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Mit der RAF für die Treuhand – der Tod des Detlev Karsten Rohwedder
Das Unternehmen, als dessen Chef Detlev Karsten Rohwedder starb, wurde mit Beschluß der DDR-Volkskammer Anfang März 1990 ins Leben gerufen. Am 8. März 1990 gab das Gesetzblatt der DDR die »Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt) « bekannt. Zweck: »Wahrung des Volkseigentums«. Die Schaffung der Treuhandanstalt war notwendig geworden, weil die gesamten »volkseigenen« (staatseigenen) Betriebe der DDR mit der Auflösung des Arbeiter- und Bauernstaates plötzlich »in der Luft« hingen. Die Treuhand sollte die Firmen einstweilen »treuhänderisch« übernehmen, bis sie einer anderen, gesicherten Zukunft hätten entgegengehen können. Wie sich aus der Formel »zur Wahrung des Volkseigentums« ergibt, sah das erste Konzept der Trenhandanstalt vor, die Betriebe im Volkseigentum zu belassen, so daß die Arbeitnehmer zunächst noch davon ausgingen, die Betriebe »gehörten« ihnen. Uberall diskutierten Belegschaften, wie sie nun mit ihrem »Eigentum« verfahren sollten. Doch solche Pläne wurden vom Gang der Ereignisse schnell überholt. Unter der Rcgierung de Maiziere wurde aus dem Treuhandzweck »Wahrung« des Volkseigentums im Gesetzblatt vom 22. Juni1990 nun »Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens«. Das Gesetz trägt das Datum des früheren Tages der Deutschen Einheit, des 17. Juni 1990. Für Kritiker waren damit statt Wahrung »Ausverkauf und Vernichtung« der volkseigenen Betriebe besiegelt, so etwa der Schriftsteller Stefan Heym.(175: Heym in: Die Weltwoche, 8. August 1991)
Mit dem rasanten Umbruch der weltgrößten Industrieholding »Treuhandanstalt« wechselten auch deren Chefs. Der noch unter der Regierung Modrow eingesetzte Peter Moreth wurde zunächst von Rainer Gohlke abgelöst, dem obersten westdeutschen Bundesbahner, der als Lenker eines Staatsbetriebes der geeignete Mann für die Verwaltung der volkseigenen Betriebe zu sein schien. Doch mit der rapiden Weichenstellung auf Privatisierung, bestenfalls Sanierung der Betriebe begann auch sein Stern zu sinken. Für diese gewaltige Aufgabe wurde praktisch jemand gesucht, der die Quadratur des Kreises repräsentierte, der Staat und Wirtschaft, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, West und Ost gleichermaßen vertrat. Gefragt war eine Art menschliche Schnittstelle zwischen Staat und Wirtschaft.
Man fand sie in Detlev Karsten Rohwedder, Vorsitzender des Vorstandes der Dortmunder Hoesch AG und SPD-Mitglied, Spitzenunternehmer und Ex-Staatsbeamter, »Wessi«, aber gebürtiger »Ossi« (aus Thüringen). Als Rainer Gohlke Ende August 1990 das Handtuch warf schien mit Detlev Karsten Rohwedder der ideale Mann auf den Schleudersitz des Treuhand-Chefs nachzurücken. Er schien nicht nur eine ideale Kombination aus allen für die vertrackte Lage gewünschten Eigenschaften zu sein, sondern er war vor allem auch noch dies: der profilierteste Unternehmenssanierer der Republik, der Retter der Hoesch AG. Seine Gesundungskur für das angeschlagene Stahlunternehmen ist legendär, unvergessen die Zeit, da Rohwedder den Hoesch-Konzern in einer hoffnungslosen Lage umstrukturiert, saniert und wieder in die schwarzen Zahlen geführt hat. Seitdem hatte der Mann seinen Ruf als genialer Sanierer weg. Er galt als Geheimwaffe in solchen Fällen, zu Hilfe kam ihm dabei seine »Mittlerposition« zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er selbst sah das genauso: Der Treuhand-Job sei »in dieser Mittellage zwischen Industrie und Politik« genau nach seinem Geschmack, sagte Rohwedder nach seinem Amtsantritt.
Ein politischer Ziehsohn des legendären Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller, diente Rohwedder sechzehn Jahre lang drei weiteren Ministern (Schmidt, Friderichs, Lambsdorff) als Staatssekretär, bis er 1979 den Job bei Hoesch übernahm. Bereits 1972 war Rohwedder Mitglied der SPD geworden und konnte auch insoweit als Mann des Ausgleichs zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gelten. »Ich hielt Rohwedder damals für eine glückliche Wahl«, sagte nach Rohwedders Tod der SPD-Finanzexperte Wolfgang Roth in einem QUICK-Interview.(176: Quick, 11.12.1991) Auch die taz verteidigte Rohwedder später in einem Nachruf gegen seine Mörder.
Rohwedders Berufung konnte als politisches Signal begriffen werden, die rund zehntausend »volkseigenen« Betriebe der DDR nicht einfach zu »versilbern«, sondern zunächst auch ernstgemeinte Versuche zu deren Sanierung zu unternehmen. Wenn hier einer Erfolge hätte erzielen können, dann Rohwedder.
Zwar war die »Privatisierung« neben der »Reorganisation« des Volksvermögens im Treuhandgesetz angelegt, doch noch kurz vor dem Mord an Rohwedder erhielt die Sanierung durch Beschluß der Bnndesregierung erneut ein größeres Gewicht. Für Rohwedder war das keine Überraschung, ist aus der FAZ zu erfahren: »Ich habe eine hundertprozentige Privatisierung nie für möglich gehalten. Viele Unternehmen würden mit einer hohen staatlichen Beteiligungsquote aus dem Privatisierungsprozeß hervorgehen«, schätzt der Treuhand-Chef. Eine » reinrassige, gedanklich saubere und schnörkellose Marktwirtschaft« sei für Rohwedder im Osten nicht denkbar, so die FAZ.(177: FAZ, 31.3.1991)
Doch Rohwedder kümmerte sich nicht nur um Sanierungsansätze; weitere Themen des Treuhand-Vorsitzenden waren Unternehmenskonzentrationen und Auswirkungen der anstehenden Entwicklungen auf die Arbeitnehmer. Rohwedder hatte Bedenken, westliche Monopolkonzerne würden sich billig marktbeherrschende Ost-VEBs unter den Nagel reißen und Arbeitnehmerrechte außer acht lassen. Der Verkauf von Unternehmen setze nun mal voraus, so der Treuhand-Chef, »daß wir uns Gedanken über mögliche Auswirkungen auf den Wettbewerb und die sozialen Interessen der Arbeitnehmer machen mussen.« Das war eine Lektion, die Rohwedder im harten Kampf zwischen Gewerkschaften und den Interessen des Hoesch-Konzerns gelernt hatte.
Privatisieren oder sanieren?
