Nutzen für die Allgemeinheit, aber nicht gleichzeitig Profit für die Privatwirtschaft verspricht, wird sie vernachlässigt.

Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkte setzt die Bundesregierung vor allem in Rüstung (1969: eine Milliarde Mark), Atomtechnik (1968 bis 1972: sechs Milliarden Mark), Weltraumforschung (1969: 351 Millionen Mark) und Datenverarbeitung (1969: 75 Millionen Mark). Stoltenbergs — inzwischen verstorbener — Staatssekretär Wolfgang Cartellieri: „Der Wunsch des Staates, bestimmte Fachbereiche zu fördern, beruht oft auf Überlegungen, die nicht aus dem wissenschaftlichen, sondern aus dem wirtschaftlichen Bereich stammen, aus der Abwägung von Investitionen und späterem Nutzen, der Rendite.“

Daß die Kernforschungsförderung die „Exportbemühungen unserer (Reaktor-) Industrie“ unterstützen soll, daß die Datenverarbeitungs-Förderung „die Schaffung einer leistungs- und voll wettbewerbsfähigen eigenständigen EDV-Industrie“ ermöglichen soll — dagegen wäre weniger zu sagen, wenn darüber nicht wichtige andere Bereiche der Forschung geradezu fahrlässig vernachlässigt würden.

Wolfgang Koeck, Mitglied der Geschäftsführung des Verbandes der Chemischen Industrie: „Läßt sich nicht klar erkennen, ob ein bestimmtes Forschungsvorhaben … innerhalb eines nicht zu langen Zeitraumes … in der Bilanz eines Unternehmens einen positiven Niederschlag finden wird, dann ist eine solche Forschung der Privatwirtschaft nicht zuzumuten.“

Anders: Auf dem Gebiet der Big Science soll der Steuerzahler Investieren, die Wirtschaft profitieren; die Verluste sollen sozialisiert, die Gewinne privatisiert werden.

Wenigstens einigen Abgeordneten ist dieses Politikum aufgegangen. Am 14. September 1968 fragten sie die Bundesregierung, ob es nicht „angemessen“ sei, „daß Unternehmen für den Fall des Erfolges die staatlichen Förderungsmittel zurückzahlen oder eine Beteiligung am wirtschaftlichen Ergebnis der geförderten Vorhaben einräumen, damit Rückflüsse im Rahmen des Förderungsprogrammes wiederum eingesetzt werden können“. Stoltenberg entgegnete, er wolle auf die Rückzahlung der Subventions-Millionen verzichten, um etwas in seinen Augen offenbar Schlimmeres zu vermeiden: den damit verbundenen „unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand“.

Es leuchtet ein, daß Big Science kaum noch in Universitäten betrieben werden kann — will man die Hochschulen nicht aufblähen zu Technologie-Konzernen. Daß aber Grundlagenforschung, sei es auch nur schwerpunktartig, an den Universitäten beheimatet und besonders gefördert werden muß, ist doppelt wichtig:

* einmal, weil Studenten nicht rezeptiv lernend, sondern nur aktiv forschend wissenschaftliche Leistungen vollbringen können,

zum anderen, weil sich die Universitäten nur im Zentrum der Wissenschaft zu unabhängigen „Beobachtungsstationen der Gesellschaft in Richtung Zukunft“ entwickeln können, zu einem „Ort, wo Kurs und mögliche Steuerkommandos diskutiert werden“, wie Karl Steinbuch formuliert.

Dazu bedarf es ungebundener Hochschul-Wissenschaftler, die weder finanziell noch politisch von Einzelgruppen der Gesellschaft abhängig sind — im Gegensatz zu den zuweilen auf das Buhlen um Forschungsaufträge angewiesenen Ordinarien der derzeitigen Universitäten; im Gegensatz auch zur Masse der wissenschaftlichen Bediensteten in der Abgeschiedenheit industrieller, staatlicher und halbstaatlicher Forschungsanstalten.

Daß die Prioritäten der Forschungspolitik von Politikern gesetzt werden, sei unangefochten, Nur müßten diese Entscheidungen — und deren Voraussetzungen — durchschaubar und überprüfbar sein.

06.10.1969

„Mit dem Latein am Ende“

15. Fortsetzung

Deutsche Hochschulen examinieren Theologen und Archäologen, sie diplomieren Hoch- und Tiefbauingenieure. Sie vergeben die Doktor-Würde an Mediziner und den Titel „Magister Artium“ an Germanisten. Jeder akademische Grad hat sein besonderes Gewicht: Er entscheidet mit über Gehaltsklassen und Berufskarrieren.