Aber die Treuhandanstalt sprach mit gespaltener Zunge, ein wesentlicher Grund für das Mißtrauen, das ihr alsbald aus der Bevölkerung entgegengebracht wurde. Wortführerin der Privatisierungsfraktion im Treuhand-Vorstand war die frühere niedersächsische Wirtschaftsministerin Birgit Breuel. In einem Interview mit der FRANKFURTER RUNFSCHAU vom 20. Oktober 1990 sagte sie, es sei »in der Tat nicht die Aufgabe der Treuhand, alle Unternehmen erst einmal zu sanieren«. Die »beste Sanierung« könne »ein neuer, unternehmerisch handelnder Eigentümer vornehmen«. Deshalb gilt bei der Treuhand »das Prinzip: Privatisieren vor Sanieren.« Ob sie eigentlich auch eine sozialpolitische Aufgabe habe, wollte der Reporter wissen. Breuel: »Nicht unmittelbar. Wir müssen uns da im Rahmen des Machbaren bewegen.«
Birgit Breuel stand im Treuhand-Vorstand nicht alleine. Allmählich geriet Sanierer Rohwedder in dem Gremium in Schwierigkeiten, der Treuhand-Vorsitz drohte sich erneut als Schleudersitz zu erweisen. So berichtet die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 31. Oktober 1990 von »erheblichen Differenzen« in der Treuhand-Spitze: »Während Rohwedder der Ansicht ist, daß möglichst viele der sanierungsfähigen Betriebe zuerst saniert und dann verkauft werden sollen«, setze Vorstandskollegin Birgit Breuel »ganz auf einen schnellen Verkauf«. Im Kreise der sieben Präsidiumsmitglieder befinde sich Rohwedder gar in einer »Minderheitenposition«, so die SZ. Tatsächlich seien die Manager der Treuhand »heillos zerstritten«, bestätigt der SPIEGEL.(178 Der Spiegel, 29.10.1990) Während Rohwedder auf »kostspielige Sanierungen« setze, vertrete Birgit Breuel, »bekannt für ihren radikalen marktwirtschaftlichen Standpunkt«, die Devise: »Privatisierung ist die vordringliche Aufgabe.« Zwar hüte sich Rohwedder, der Vorstandskollegin offen zu widersprechen, handle jedoch längst anders: »Der Sanierer des Stahlkonzerns Hoesch möchte als Treuhand-Chef möglichst viele Firmen wieder flott machen. Rohwedders immer deutlicher zutage tretende Strategie, möglichst viele Firmen unter Regie der Treuhand zu sanieren, hat Konsequenzen, die derzeit niemandem in Bonn passen: Die Treuhandanstalt braucht noch mehr Geld.« Die Treuhand-Linie -werde auch den Bonner Marktwirtschaftlern, die einen Prozeß der schöpferischen Zerstörung forderten, »gar nicht schmecken«, schätzt der SPIEGEL: »Sie werden Rohwedder vorwerfen, nicht genug Härte zu zeigen und längst bankrotte Betriebe weiter mitzuschleppen.« Sogar über einen Rücktritt des Sanierers »zum Jahresende«(179: Süddeutsche Zeitung, 7.11.1990) wurde öffentlich spekuliert. »Kritiker lasten dem Stahlmanager an«, so die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG,(180: Süddeutsche Zeitung, 7.11.1990) »er betreibe die Privatisierung der rund achttausend ehemaligen volkseigenen Betriebe und Kombinate der DDR zu langsam und messe der Sanierung der maroden Unternehmen Priorität zu.« In der Tat ging der Privatisierungsprozeß unter Rohwedder nur schleppend voran: Ende Februar 1991, nach sieben Monaten, waren gerade sechshundert Unternehmen verkauft, (181: Die Welt, 21.2.1991) Ende März tausend.(182: Süddeutsche Zeitung, 18.3.1991)
Rohwedder selbst wies die Berichte über Zwist in der Treuhand übrigens zurück. Die Arbeit im Vorstand sei vielmehr »geprägt von Harmonie«.
Kritik aus USA
Doch Treuhand-Chef Rohwedder hatte nicht nur Ärger im eigenenVorstand, Beschuß kam von allen Seiten. So endete eine Goodwilltour des Treuhand-Vorsitzenden durch die USA Ende November 1990 mit einer Bauchlandung. Rohwedder habe bei der amerikanischen Wirtschaft »ein zwiespältiges Echo hinterlassen«, meldete das HANDELSBLATT.(183: Handelsblatt, 26.11.1990) Zum einen hielten die US-Manager die Verfahren bei der Privatisierung der achttausend ostdeutschen Unternehmen für »zu bürokratisch«. Zum anderen glaubten sie, daß »zu viel Zeit zur Rettung der angeschlagenen Ost-Firmen« vertan wird. In den Vereinigten Staaten, so das HANDELSBLATT, »beobachten sowohl die Regierung als auch Unternehmensmanager mit Erstaunen, wie kompliziert die Privatisierung der achttausend ostdeutschen Unternehmen verläuft.« Während große Firmen damit weniger Probleme hätten, glaubten mittelgroße Unternehmen, »daß sie mehr oder weniger von Investitionen in ostdeutschen Firmen ausgeschlossen würden, und zwar wegen der komplizierten Verfahren und Anforderungen«. Weiteres Problem aus US-Sicht: die ökologischen »Altlasten« der ehemaligen DDR-Betriebe. Dieses Problem müsse politisch gelöst werden, denn sonst werde für Interessenten aus dem Ausland der Einstieg in die deutsche Wirtschaft zu teuer. »Ganz offen klingt dabei die Vermutung an, daß die Deutschen sich mit dieser restriktiven Handhabung Interessenten aus dem Ausland fernhalten wollen«, berichtet das HANDELSBLATT. Für die Beseitigung der Umweltschäden solle der deutsche Staat aufkommen, wünschen sich die US-Manager. Die Deutschen, setzen die Amerikaner dem Besucher von der Treuhand-Anstalt die Pistole auf die Brust, müßten entscheiden, was ihnen wichtiger sei: eine rasche Privatisierung oder die Beseitigung von Umweltschäden. Neben den »Altlasten« fürchten die US-Unternehmer auch die deutschen Arbeitsschutzgesetze und die Gewerkschaften; beides behindere den Verkauf ostdeutscher Unternehmen an ausländische Investoren.(184: Handelsblatt, 26.11.1990) Beides sind Faktoren, mit denen Rohwedder nicht nur zu leben gelernt, sondern die er auch gewillt war in den Umwälzungsprozeß in den neuen Bundesländern einzubeziehen.
Tatsächlich schrecke »die undurchsichtige Bürokratie« viele Interessenten ab – »insbesondere aus dem Ausland« -, meldet auch der SPIEGEL eine Woche vor Rohwedders Tod am 25. März 1991: Die Beschwerden potentieller Investoren über Desinteresse und Verzögerungstaktik der Rohwedder-Truppe, so das Nachrichtenmagazin, »häufen sich«. Nicht nur den Amerikanern, auch den Briten stößt Rohwedders Treuhandpolitik übel auf. Die britischen Unternehmensberater Economic Finance Ltd. fuhren schweres Geschütz gegen die Treuhand auf und beschwerten sich über »Dilettantismus«, die »Etablierung neuer, westlich orientierter Seilschaften« und gar »brutales finanzielles Eigeninteresse«. Economic-Finance-Geschäftsführer Peter Stähli beklagte sich, daß britische Investoren im Osten Deutschlands nicht so recht zum Zuge kämen. Für ihn war ein weiterer Grund der »übertriebene Bürokratismus innerhalb der Treuhand«. Dabei seien es nicht einmal so sehr die unklaren Regelungen bei der Eigentumsfrage, sondern es sei »einzig und allein« die »mangelnde Kooperationsbereitschaft von seiten der Treuhand«, was den Briten auf den Nägeln brenne.
Briten und Amerikaner griffen Rohwedder deshalb so hart an, weil sie im Zusammenhang mit den Investitionshindernissen in Ostdeutschland nicht an Zufall glauben mochten. Sie sahen etwa in der Übernahme der ökologischen Altlasten, in der Bundesrepublik längst ein selbstverständliches Thema bei Unternehmenskäufen, reine Schikane, um die Etablierung britischen und amerikanischen Kapitals auf dem deutschen Markt zu verhindern. ,Mit der insbesondere amerikanischen Unternehmern eigenen Arroganz konnten sie auch in Arbeitsschutzbestimmungen und Gewerkschaftsgesetzen eigentlich nichts anderes als böse Fallstricke auf dem Weg zur Teilnahme an einem neuen deutschen Wirtschaftswunder sehen. Daß solche Bestimmungen tatsächlich für die Arbeitnehmer gemacht worden waren, kam ihnen nicht recht in den Sinn.
So war in amerikanischen Tageszeitungen zu lesen, die Deutschen betrachteten die Übernahme des DDR-Wirtschaftsvermögens allein als deutsche Angelegenheit, Ausländer würden behindert, wenn nicht sogar gestört. Tatsächlich, vermerkte das DEUTSCHE ALLGEMEINE SONNTAGSBLATT, habe Treuhand-Vorstand Jens Odewald bei einem USA-Besuch seine Ausführungen nach Art von Leuten begonnen, »die bemüht sind, ein Produkt nicht zu verkaufen. Im Grunde, so mußten die Amerikaner hören, sei alles ganz schwierig.« (185: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19.10.1990)
Doch neben der massiven Kritik warteten die potentiellen »Investoren« aus Großbritannien und den USA auch mit einigen Vorschlägen auf. Eine Beschleunigung der Unternehmensverkäufe wäre durchaus zu erreichen, so die Amerikaner, wenn man nur »die ganze Privatisierung an private Investmentbanken abgibt, die dann für ein Erfolgshonorar arbeiten«.(186: Handelsblatt, 26.11.1990)
Da diese Banken ihr Honorar nur im Falle eines Abschlusses erhielten, wären sie daran interessiert, Verkaufsabläufe zu beschleunigen. Anschließend würden die Käufer die Sanierung der ostdeutschen Betriebe übernehmen.
All das bedeutet: Nur wenige Monate nach seinem Amts-antritt hatte Rohwedder bereits abgewirtschaftet. Zu vielen Leuten paßte seine Linie nicht ins Konzept.
Kohl muß weg
Während sich der Treuhand-Vorstand um die künftige Strategie zerfleischte und Rohwedder im Ausland Prügel bezog, wurde die Treuhand auch im Inland zur Zielscheibe massiver Kritik und von Angriffen nicht nur von links, sondern auch von rechts, was später gern vergessen wurde.
So gingen die CDU-Politiker Geißler und Biedenkopf Rohwedder hart an; Geißler warf dem Treuhand-Vorsitzenden gar »Versagen« vor.
Hauptproblem für Regierung und Treuhand war jedoch nunmehr, daß sich die soziale und politische Lage in den neuen Bundesländern dramatisch zuzuspitzen begann und Politiker von rechts und links nach einem Sündenbock für das sich anbahnende Desaster suchten. Nach den Kohl-scheu Wahlversprechungen, niemandem werde es nach der Wende schlechter gehen, zeigte nun die Realität ihr Gesicht – der Arbeitsmarkt im Osten brach nahezu restlos zusammen. Die Bundesanstalt für Arbeit erwartete eine Arbeitslosenquote von dreißig bis fünfzig Prozent für die neuen Bundesländer, das sind bis zu vier Millionen Arbeitslose. Die Regierung Kohl stand vor dem Offenbarungseid.
Die Montagsdemonstrtionen, von den Bonnern selbst noch als Ausdruck demokratischer Gesinnung gelobt, leiten auf und begannen sich nunmehr gegen die Bonner Koalition selbst zu richten. Die bewährten Diffamierungsmethoden und die Abstempelung der Demonstranten als »Chaoten« oder »Unruhestifter« verboten sich daher. Schließlich hatte man die Leute gestern noch für ihr Auf-begehren gegen den Honecker-Staat gelobt.
Angesichts der zusammenbrechenden Ostwirtschaft befürchtete die Bundesregierung »schwere soziale Unruhen« (SPIEGEL). Die Bonner Koalition, deren nahezu sämtliche Wahlversprechen sich als unhaltbar erwiesen hatten, geriet unter schweren politischen und moralischen Druck. Die »Wir-sind-das-Volk«-Bevölkerung der ehemaligen DDR, noch ausgestattet mit einem frischen »revolutionären Bewußtsein«, drohte, sich ein zweites Mal zu erheben und gleich noch eine Regierung hinwegzufegen. – »Kohl muß weg«, lautete der Slogan einer Montagsdemo.
Selbst die SPD sah sich nunmehr gezwungen, so etwas wie eine Oppositionsrolle zu spielen, indem ihr Vorsitzender Björn Engholm Neuwahlen forderte: »Wer das Vertrauen der Bevölkerung verliert, muß die Vertrauensfrage stellen und gegebenenfalls Neuwahlen ausschreiben. Das ist der durch das Grundgesetz vorgeschriebene Weg«, markierte Engholm die Marschrichtung seiner Partei. Die Regierung sei mit ihrem Latein am Ende und die Sozialdemokraten seien bereit, sich der Verantwortung zu stellen. Damit geriet Kohl auch parlamentarisch unter Druck, die Regierungsgeschäfte drohten ihm aus der Hand zu gleiten. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Vogel verlangte von Bundeskanzler Kohl, sich bei den Menschen in Ostdeutschland zu entschuldigen. Andere dachten laut über die Bildung einer großen Koalition nach. Vier Monate nach den Bundestagswahlen vom 2. Dezember 1990 stand die Bonner Regierung am Abgrund. Die Lage drohte ihr außer Kontrolle zu geraten, sie selbst im Strudel der Ereignisse zu verschwinden. Die Sensibilität der neuen Ostbürger für leere Versprechungen und hohle Floskeln brachte die Bonner in die Gefahr des Machtverlusts.
Nur einer ließ sich davon nicht im geringsten beeindrucken: der Bundeskanzler selbst. Während es in den neuen Ländern kochte und brodelte, fuhr Kohl in aller Seelenruhe zum Abspecken an den Wolfgangsee. Zwar plante er nach Ostern einen Besuch in der Ex-DDR, doch das konnte sich so recht niemand vorstellen: »Könnten Sie dem Kanzler guten Gewissens raten, sich den Demonstranten in Leipzig zu stellen?« fragten Reporter fünf Tage vor dem Rohwedder-Attentat die brandenburgische Arbeitsministerin Regine Hildebrandt. Antwort: »Kohl kann man es im Moment nicht empfehlen. In Leipzig wäre der Teufel los.«(187: Stern, 27.3.1991) Doch während sich in diesen stürmischen Tagen vor Ostern 1991 niemand den Bundeskanzler so recht in den revoltierenden neuen Bundesländern vorstellen kann, hat dieser überhaupt keine Probleme bei dem Gedanken an den nach den Feiertagen bevorstehenden Ostbesuch. Einem Fernsehreporter gibt er zu verstehen, er werde sein Besuchsprogramm selbstverständlich absolvieren.
Das »RAF«-»Stasi«-Gespenst
Wie es der Zufall so will, gibt es in jenen Tagen vor Ostern neben den Ereignissen im Osten noch ein zweites großes Medienereignis: die » RAF«-»Stasi«-Connection. Just eine Woche vor dem Attentat auf Rohwedder breiten Fernsehen und Illustrierte jene »furchtbare Allianz« vor ihrem Publikum aus. Losgetreten wird die Lawine von zwei freien Mitarbeitern des Femsehmagazins Monitor, die aus anonymen Vernehmungsprotokollen angeblicher Stasi-Mitarbeiter zitieren. Es sind jene Journalisten, die mit den Behauptungen in ihrem Buch Die RAF-Stasi-Connection vor Gericht später mehrere Niederlagen erleiden. Zwar präsentieren sie in Monitor lediglich »Beweise« für eine Zusammenarbeit von »RAF« und »Stasi« Anfang der achtziger Jahre, doch geschickt erwecken sie beim Zuschauer durch Einblendung von Bildern der neueren Attentate auf Beckurts und Herrhausen den Eindruck, als sei diese Allianz auch für spätere Morde verantwortlich. Der DDR-Geheimdienst habe den westdeutschen Untergrundkämpfern »auch den Umgang mit Lichtschrankenzündern« beigebracht, legt der SPIEGEL nach. (188: Spiegel, 14/1991) »Lichtschrankenzünder«, die es aller Wahrscheinlichkeit nach niemals gegeben hat. In den Tagen vor dem Anschlag auf Rohwedder beherrscht die »RAF-Stasi-Connection« die ersten Seiten der Zeitungen und die Kommentare der Rundfunkanstalten. Die »RAF-Stasi-Connection«, in der beweisbaren Substanz eine offenbar einmalige Schießübung von »RAF«-Mitgliedern in der DDR, wird zum neuen Gespenst des wiedervereinigten deutschen Staates. Mit »RAF« und »Stasi« werden in einer gigantischen Bewußtseinsoperation zwei deutsche Haßbegriffe erster Güte verschmolzen. Auch die Ostbürger, bislang in Sachen »RAF« eher unbeleckt, begreifen jetzt die Staats- und Bürgerfeindlichkeit dieser geheimnisvollen Organisation. Wenn die »RAF« mit der »Stasi« gemeinsame Sache macht, kann sie ja wohl kaum positiv zu bewerten sein. In dieser Stimmung geht das Volk in die Osterfeiertage.