Im Staatsdienst erhält ein diplomierter Ingenieur als Anfangsgehalt 1600 Mark, ein Ingenieur ohne Diplom nur 1030 Mark. Germanisten ohne Staatsexamen, doch promoviert, dürfen Gymnasiasten keinen Unterricht in Literaturgeschichte erteilen; sie können, obwohl fachwissenschaftlich ebenso ausgebildet, Lehrstellen nur an privaten Lehranstalten einnehmen: als Angestellte ohne Pensionsberechtigung, nicht als Beamte.

Was trennt, ist die mittelalterlich anmutende akademische Kasten-Kluft. „Die ständische Gliederung zwischen Diplom-Ingenieuren und graduierten Ingenieuren“, beschwert sich das ehemalige Vorstandsmitglied des Studenten-Verbandes Deutscher Ingenieurschulen (SVI) Georg Seletzky, „ist in den Betrieben noch häufig ausgeprägt. So ist mir ein Großbetrieb bekannt, in dem die Diplom-Ingenieure vom Betrieb zu Mittag eine Tasse Kaffee bekommen, die graduierten Ingenieure nicht.“

Das laut Seletzky „exemplarische“ Kaffeetassen-Erlebnis wuchs sich nachgerade zu einer Statusneurose aus. In Ulm konstituierte sich eine „Arbeitsgemeinschaft der graduierten Ingenieure gegen ihre Abwertung“; sie lehnt sich auf gegen den „Erbadel von Titelträgern“‚ der „aus Selbstgefälligkeit auf überholtem Hierarchiedenken“ beharre.

Nichts verdeutlicht besser, wie unwägbar oft Motive für die akademische Rangerhebung ganzer Berufszweige sind, als die Zweiteilung in praktisch ausgebildete Steuerbevollmächtigte und akademisch ausgebildete Steuerberater. Ihr entspräche, im Modell, der Apothekerlehrling, der es zum Meister seines Faches brächte und dann die gleichen Aufgaben übernähme wie ein approbierter Pharmazeut — bei minderem Ansehen.

Die Universitäten waren schon Im Mittelalter nicht nur Stätten reinen Geistes, sondern — wie der Münchner Universitäts-Historiograph Professor Herbert Grundmann einräumt — „auch Stätten der Berufsausbildung“. Der Scholar besuchte die Alma mater. „um sich zum Juristen, Theologen, Mediziner ausbilden zu lassen und mit diesen Kenntnissen und Fähigkeiten einen einträglichen, angesehenen Beruf zu ergreifen“.

Die mittelalterliche Hohe Schule hatte — so erläuterte ein Rechtsdokument vom 15. Februar 1560 — darauf hinzuwirken, „daß in der Theologia viele Studenten aufferzogen und rechtschaffen unterwiesen und erhalten werden, auf daß man künftig rechtschaffene Prediger, Schulmeister und Kirchendiener haben könne“: Berufsausbildung also.

Es dauerte jeweils Dezennien, bis die Universitäten dem alten Fächerkanon neue Fächer zufügten: die Betriebswirtschaft zu Beginn dieses Jahrhunderts, die Technik — nach der Gründung eigenständiger Technischer Hochschulen — erst nach 1945.

Zu Recht verweisen die Befürworter eines Hochschulstudiums für die Studenten der Höheren Fachschulen auf die „geschichtlich zufällige Entwicklung“ der Universität, die bewirke, daß heute zwar Tierärzte und Apotheker ein Hochschulstudium absolvieren, „nicht aber der Leiter eines heilpädagogischen Heims oder eines Jugendamtes“ (so der Tübinger Pädagogik-Professor Andreas Flitner).

„Die Trennung in Universitäten, Technische Hochschulen, Pädagogische Hochschulen, Ingenieurschulen usw. ist irrational“, fand der Bundesstudentenring, dem die Studenten der Höheren Fachschulen ebenso angehören wie die Kommilitonen von der Universität, zu Beginn dieses Jahres.

Die Vorstellung vom technischen Fachmann, der den weißen Kittel jederzeit mit dem Blaumann vertauscht, um selbst mit Hand anzulegen, erscheint heute fragwürdig, „denn in den letzten Jahrzehnten hat sich das Feld qualifizierter technischer Berufe aufgefächert. Funktionen der genannten Art fallen heute eher in das Berufsgebiet von Industriemeistern und Technikern“ (Kahlert).