Seinen Mitarbeitern in der Treuhand gibt Detlev Karsten Rohwedder einen dreiseitigen Brief mit auf den Weg, nicht wissend, daß dies sein letzter sein sollte. Dort verbeugt er sich mit der marktwirtschaftlichen Formel, wonach »Privatisierung die beste Sanierung« sei, vor seinen Gegnern, bekennt sich aber auch dazu, daß unausweichliche Stillegungen behutsam zu strecken seien, »um Zeit für das Aufwachsen neuer Arbeitsplätze zu gewinnen«. Unternehmen mit Zukunftschancen, die sich aber noch nicht privatisieren ließen, sagte der Treuhand-Chef seine »entschlossene« Unterstützung zu.(189: Frankfurter Rundschau, 11.4.1991)
Letzte Meldung
»Karlsruhe, 25. März (dpa). Vor wenigen Tagen sind aufgrund von Beschlüssen des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe Zellen inhaftierter Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) in einigen Justizvollzugsanstalten durchsucht worden. (…) Rechtsanwältin Renate Trobitzsch aus Hannover kritisierte, daß die Behörden bei den Durchsuchungen der Zellen dem Briefwechsel der Gefangenen ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Dabei handle es sich um Schreiben, „die durch ein bis zwei Anstaltszensuren gegangen und mitgelesen worden waren.“ (190: Frankfurter Rundschau, 26.3.1991)
Schüsse aus der Dunkelheit
Als der Treuhand-Chef am Vorabend seines Dienstantritts nach Ostern in Berlin, am Ostermontag, den 1. April 1991, um 23.30 Uhr mit dein Rücken zu einem Fenster im ersten Stock seines Düsseldorfer Hauses steht, trifft ihn ein tödlicher Schuß. Rohwedder fällt vornüber und ist augenblicklich tot. Bereits die Qualität dieses Schusses, abgefeuert aus ca. dreiundsechzig Metern Entfernung, ist von Interesse. Die Attentäter wollten offenbar nichts dem Zufall überlassen und brachten im ersten Versuch einen geradezu chirurgischen Treffer an. Das Projektil traf Wirbelsäule, Aorta, Speise- sowie Luftröhre des Treuhand-Präsidenten: ein Meisterschuß. Es erhebt sich nur die Frage, weshalb der Täter, der die Anatomie seines Opfers mit Sicherheit in Großaufnahme im Zielfernrohr hatte, noch zwei gänzlich unnütze Schüsse abfeuerte: einen auf Rohwedders Frau Hergard, die ins Zimmer gerannt kam, einen ins Bücherregal. (191: Peters, RAF, a.a.O., S. 407) Zumal das Opfer durch sein Ableben inzwischen mit Sicherheit aus dem Visier des Scharfschützen verschwunden war, ist nicht ohne weiteres verständlich, wieso er zusätzlich Frau Rohwedder verletzte und eine weitere Kugel in das Bücherregal setzte. Als Erklärung bietet sich hilfsweise an, daß der Täter die Professionalität seiner »Arbeit«, die bei einem einzigen tödlichen Schuß allzu offensichtlich gewesen wäre, verwischen wollte, indem er am Tatort zumindest für den Laien den Eindruck des »Herumballerns« erweckte. Unterm Strich kann jedoch kein Zweifel bleiben, daß es sich hier um einen ausgebildeten Schützen handelte, der die sofortige, tödliche Wirkung seines Schusses sehr genau kannte und über die Anatomie des menschlichen Körpers genau im Bilde war. Genau nach demselben Muster wurde 1986 der schwedische Ministerpräsident Olof Palme erschossen. Der Schuß zwischen die Schulterblätter ist bei Profis besonders beliebt, da er vier Lebensstränge gleichzeitig zerreißt.
In dem Rohwedders Haus gegenüberliegenden Schrebergartengelände hatte(n) der oder die Täter wieder einmal – freiwillig – Spuren hinterlassen, deren Zusammenhang mit der Tat nur teilweise erkennbar ist. Nach drei Schüssen lagen dort »ordnungsgemäß«, laut dpa neben einem »Gartenstuhl«, drei Patronenhülsen des Kalibers 7,62 mal 51 Millimeter – NATO-Standard, aber auch fürJagdgewehre gut. Hier stellt sich bereits die Frage, weshalb die Täter die Patronenhülsen eigentlich liegenließen. Angesichts ihrer Professionalität muß man davon ausgehen, daß dies ganz bewußt geschehen ist, denn schließlich wurden bislang alle verwertbaren Spuren von ihnen offenbar vollständig beseitigt. Von Tätern bewußt hinterlassene Spuren sind aber in aller Regel falsche Spuren. Die Formulierung, daß die Patronenhülsen »neben« dem Gartenstuhl lagen, weist darauf hin, daß sie in unmittelbarer raumlicher Nähe beieinander lagen. Zu klären wäre hier, ob das bei dein kräftigen »Auswurf« eines NATO-FN-Gewehres überhaupt wahrscheinlich ist oder ob die Täter mit einer ganz anderen Waffe schossen, deren Patronenhülsen mitnahmen und statt dessen die von einem NATO-Gewehr hinlegten, wie es auch bei dem Attentat auf die US-Botschaft verwendet worden sein soll.
Auf oder neben dem (die Berichte widersprechen sich hier) Klapp- oder Gartenstuhl lag ein Fernglas, unter dem sich der erste Bekennerbrief befand, der wie immer nur ein paar allgemeine Parolen enthielt. Das Herrhausen-Attentat lehrt, daß solche Spuren nicht unbedingt etwas mit der Tat zu tun haben müssen, möglicherweise über deren wahren Hergang hinwegtäuschen oder einfach den Medien Stoff für ihre Berichte geben sollen. Ein Tatort völlig ohne Spuren würde die Aufmerksamkeit womöglich allzu-sehr auf die unheimlichen Qualitäten des »RAF-Phantoms« lenken, irgendwelche Gegenstände wie Ferngläser verleihen ihm immerhin noch menschliche Züge.
Ging vor dem Attentat wie immer alles zielsicher daneben, beginnt danach die große Medien- und Öffentlichkeitsinszenierung. Für die Fernsehkameras gibt es etwas zu sehen, als BKA-Beamte vor dem Rohwedder-Haus eine große Laser-Light-Show arrangieren, indem sie mögliche Schußbahnen mit einem Laserstrahl nachzeichnen. Für die Fahndung nach den Tätern bringt das überhaupt nichts. Aber dafür gibt es ja die große Ringfahndung, die unmittelbar nach den tödlichen Schüssen ausgelöst wurde.
dpa-Korrespondent Gerd Korinthenberg beobachtete die Polizei bei der Arbeit.(192: Gerd Korinthenberg in einem Gespräch mit den Autoren) Erstaunt nahm er beispielsweise zur Kenntnis, wie Autos vor den Polizeisperren an der Rheinbrücke einfach zurücksetzten, umdrehten und davonfuhren. Fußgänger wurden erst gar nicht kontrolliert. Korinthenberg ging sogar auf einen Beamten an einer Absperrung mit der Frage zu, ob er ihn nicht überprüfen wolle. Antwort: »Wir haben gerade andere Sorgen.« Das wunderte den großen, dunkelhaarigen dpa-Korrespondenten um so mehr, »als ich, wenn ich mal mit dreihundertneunzig Urlaubern aus Mallorca am Flughafen ankomme, als einziger immer kontrolliert werde.«
Als nächstes kam Korinthenberg an einem Streifenwagen mit weit offenem Kofferraum vorbei, in dem einladend eine Maschinenpistole lag: »Ich hätte die umnieten können, ohne daß die überhaupt gewußt hätten, was los ist.« Einigermaßen verstört setzte der Korrespondent seinen Weg vom Tatort in das dpa-Büro fort, der ihn auch am nordrhein-westfälischen Innenministenum vorbeiführt. Friedlich lagen dort drei Maschinenpistolenmagazine mit neunzig Schuß scharfer Munition auf dein Pflaster. »Komödienstadel« und »Fahndungsfarce « sind die Ausdräcke, die einem hierzu einfallen.
Und während es mit der Kontrolle der Passanten rund um den Tatort eher haperte, wurden im Polizeipräsidium ortsfremde Polizisten vor dem Einsatz zuerst akribisch nach ihren Personalien befragt. »Für meinen Geschmack war das Aktionismus mit starken Merkmalen von Konfusion«, faßt dpa-Korrespondent Korinthenberg seine Eindrücke in einem Gespräch mit den Autoren zusammen.
Seine Erlebnisse waren durchaus kein Einzelfall. So war auch ein Lokalreporter der WESTDEUTSCHEN LANDESZEITUNG nach dem Attentat mit seinem Pkw in den »Fahndungsring« geraten. Da er genügend Ortskenntnis besaß, vermied er den Stau vor der Südbrücke und fuhr in Richtung Fleher-Brücke, die er ungehindert passieren konnte.(193: Siegener Hochschulzeitung, 3/91)
Solche »Schlampereien« hinterlassen in der Tat den Eindruck, daß hier lediglich eine große Medienshow veranstaltet wird, bei der niemand wirklich glaubt, einen Täter dingfest zu machen. Ob solche Nachlässigkeiten nun die Ursache oder die Wirkung des Umstands sind, daß das »RAF«-Phantom regelmäßig entwischt, ist vorerst offen. Dazu paßt jedenfalls die Aussage, die ein Polizeisprecher einem anderen Journalisten gegenüber machte: So liefen die Fahndungsmaßnahmen immer ab, man wolle damit lediglich eine gewisse »Unruhe« in dem Stadtteil erzeugen. Von einer derartigen »Unruhe« dürften sich professionelle Täter wie die unter dem Label der »RAF« operierenden wohl kaum beeindrucken lassen.
Ein weiterer Reporter, der die Arbeit der Sonderkommission Rohwedder beobachtete, lag mit seinen Kollegen »schon immer unterm Tisch« vor Lachen, wenn die Beamten wieder mal ihre »Hauptspuren« referierten, »weil das immer das gleiche war«: irgendwelche »unbekannten Personen«, die sich im Tierheim einen Hund ausleihen wollten. Die Fahnder »rannten gegen eine Wand, es gibt letztlich keine Chance, die zu kriegen«, erinnert sich der Journalist an die Stimmung bei der Polizei.
Falsche Sicherheit und viele Fragen
»Mögliche Zielpersonen« sollen durch »verdeckte Maßnahmen « beobachtet werden. »Wochenendaufenthalte « sind ein »Schwerpunkt der Aufklärung« – das ist nicht etwa ein Strategiepapier der »RAF« zum sicheren Ausspähen möglicher Opfer, sondern jenes »Fahndungskonzept 106« der AG Kripo, das bereits im Fall Herrhausen kläglich versagte. Nach Informationen‘ des Femsehmagazins Panorama war Detlev Karsten Rohwedder »ausdrücklich« in dieses Fahndungskonzept eingebunden. Und wie die anderen Terroropfer war auch Rohwedder nach einer Reuter-Meldung »seit längerer Zeit ausgespäht« worden, die Täter mithin wiederholt am künftigen Tatort. Doch wie schon bei allen anderen Terroropfern versagten auch bei dem Chef der Treuhand-anstalt sämtliche Schutzmaßnahmen, bei Konzept 106 angefangen. Zu den näheren Umständen dieses Schutzes will man nach dem Attentat im Düsseldorfer Polizeipräsidium »nicht viel sagen«. Doch einmal mehr kommt heraus, daß auch bei dem Mord an Rohwedder wie bei dem Attentat auf Herrhausen Polizeikräfte »zeitnah« vor dem Attentat im Einsatz waren. Nicht direkt am Abend des Attentats, aber irgendwann am 1. April 1991, in dessen letzter Stunde Rohwedder starb.
Die Begründung, die diesmal für das Versagen präsentiert wird, ist ebenfalls kaum zu glauben: Das detaillierte Fahndungskonzept, das im Grunde jede mögliche Tatvorbereitung auflistet, soll im Falle Roliwedder »nicht konsequent angewandt worden« sein, sagt der inzwischen verstorbene Hamburger Verfassungsschützer Christian Lochte in Panorama: »Ich will es mal ein bißchen lappisch sagen: Es ist verkommen, wie ich das nenne, zum Peterwagen-Prinzip. Man hat sich in der Regel damit begnügt, einen Peterwagen ums Haus kreisen zu lassen oder den Peterwagen vor die Tür zu stellen.« Auch sonst hat man es nach Panorama-Informationen mit dem Schutz von Deutschlands angefeindetstem Manager nicht so besonders genau genommen. So hatten die Behörden gegenüber von Rohwedders Haus einen »Schrebergärtner« als Beobachter engagiert. Dabei hieß es bei den Fahndungsbehörden, daß dafür »nur speziell geschulte Beamte eingesetzt werden« sollen.
Weitere Merkwürdigkeit: Offenbar unterschieden sich die Schutzmaßnahmen an Rohwedders Heimatwohnort von denen an seinem Berliner Arbeitsplatz. Dort sei Rohwedder in die höchste Kategorie 1 eingestuft gewesen, was beispielsweise einen gepanzerten Dienstwagen beinhaltet habe, hieß es. In Düsseldorf habe für Rohwedder dagegen die »laschere« Schutzkategorie 2 gegolten. Zweite Merkwürdigkeit: Erst auf Ersuchen Nordrhein-Westfalens sei Rohwedder schließlich auch in Berlin nur in die Sicherheitsstufe 2 eingestuft worden. Das gehe aus Unterlagen des Berliner Innensenators hervor, meldete die FRANKFURTER RUNDSCHAU. 194 Die Richtigkeit dieser Information vorausgesetzt, beinhaltet sie eine mittlere Sensation: Ein Bundesland mischt sich in die Sicherheitsmaßnahmen eines anderen Bundeslandes ein, mit dem Ziel, den Schutz für einen Topmanager auszudünnen. Die Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen, die Einstufung von Gefährdeten und schließlich die Bereitstellung von Polizeikräften sind eindeutig Ländersache. Also konnte es den nordrhein-westfälischen Behörden auch nicht darum gehen, Polizeikräfte zu sparen. Der bessere Schutz in Berlin hätte eher zu Überlegungen führen müssen, Rohwedder auch in Düsseldorf heraufzustufen, nicht aber dazu, den Schutz in Berlin auch noch zu vermindern.
Die Ungereimtheiten setzen sich fort, wenn man die Sicherheitsmaßnahmen an Rohwedders Haus in Düsseldorf-Oberkassel selbst betrachtet. So wurde zwar das Erdgeschoß der Villa mit schußhemmendem Glas ausgestattet, nicht aber das erste Obergeschoß, dessen Fenster die Täter schließlich zielsicher unter Beschuß nahmen. Nun macht aber die Ausstattung nur einer Etage eines Hauses mit schußhemmendem Glas so wenig Sinn, daß die Frage erlaubt sein muß, wie es zu dieser unglaublichen »Panne« kommen konnte. Das wurde jedoch öffentlich nie abschließend geklärt.