Gegen solche Einsicht aber bestimmt bis heute noch das überkommene Leitbild die Ingenieursausbildung: der praktische Ingenieur als Mittler „zwischen Forscher und Werkmann“, wie ihn der nationalsozialistische Reichserziehungsminister Bernhard Rust sich 1937 wünschte. Die Ingenieurschule gelangte nie über ihren Ruf hinaus, eine Pflegestätte mittlerer Führungskräfte zu sein, die jungen Männern einfacheren Herkommens ohne Gymnasialbesuch den beruflichen Aufstieg ermöglicht.

Am Modell der Ingenieur-Akademien orientieren sich auch die Höheren Fachschulen für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, ein Schulzweig‘ der bald nach der Jahrhundertwende von der Pädagogin Alice Salomon begründet wurde. Als „Soziale Frauenschulen“ sollten sie so rekapituliert die Hamburger Soziologin Dr. Luc Jochimsen — „eine Art verbesserter Mädchenerziehung“ bieten, „nützliche Ausbildung für eine auf achtbare Weise ausgefüllte Wartezeit zwischen Schulabschluß und Hochzeit“.

Inzwischen sind die Sozialarbeiterschulen vom Leitbild der ehrenamtlich tätigen höheren Tochter abgerückt. Wie Ingenieur- und Wirtschafts-Akademien fordern sie von ihren Schülern als Eingangsqualifikation das Realschulzeugnis und eine abgeschlossene Lehre.

Gehalten aber hat sich die Vorstellung, daß Sozialarbeiter — heute zu einem Drittel Männer — noch immer seien, was Fürsorgerinnen für die Bürgerwelt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren: Armenpolizisten, die mit milden Gaben die sozialen Outcasts zum Wohlverhalten zwingen wollen. In der Konsumgesellschaft ist der Umgang mit Armen und Unmündigen mit Makel behaftet wie ehedem.

Die Mehrzahl dieser Höheren Fachschulen, die demnächst Fachhochschulen heißen, bietet Unterricht als „Schulbetrieb“ (so das Goldschmidt-Gutachten). Die Studenten werden von Jahr zu Jahr oder von Semester zu Semester versetzt, die Bibliotheken als Schülerhilfsbüchereien geführt und im Etat entsprechend mäßiger bedacht als Hochschulbibliotheken.

Daß gleichzeitig Lehrpläne und Lehrmethoden geändert werden müssen, gilt Fachleuten als selbstverständlich. Denn wenig zukunftsorientiert ist es, wenn Ingenieur-Studenten im Fach Werkstoffkunde „alle Schweißverfahren von A bis Z“ aufzusagen haben, wie der Ingenieur-Student Heinz Marth berichtet. Prüfungsfrage an der Staatlichen Ingenieurschule Iserlohn: „Erläutern Sie die Technik des Hammerschweißens!“ — eines Schweißverfahrens, „das schon zu Urgroßvaters Zeiten überholt war“ (Marth).

Heute werden neue Entwicklungen — etwa auf dem Gebiet der Datenverarbeitung — innerhalb weniger Jahre für die Praxis nutzbar gemacht. „Wenn technische Einzelheiten der Betriebspraxis schon nach wenigen Jahren veraltet sind“, so der Mannheimer Betriebswirtschafts-Assistent Dr. Heinrich Reinermann, „lohnt es sich nicht, sie an der Universität“ oder auch an den Akademien zu lehren.

Die Praxis benötige „wissenschaftlich-analytisch ausgebildete Mitarbeiter, die ihre Aufgaben im Lichte zukünftiger Veränderungen sehen und daraus Konzepte und Anpassungsmaßnahmen für ihren Verantwortungsbereich ableiten können“. Nur eine Ausbildung, die dieses Ziel verfolgt, könne heute und in Zukunft noch als „praxisnah“ gelten.

Solche Einsicht entspricht der Forderung von Pädagogen, daß es bei dem ständig anwachsenden Wissensstoff in allen Bereichen nicht mehr allein darauf ankomme, neues Detailwissen zu vermitteln. Wichtig sei heute — so formuliert der Göttinger Erziehungswissenschaftler Klaus Riedel

„eine Übertragbarkeit des Gelernten auf andere Gegenstands- und Denkbereiche“ zu fördern, um den Lernenden zu „produktiv-kreativen Leistungen“ zu ermutigen.