Klar ist nur, daß das »RAF-Phantom« wieder einmal mit schlafwandlerischer Sicherheit sämtliche Schwachstellen erkannte, zunächst Rohwedders schlecht geschützten Heimatwohnsitz als Tatort auswählte, dann abwartete, bis sich der Treuhand-Chef nur noch hinter gewöhnlichem Glas befand, feuerte und spurlos verschwand.
Diese Tatsache fiel auch anderen auf, etwa dem Frankfurter »Sicherheitsexperten« und Privatdetektiv Klaus-Dieter Matschke, den wir später noch eingehender kennenlernen werden. Matschke stammt aus dem Dunstkreis des niedersachsischen Skandal-Innenministeriums, das er überJahre hinweg mit Informationen und Gerüchten zufolge auch mit sicherheitstechnischem Gerät belieferte. Laut SPIEGEL soll Matschke Verbindungen zu dem niedersächsischen Einsatzleiter des berüchtigten »Celler Loches«, Klaus Vogt, gehabt und versucht haben, diesem einen neuen Job in Sachsen-Anhalt zu verschaffen. 195 Matschkes »KDM Ermittlungsbüro« in Frankfurt bietet umfangreiche Sicherheitsleistungen für die Wirtschaft an, man kann also davon ausgehen, daß Matschke mit den Techniken möglicher Attentäter vertraut ist. In seinem Bücherregal finden sich die Schriften von Clausewitz ebenso wie die von Machiavelli sowie eine Plakette des Bundeskriminalamtes: Mit Dank für die »hervorragende Zusammenarbeit«.
In dem Heft DEUTSCHE POLIZEI vom September 1991 nimmt Sicherheitsmann Matschke die Taten der »RAF« unter die Lupe: »Geht man davon aus, daß der -harte Kern- der RAF durch die Festnahmen der letztenJahre weitgehend -ausgetrocknet- ist und der Großteil der Mitglieder in Gefängnissen einsitzt und von weiteren nennenswerten Nachfolgegenerationen nichts bekannt ist, so verwundert es nicht, daß von Sicherheitsexperten die These vertreten wird, die jüngsten Anschläge gegen Detlev Karsten Rohwedder, den Chef der Treuhandanstalt und deren Büros seien jedenfalls nicht im Alleingang von der RAF begangen worden. Auch die Wahl der Mittel, nämlich Gewehr mit Zielfernrohr und Bombe [im Fall Herrhausen, Anm. d. Autoren] sprechen für einen militärtechnischen Hintergrund«, so Matschke. »Daß dennoch Generalbundesanwalt (GBA) und BKA die Attentate auf Rohwedder und die Berliner Treuhand der RAF an lasten, ist lediglich Zeichen der Hilflosigkeit angesichts fehlender tatsächlicher Anhaltspunkte« – was wiederum auch bei der RAF auf »erhöhte Professionalität« hinweise. Indem er auf den »militärischen Hintergrund« und die »Professionalität« der »RAF«-Taten hinweist, bricht Matschke hier ein entscheidendes Tabu – er bringt die Beteiligung eines Geheimdienstes an den Taten der »RAF« ins Spiel. Ohne Beteiligung eines Nachrichtendienstes hält er diese Morde nicht für denkbar. Freilich ist Matschke ebenfalls davon überzeugt, daß der Allzweck-Sündenbock »Stasi« in Wahrheit hinter den Morden steckt. Doch nach Lage der Dinge ist dies eher unwahrscheinlich (siehe Kapitel 16, Die »RAF-Stasi-Connection«). Und schließlich: Wenn es der »Stasi« gelungen sein soll, die »RAF« zu infiltrieren und zu instrumentalisieren, warum dann nicht auch anderen Geheimdiensten? Nur wenige formulierten diese »ungestellten Fragen nach dem Rohwedder-Mord«, daranter die Zeitschrift der IG Medien, PUBLIZISTIK & KUNST: »Wer sich fragt, warum seit 1981 noch nicht ein einziger terroristischer Mordfall vom Bundeskriminalamt aufgeklärt wurde und warum nicht die Medien – wie sonst bei Kapitalverbrechen, bei denen keine Fahndungserfolge vorliegen – sehr kritisch hinterfragen, kommt in den Medien nicht zum Zuge. Niemand fragte öffentlich, ob denn wirklich alle Spuren verfolgt werden oder nicht doch nur die offensichtlich falschen, ob denn wirklich eine total unbekannte RAF-Generation an der Reihe ist oder nicht doch eine ziemlich bekannte, etwa aus internationalen Geheimdienstkreisen, ob denn Zimmermann, Beckurts, Herrhausen und Rohwedder nicht auch Feinde außerhalb der Linken hatten, innerhalb des Systems des Großen Geldes im In- und Ausland etwa. « 196
Diese Frage stellt in der Tat niemand. Dafür machen die Massenmedien nach dem Rohwedder-Mord in Sachen »Stasi«-»RAF« alles klar. Sie entwerfen gar ein neues Namens-Logo für die Truppe, der Stern ist jetzt in der Mitte, links steht »STASI«, rechts »RAF«. Für die inzwischen eingestellte QUICK etwa war das »mörderische Bündnis« bereits ausgemachte Sache, obwohl selbst Offizielle aus den »Sicherheitsbehörden« zugeben, in Sachen Rohwedder dafür keine Hinweise zu haben. Das Blatt, in dem selbst Reporter mit Geheimdienstverbindungen schrieben, lenkte den Verdacht nachdrücklich auf die »Stasi«. So sei Herrhausen der letzte Fall gewesen, »in dem Terroristen von RAF und Stasi erwiesenermaßen zusammengearbeitet haben«. Natürlich gab es bei Herrhausen dafür in Wahrheit überhaupt keine Beweise, und es steht zu befürchten, daß auch die QUICK-Beweise in Sachen Rohwedder von ähnlicher Qualität sind. In bezug auf die auf den BKA-Fahndungsplakaten gesuchten »mutmaßlichen Terroristen«, von denen man im wesentlichen nur weiß, daß sie seit Jahren verschwunden sind, hämmerte das Blatt seinem Publikum ein: »Jeder dieser acht RAF-Terroristen [das Unschuldsprinzip gilt hier freilich nicht; Anm. d. Autüren] kommt als potentieller Mörder im Fall Rohwedder in Betracht. Jeder dieser acht RAF-Terroristen könnte zugleich Handlanger der Stasi gewesen sein.« Zum Rohwedder-Attentat textete die QUICK nach Art einer Werbeagentur:
»Das ideale Umfeld für Spitzel. Der ideale Platz für einen Todesschützen. Das ideale Opfer für RAF und Stasi.« Und zum Schluß, im Fettdruck: »Das mörderische Bündnis hat sich in Deutschland noch lange nicht verabschiedet.«197
Aus vielerlei Gründen, die in nachfolgenden Kapiteln noch eingehend behandelt werden, ist eine Verantwortlichkeit der »Stasi« für sogenannte »RAF«-Attentate nach 1981 so gut wie ausgeschlossen.
Briefe vom schießenden Seelsorger
Zu den am Tatort bewußt zurückgelassenen Spuren gehört ein erstes »Bekennerschreiben«, in dem der Name Rohwedder nicht einmal genannt wird. Text: »Wer nicht kämpft, stirbt auf Raten. Gegen den Sprung der impelialistischen Bestie – unser Sprung im Aufbau revolutionärer Gegenmacht. Die Bedingungen für menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben im Kampf gegen die reaktionären großdeutschen und westeuropäischen Pläne zur Unterwerfung und Ausbeutung der Menschen hier und im Trikont durchsetzen! Zusammen kämpfen und wir werden zusammen siegen! Rote Armee Fraktion Kommando Ulrich Wessel«.
Die ermittelnden Beamten vor Ort gingen davon aus, daß das Schreiben »echt« sei, hieß es bei der Bundesanwaltschaft. Wie Beamte das an Ort und Stelle – vielleicht durch Handauflegen – erkennen können, bleibt ein Rätsel.198 Die Bundesanwaltschaft rechne damit, so die Nachrichtenagentur Reuter weiter, daß die »RAF« wie schon bei früheren Anschlägen »diesem kurzen Bekennerbrief ein längeres, detailliertes Schreiben folgen läßt«.
Der von Unbekannten hinterlassene Brief führt zu Schlagzeilen wie »RAF gibt den Mord an Rohwedder zu« (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG). Tatsächlich trifft Tage später ein mit Nadeldrucker hergestellter ausführlicherer Bekennerbrief ein.
Wie immer sei die »Authentizität« dieser Bekennerschreiben natürlich »leicht festzustellen«, meldet am 3. April 1991 die Nachrichtenagentur dpa. Möge auch der Sinn der Parolen verborgen bleiben, so die Reporter, den Ermittlern dienten sie »als Hinweis auf die Authentizität der Schreiben«. Experten des Bundeskriminalam tes untersuchten »jedes Wort einer Bekennung, vergleichen Inhalt, Satzbau und die Form des RAF-Emblems mit älteren Bekennerschreiben«. So könnten sich die Sicherheitsbehörden von der Täterschaft der »RAF« überzeugen, die Täter aber bleiben verborgen. Das »Kommando Ulrich Wessel« habe ein Bekennerschreiben hinterlassen, »aus dem sich wiederum am Ende nur eines sicher ergeben dürfte – Täter war die RAF.« Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft hätten »keine Zweifel«, daß der Bekennerbrief »echt« sei. 199 Was von solchen Behauptungen zu halten ist, ist inzwischen bekannt. Die Bekennerschreiben sind weder ein Beweis für die Täterschaft einzelner Personen noch einer Gruppe namens »RAF«.
In dem »RAF«-Brief vom April 1991 wird Rohwedder zu einem seit Jahrzehnten menschenfressen den Ungeheuer hochstilisiert, der sich zuletzt als Chef des Hoesch-Konzerns »als brutaler Sanierer« erwiesen habe. Er habe »bei Hoesch innerhalb von wenigen Jahren mehr als 2/3 aller ArbeiterInnen rausgeschmissen und den bankrotten Konzern zu neuen Profitraten geführt.«
Selbst die linke taz verweist solche Parolen in das Rcich der Phantasie: »Tatsächlich hat Rohwedder bei Hoesch nicht einen einzigen Stahlarbeiter > rausgeschmissen <. Mit seinem Sanierungskurs rettete er Hoesch vor der Pleite, sicherte über zehntausend Arbeitsplätze und sorgte in Zusammenarbeit mit den Betriebsräten, der IG Metall und mit Unterstützung der Bundesregierung dafür, daß niemand entlassen wurde. Statt dessen schieden die älteren Arbeitnehmer Jahr für Jahr über den Sozialplan, der bis zur Rente neunzig Prozent des Nettoeinkommens garantierte, frühzeitig aus. So wurde der Belegschaftsabbau geschafft, ohne daß auch nur ein einziger Hoesch-Beschäftigter in die Arbeitslosigkeit entlassen worden ware.«200
Allein dies wirft die Frage auf für wie dumm die Autoren der »RAF«-Briefe die westdeutsche Bevölkerung eigentlich halten.
Wie immer richtet sich die krude Argumentation und das politische Gestammel der »RAF« gegen »Deutschlands Großmachtpläne«: »Die Bundesrepublik braucht für ihre Großmachtpläne die Ex-DDR als funktionierenden kapitalistischen Teil – schließlich ist das Hauptstandbein, auf dem die politische Macht hier basiert, die wirtschaftliche Potenz.« Das Kommando begreife seine Aktion »gegen einen der Architekten Großdeutschlands auch als Aktion, die diese reaktionäre Entwicklung an einer Wurzel trifft«. In weiten Teilen ergeht sich das unbekannte Kommando in einer Art Psychologie und Marxismus für intellektuelle ABC-Schützen. »Kapitalstrategen, wie Rohwedder einer war, geht es darum, auch die Bedingungen für den Angriff auf die Seele der Menschen und ihre tiefe Deformierung, die sie voneinander isoliert und scheinbar unüberwindliche Mauern zwischen ihnen aufbaut, zu schaffen«, schreiben die schießenden Seelsorger von der »RAF«.
Mit der »RAF« für die Treuhand?
Bedeutsam an dem Brief ist aber, daß sich die Täter namens »RAF« wieder einmal explizit an eine aus. dem Ruder laufende Protestbewegung anbiedern. Absatzweise ergehen sie sich in Kapitalismus- und Treuhandkritik und übernehmen teilweise die Argumentationen der Protestierer von Leipzig und Berlin.
Für die hat das fatale Folgen. Der Mord an Rohwedder und die »RAF«-»Stasi«-Connection zeitigen auf den Demonstrationsschauplätzen der neuen Bundesländer umgehend Wirkung. Die Demonstrationsszene bricht in sich zusammen, niemand hat so recht Lust, im Schulterschluß mit »RAF« und »Stasi« auf die Straße zu gehen. Die gesamte Protestbewegung gerät durch die Umarmung des »RAF«-»Stasi«-Phantoms urplötzlich in die Defensive.
Der Mord verschafft der Republik die dringend benötigte Einigung: »Vertreter aller Parteien, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Wirtschaft äußerten sich entsetzt und tief bestürzt über das Attentat.«201
»Es muß jetzt aufhören, sich gegenseitig Schuld zuzuweisen«, läutet der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe das Ende der Proteste ein: »Politische Schaukämpfe, Schuldzuweisungen und das Aufbauen von Buhmännern lösen keine Probleme.«202
Zwanglos stellt die Nachrichtenagentur Reuter den Zusammenhang zwischen friedlichen Demonstranten und Mördern her: „Treuhand – Deutschlands größte Schand“ schrieben Montagsdemonstranten auf ihre Spruchbänder. Kein Wunder, wenn die Terroristen der Rote Armee Fraktion, die sich zu seiner Ermordung bekannten, in Rohwedder eine sogenannte -Symbolfigur des militärisch-industriellen Komplexes- sahen.« 203 Und Brandenburgs Stolpe äußerte den Verdacht, daß mit dem Mord an Rohwedder die Mißstimmung in der ehemaligen DDR angefacht werden sollte: »Auf der Woge dieser Stimmungsmache wird versucht, die Lage anzuheizen und so was wie Sympathie für Terroristengruppen zu schaffen«, sagte er laut Reuter. 204 Auch der stellvertretende CDU-Vorsitzende de Maiziere hielt einen Zusammenhang zwischen dem Mord und der Kritik an der Tätigkeit der Treuhand für denkbar. CSU-Generalsekretär Huber forderte die Klitiker der Treuhand auf, keine weiteren Emotionen wegen der schlechten sozialen Lage zu schüren. Der damalige CDU/CSU-Fraktionschef Dregger sagte, Regierung und Opposition, Wirtschaft und Gewerkschaften, Parteien, Verbände und Kirchen hätten eine Aufgabe gemeinsam: aus der politischen Einheit Deutschlands so bald wie möglich auch wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit zu machen. Rohwedder werde hoffentlich das letzte Opfer sein, »das uns an diese Verpflichtung gemahnt.«205
Unter diesen Voraussetzungen ist freilich schlecht demonstrieren. Der Chef der Industriegewerkschaft Chemie sprach sich laut FRANKFURTER RUNDSCHAU dafür aus, vorerst nicht mehr auf die Straße zu gehen. Solche Aktionen machten keinen Sinn mehr in einer Zeit, da es um wichtige Einzelentscheidungen in der Treuhandanstalt, in Bonn und in den neuen Bundesländern gehe.