Aber die Entwicklung dieser Fähigkeiten wird an den Akademien vernachlässigt; es wird gepaukt. „Studiengänge mit vierzig Zeitstunden pro Woche sind keine Seltenheit; dazu kommen noch Referate und Laborberichte. Bis zu 25 Klausuren pro Semester sollen dazu dienen, den eingepaukten Stoff abzufragen“ — dieses Bild des Fachschulstudiums zeichnete die „Bochumer Studentenzeitung“ noch im vergangenen Semester.

„Daß etwas getan werden muß, um die Stoffülle und Stoffbreite zu beschneiden, sieht jeder Dozent leicht ein“, gesteht der Direktor des Sozialpädagogischen Instituts der Freien und Hansestadt Hamburg, Wolfgang Bäuerle. „Jeder ist bereit, energisch daran mitzuarbeiten. Unter einer Bedingung freilich: Von seinem eigenen Fach darf nichts beschnitten werden und die ihm dafür zur Verfügung stehende Unterrichtszeit muß eher erweitert, keinesfalls darf sie verkürzt werden. Da jeder gute Gründe auf seiner Seite hat, bleibt alles beim alten.“

Heute dürfen Staatsbürger ohne Abitur — und das sind die meisten Höheren Fachschüler — nur die gehobene Laufbahn einschlagen, die höhere Beamtenlaufbahn bleibt ihnen verschlossen. Hat einer aber ein juristisches Studium vorzuweisen, gilt er allemal als prädestiniert, ein Jugendamt zu leiten — auch wenn er von Jugendpflege kaum etwas versteht.

So markieren veraltete Berufsleitbilder die zerklüftete Landschaft des deutschen Bildungswesens, in der Endmoränen des Standesdenkens immer noch als heilige Berge gelten. Es ist bezeichnend, daß Abiturienten — wie der Berliner Fachschul-Dozent i. R. Dr. Erwin Sommer registriert — vornehmlich wegen des „noch immer wirksamen Sozialprestiges“ ein Hochschulstudium anstreben, wenn sie Ingenieur werden wollen.

Und es ist ebenso typisch, daß von denjenigen Studenten, die sich dann für ein TH-Studium als ungeeignet erweisen, „nur ein Teil den Weg zur Ingenieurschule findet, weil der Übergang von der Technischen Hochschule zur Ingenieurschule als Zurückstufung empfunden wird“.

Die neuen Fachhochschulen werfen überdies eine Reihe von Problemen auf, die daran zweifeln lassen, daß das Konzept gründlich durchdacht wurde.

Die Fachhochschulen bedingen eine weitere Aufsplitterung des Bildungswesens, da sie den Besuch der Fachoberschule voraussetzen. Die Fachoberschule aber bereichert das ohnehin überholte dreigliedrige Schulsystem der Bundesrepublik (Volksschule, Realschule, Gymnasium) um eine weitere Variante mit besonderem Abschlußzertifikat: die Fachhochschulreife. Das läuft klar den Intentionen des Deutschen Bildungsrates zuwider, der im Februar eine einheitliche Hochschulreife empfahl, die sowohl zum Studium an Universitäten wie an Fachhochschulen berechtigen soll.

Das Sozialprestige-Gefälle zwischen Hochschule und Fachhochschule kann durch die neue Regelung schwerlich beseitigt werden. Es ist voraussehbar, daß Abiturienten die Fachhochschulen nach wie vor ebenso zu meiden suchen wie früher die Ingenieurschulen und die übrigen Höheren Fachschulen; mithin läßt sich eine Entlastung der Universitäten nicht erreichen.

„Die jetzigen Regelungen“, urteilt der Generalsekretär der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Ernst Reuter, „laufen darauf hinaus, die notwendigen Reformen unseres Bildungswesens zu erschweren. Indem man das Prestige der traditionellen wissenschaftlichen Hochschule weiter aufwertet, wird man kaum einen Abiturienten davon abhalten können, sein Glück zunächst auf diesem Bildungswege zu versuchen. Was bleibt, ist der Versuch, die wissenschaftliche Hochschule vor dem Eindringen neuer sozialer Schichten abzuschirmen.“

Diese Entwicklung ließe sich vermeiden, wenn — statt der Einrichtung neuer Fachhochschulen und Fachoberschulen — ein völlig neues Bildungssystem eingeführt würde:

* die Gesamtschule, die alle Schüler — ohne Rücksicht auf soziale Herkunft — entsprechend Talent und Neigung fördert und in zwölf Jahren entweder zur Berufsausübung oder zum Hochschulbesuch qualifiziert;

* die Gesamthochschule, die sämtliche weiterführenden Bildungseinrichtungen — von der Höheren Sozialfachschule bis zur Universität — integriert. Die Gesamthochschule legt den Studenten nicht von vornherein auf eine bestimmte Studienzeit und einen bestimmten Studienabschluß fest, sondern gibt ihm die Möglichkeit, nach zwei, drei, vier oder mehr Studienjahren mit jeweils der Qualifikation abzuschließen, die seinem individuellen Leistungswillen und seinen Fähigkeiten am ehesten entspricht.

Dieses Modell besticht, weil es nicht nur jedem einzelnen die größten Bildungschancen gewährt, sondern weil es auch dem Bedarfsprinzip der hochindustrialisierten Gesellschaft genügt‘ die auf eine Vielzahl unterschiedlich qualifizierter und wissenschaftlich gebildeter Arbeitskräfte angewiesen ist — eine demokratische und leistungsfähige Schule und Hochschule zugleich.

13.10.1969

„Mit dem Latein am Ende“

16. Fortsetzung

Nur Krise, keine Zukunft für die deutschen Hochschulen?

Die wenigen sinnvollen Reformbemühungen, die der SPIEGEL in seiner Hochschul-Serie schilderte, zielen ausnahmslos ab auf die Behebung einzelner Mißstände — was die Misere in anderen Bereichen nur noch schärfer konturiert. Es spricht viel dafür, Forschungsuniversitäten wie in Bielefeld zu errichten; aber der Numerus clausus bleibt. Es ist sinnvoll, den angehenden Studienräten endlich pädagogische Kenntnisse zu vermitteln; aber die sinnlose Prestigeabstufung zum Volksschullehrer bleibt.

Hochschulgesetze ebnen zumindest in einigen Bundesländern den Weg zu Teil-Reformen; aber wie die Gesetzesinitiativen in den Hochschulen mit Sinn erfüllt und weiterentwickelt werden, steht dahin. Ein Hochschulpräsident garantiert noch kein modernes Management, die Drittelparität bürgt noch nicht für sachdienliche Zusammenarbeit zwischen Studenten und Professoren.

Ein bißchen aufgenötigte Reform reicht manchem Bildungspolitiker hin, ist manchem Professor schon zu viel. „Weder Schul- noch Hochschulreform“, schreibt Deutschlands einzige Bildungspolitikerin von Format, Hildegard Hamm-Brücher (FDP), „sind in der Bundesrepublik — als ganzes gesehen — in den letzten Jahren wirklich weiter gediehen. Reformversuche dienen in den meisten Ländern überwiegend als Feigenblatt und nicht als geplante Voraussetzung für gezielte Veränderungen.“

Die FDP-Politikerin, die als Kultus-Staatssekretärin im SPD-regierten Hessen tätig ist, diagnostiziert eine „bildungspolitische Beschwichtigungspolitik“, die sich „in Klein- und Kleinstreparaturen, in Flickwerk und Rückzugsgefechten“ erschöpft und „grundsätzliche Versäumnisse und Rückstände“ eher „verschleiert und verniedlicht“.

In der Tat begünstigt die so apostrophierte „Beschwichtigungspolitik“ nur partielle Reformen, die sich selbst genügen. Was hingegen not täte, wäre der Neuaufbau des gesamten Bildungswesens — neu entwerfen statt renovieren.

Dafür gibt es ein Modell: Gesamtschule — Gesamthochschule. Es ist ein Konzept, das erst noch zu Ende gedacht, verfeinert und vervollständigt werden muß, das aber gleichwohl schon in seinen Ansätzen klare Linien weist für die Ausbildung von der ersten Schulklasse bis zum Hochschulabschluß: radikal in der Neuorientierung, aber behutsam-differenzierend in der Ausgestaltung.

Vereinzelt erst ist die Rede von diesem Konzept, das ein zugleich demokratisches und leistungsfähiges Bildungssystem verheißt. Skizzenhaft erst wird es geschildert in Parteipapieren und Expertendiskussionen. Gelegentlich wird es von Bildungsfachleuten in lexikalischer Kürze umrissen — so von Professor Hellmut Becker, dem Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin: „Ersatz des dreigliedrigen Schulwesens durch ein nach Wahl und Leistung differenzierendes Gesamtschulsystem“ Zusammenfassung von Fachhochschulen und analogen Einrichtungen mit den bisherigen Hochschulen in ein Gesamthochschulsystem …“

Die Bundes-Assistenten-Konferenz (BAK), die 30 000 junge Hochschul-Wissenschaftler vertritt, formuliert in ihrem „Kreuznacher Hochschulkonzept“: „Der Lernende muß seine Entscheidungen in gewissen Abständen revidieren können, das heißt die Institutionen müssen gegenseitig durchlässig“ sein. Dieses Ziel — so die BAK — sei aber nur durch eine „Organisation des Bildungswesens in der Form von Gesamtschulen und Gesamthochschulen“ zu erreichen.

Ein Grundstudium an allen Teilhochschulen — die heutigen Universitäten eingeschlossen — würde zugleich einen derzeit noch bestehenden Rangunterschied einebnen: hier Hilfshochschulen für die Praktiker, dort Gelehrtenakademien für eine Praxisferne Elite; ein Konzept, das ohnehin nicht schlüssig ist, weil der schnelle technologische Wandel einer hochindustrialisierten Gesellschaft mehr theoretisches Wissen erfordert. Das heißt: mehr Theorie für die Praktiker.

Reine Gelehrtenakademien aber führen sich selbst ad absurdum, weil Theorien — in der Soziologie so gut wie in den Naturwissenschaften — durch Experimente erhärtet und auf ihre gesellschaftliche Bedeutung hin getestet werden müssen. Das heißt: mehr Praxis für die Theoretiker.

Weil heute noch die „Vorstellung herrscht, das systematische Lernen müsse im wesentlichen vor Eintritt in die volle Berufstätigkeit abgeschlossen sein — so der Berliner Bildungsökonom Professor Friedrich Edding –,

bleiben neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Anwendungsmöglichkeiten den meisten berufstätigen Akademikern verborgen.

Vordergründig mag dies als individuelles Bildungsmißgeschick einer Generation von Alt-Akademikern erscheinen. In die soziale Dimension gekehrt, erweist sich dieser Kenntnismangel jedoch als ein gesellschaftliches Desaster, an dem alle Bürger gleichermaßen teilhaben müssen: sei es auf der Schulbank, vor Gericht oder bei der ärztlichen Konsultation.

Edding rät, ein altes Vorurteil endlich aufzugeben und „das systematische Lernen weit mehr als bisher in die Lebensjahre jenseits des bisher typischen Schul- und Hochschulalters zu verlagern: Schulen und Hochschulen werden dann von der immer noch wirksamen Vorstellung befreit, möglichst alles für das Leben benötigte fachliche Wissen und Können in den Jugendjahren lehren zu müssen. Sie können in der Konzentration auf weniger Gegenstände in kürzerer Zeit mehr wertbeständigen geistigen Besitz schaffen. Sie können dabei zugleich die allgemein benötigten Qualitäten intensiver fördern, vor allem die Fähigkeit und die Lust, methodisch weiterzulernen“.

Ein ausgeklügeltes System von Informationsbörsen müßte in allen Bereichen der Gesamthochschule verfügbar sein, damit sich die Studenten jederzeit über das Lehrangebot in einzelnen Seminaren und Studien-Einheiten informieren könnten; damit die Wissenschaftler exakt Auskunft bekämen, wer an der Gesamthochschule an welchen Forschungsprojekten arbeitet — ein Problem, das sich nur durch ein lückenloses Computer-Verbundsystem lösen ließe.

Informationen müßten überall abrufbar sein: im Kern der Gesamthochschule ebenso wie in den einzelnen Filialen, die in den Flächenstaaten der Bundesrepublik weit voneinander entfernt liegen könnten.

Die Gesamthochschule politisch durchzusetzen wäre eine Jahrhunderttat in einem Land, in dem Establishment wie Bevölkerungsmehrheit dem Mißverständnis huldigen, Bildung sei ein Privileg. Es wäre ein Schritt nach vorn in einem Land, das die zwanzig Jahre lang herrschende CDU/CSU mit einem bildungspolitischen Verschnittprogramm abgestandener Jahrgänge beinahe unsicher in die siebziger Jahre geführt hätte.

Die Gesamthochschule würde ein autoritär verkrustetes Hochschulsystem ersetzen, das Studenten und Assistenten auf beklemmende Weise abhängig macht (von den Ordinarien), und auch die Professoren (von den Geldgebern). Sie würde neue Lehr- und Lernmethoden installieren, wo heute noch die Meinung vorherrscht — wie der Furtwanger Ingenieurschul-Dozent Helmut Kahlert sarkastisch bemerkt -, „daß ein Fach sich selber lehre … sofern der betreffende Dozent sich nur als Kenner in seiner Disziplin erweist“; wo Fakultätsgremien, wie Professor Steinbuch kritisiert, „über formale und juristische Fragen der Studien- und Prüfungsordnung mindestens viermal so lang beraten wie über wissenschaftliche und pädagogische Fragen“.

Die Möglichkeiten, die das Gesamthochschul-Modell bietet, lassen den konservativen Einwand, hier werde „Bildungs-Eintopf“ angerührt, ebenso schwach erscheinen wie die zu erwartende Behauptung linksradikaler Studenten, es handele sich um eine technokratische Reform. Genau das, technokratisch, ist diese Neuerung nicht. Der gegenteilige Eindruck kann nur bei oberflächlicher Betrachtung entstehen — perfekte Organisationen, rationelle Hochschularbeit einerseits und Hochschuldemokratie andererseits schließen einander nicht aus.

Im Gegenteil: Die demokratisierte Hochschule und die leistungsorientierte Hochschule bedingen einander in diesem Modell.

Das System Gesamtschule-Gesamthochschule verschafft jedem Jungbürger ungeachtet seiner sozialen Herkunft die individuell größten Bildungschancen — und gleichzeitig bewirkt diese Realisierung des Grundrechts auf Bildung, daß die Gesellschaft alle Talente für ihre wirtschaftliche und kulturelle Fortentwicklung mobilisiert.

Der Grundsatz der Lernfreiheit erlaubt die freie Wahl der Fächerkombinationen und ermöglicht individuelle Studienabschlüsse — und gleichzeitig genügt diese Differenzierung den Ansprüchen der Industriegesellschaft, die auf eine Vielzahl unterschiedlich ausgebildeter und kritisch-interessierter Menschen angewiesen ist.

Die Zusammenfassung aller weiterführenden Bildungseinrichtungen oberhalb der Gesamtschule räumt Prestige-Barrieren ab (zwischen Volksschullehrern und Studienräten etwa, zwischen graduierten und diplomierten Ingenieuren) — und setzt gleichzeitig das Leistungsprinzip durch, fördert die Rationalisierung von Lehr- wie Forschungseinrichtungen, ermöglicht einen ebenso kostensparenden wie didaktisch wirkungsvollen Lehrkörper-Verbund.

„Wer das ‚Bürgerrecht auf Bildung‘ kontigentieren will“, sagt Evers, „kann diesem Modell nicht zustimmen. Wer dagegen meint, Förderung jedes einzelnen bis zum Höchstmaß seiner Befähigung sei die verfassungsmäßige gesellschaftspolitische Aufgabe, der wird diesem Modell — bei allen erforderlichen Klärungen im Detail — eine Chance geben.“

Die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher: „Die Gesamthochschule ist die vernünftigste Lösung, wenn wir die Durchlässigkeit der verschiedenen Bildungswege anstreben. Mit einem entsprechenden Hochschulrahmengesetz könnte diese Entwicklung eingeleitet werden. Dann wären Gesamthochschulen schon innerhalb der nächsten zehn Jahre vorstellbar.“

Sollten diese und ähnliche Vorstellungen liberaler und sozialdemokratischer Politiker verwirklicht werden können, wären im übrigen die wichtigsten Essentials erfüllt, die Anfang letzten Jahres der — damals noch nicht vom SDS beherrschte — Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) formuliert hat.

Eine konsequent verwirklichte Gesamthochschule böte mithin eine — vielleicht die einzige — Möglichkeit, eine Brücke zu den Studentengenerationen zu schlagen, die der gegenwärtigen Gesellschaft nichts mehr abgewinnen können. Und in einer postchristdemokratischen Bundesrepublik sind die Chancen, das Modell in die Wirklichkeit umzusetzen, vielleicht so schlecht nicht — jedenfalls, immer relativ, etwas besser als bisher.