Der vorösterliche Protest gegen die Treuhand und die Bundesregierung hätte nach Ostern in der »größten Demonstration auf ostdeutschem Boden« seit »jenem denkwürdigen 4. November 1989, als Hunderttausende von Menschen auf dem Alexanderplatz das kränkelnde SED-Regime ins Wanken bringen konnten« (FRANKFURTER RUNDSCHAU), kulminieren sollen. 150000 Menschen erwartete die IG Metall zur Kundgebung mit ihrem Chef Franz Steinkühler. Doch »aus neunhundert Bussen, die ursprünglich die Metaller aus dem darniederliegenden deutschen Osten in die Hauptstadt karren sollten, waren plötzlich hundertvierundachtzig geworden«, so die FRANKFURTER RUNNSCHAU. Statt von hunderffünfzigtausend ist nur noch von fünfunddreißigtausend Teilnehmern die Rede, und um »ja keine falschen Verbindungen herzustellen, war auf den Alexanderplatz als Kundgebungsort verzichtet worden. Dort hat schließlich die Treuhandanstalt ihren Sitz«, so die RUNDSCHAU.206
Interessant ist, daß das »RAF«-Phantom die Entwicklung in seinem Tage nach der Tat eintreffenden »Bekennerbrief« bereits kommentiert. Uber die verheerende Wirkung seiner Tat auf die Protestbewegung im Osten heißt es dort, die Gewerkschaften versuchten, den Protest zu kanalisieren und zu verhindern, daß aus Arbeitskämpfen politische Kampfe würden. Zu diesem Zweck »versuchen sich Gewerkschaftsbonzen aktuell an die Spitze der Protestbewegung in der Ex-DDR zu stellen – daß sie gleich nach unserem Angriff auf Rohwedder überlegt haben, ob sie die Montagsdemonstrationen stoppen sollen, paßt genau in diese Linie.« Die unbekannten Absender verschweigen wohlweislich, daß genau das Gegenteil richtig ist: Sie selbst haben sich mit ihrem Attentat an die Spitze der Protestbewegung gestellt und ihr damit den Todeskuß verpaßt. Die Gewerkschaftsführer waren gezwungen zu handeln, da das Attentat gegenüber allen Regierungs- und Treuhand-Kritikern einen großen moralischen Druck aufbrachte.
Sonja Kemnitz von der »Interessengemeinschaft Betriebe und Gewerkschaften« der PDS brachte die Auswirkungen des »RAF«-Attentats auf den Punkt. Überschrift: »Mit der RAF für die Treuhand?«: »Ich bin Kritikerin der Treuhand. Deshalb bin ich gegen das Attentat auf Rohwedder. Denn wer darf denn nun noch die Treuhand kritisieren, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, mit den Mördern zu sympathisieren. Das Attentat kann benutzt werden zur Diffamierung der tausendfach berechtigten Treuhandkritik, wie sie – hart in der Sache und ohne Gewalt – auf vielen Demonstrationen in den neuen Bundesländern geübt wurde. Wem eigentlich paßt das so gut in die politische Landschaft? So wie vor Jahren die Attentate der roten Brigaden in Italien, hinter denen offensichtlich nicht nur und nicht einmal in erster Linie Linksradikale standen?« Und: »Ist nicht auch denkbar, daß das bisherige Konzept noch entschiedener durchgezogen wird?«207
Die Treuhandkritiker und Demonstranten wichen vor der Drohung des »RAF«-Phantoms zurück. Die Gefahr, die in einem solchen Verhalten liegt, berücksichtigen sie nicht: daß spätestens ab jetzt jedem Protest die Spitze genommen werden kann, sobald irgend jemand vorgibt, in seinem Namen zu schießen.
Politik mit einer Leiche
Wie immer kümmert sich das schießende Kommando mit dem Absender »RAF« auch in dem Rohwedder-Bekennerbrief liebevoll um die »RAF«-Gefangenen. Für jede revolutionäre Bewegung auf der Welt sei es »eine Frage der eigenen Identität, Wege zur Freiheit der politischen Gefangenen zu suchen. Eine revolutionäre Bewegung, der die Gefangenen nicht am Herzen liegen, kann es nicht geben.« Nun, damit führt sich die »RAF« gleich selbst umstandslos ad absurdum, denn wie schon das Attentat auf Herrhausen hat auch dieses auf die Lage der »RAF«-Häftlinge katastrophale Auswirkungen. Der CSU-Generalsekretär Erwin Huber startete im Kielwasser des Attentats einen unglaublichen Angriff auf den Rechtsstaat, indem er einsitzenden Häftlingen das Recht auf Verteidigerbesuche bestritt. Dem KÖLNER EXPRESS sagte Huber, seine Partei denke an eine Überprüfung, »ob es noch vertretbar sein kann, daß einsitzende RAF-Terroristen ständig Besuch von ihren Rechtsanwälten bekommen, obwohl überhaupt keine Verfahren laufen«.208 Nach der Verteidigersperre ist dies ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zum wehrlosen Häftling, der sang- und klanglos und ohne Aufsicht seines Vertrauens hinter Gefängnismauern verschwindet. Als Wegbereiter, der die komplette »Auslieferung« der »eigenen« Genossen an den Staat konsequent betreibt, läßt grüßen: die »RAF«.
Es gibt kein Butterbrot umsonst – die Geschichte der Birgit Breuel
Die Geschichte der Rohwedder-Nachfolgerin Birgit Breuel, verantwortlich für an die 10000 Betriebe und mehrere hunderttausend gefährdete Arbeitsplätze, mithin das gesamte wirtschaftliche Erbe des realsozialistischen deutschen Staates, beginnt am 7. September 1937 in Hamburg. Freilich nicht als Tochter eines Hafenarbeiters, sondern des millionenschweren hanseatischen Privatbankiers Alwin Münchmeyer. Münchmeyer, nacheinander Chef der Handelskammer Hamburg, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages sowie des Bundesverbandes Deutscher Banken, hatte sein Geldinstitut nicht ganz alleine aufgebaut, sondern es in den dreißiger Jahren von der emigrierten jüdischen Bankiersfamilie Rappolt übernommen. Der Münchmeyer-Clan residiert(e) in unmittelbarer Nachbarschaft des übrigen Hamburger Geldadels -einschließlich Axel Springer – hoch über der Elbe in einem viele tausend Quadratmeter großen Wald- und Vil1enbesitz.
Jahrzehntelang entwickelte sich die Münchmeyer-Familienbank stabil und fusionierte 1969 mit zwei anderen »arisierten« Geldinstituten, dem Hamburger Bankhaus Schröder und der Frankfurter Bank Hengst & Co. Heraus kam die Bank Schröder, Münchmeyer, Hengst & Co. .(SMH), über Jahre hinweg eine der führenden Privatbanken in der Bundesrepublik mit einer Bilanzsumme von bis zu zwei Milliarden Mark. Unter Bankern galt sie als Juwel der Branche. Außerhalb deutscher Grenzen trieb sie »ein überaus aktives, ja oft aggressives Geschäft im angloamerikanischen Raum«.209 Geschäftsführender Mitinhaber der Bank: Birgit Breuels Bruder Hans-Hermann Münchmeyer.
Schröder, Münchmeyer, Hengst und Co. war ein Zusammenschluß alten deutschen Geldadels mit gewachsenen Beziehungen zur Spitze des US-amerikanischen Investmentbanking. Der Altvordere der Schröder-Bank, Baron Rudolph von Schröder, saß vor dem Zweiten Weltkrieg in der Leitung der Hamburg-Amerika-Linie (heute Hapag Lloyd), damals Tochterfirma der US-Investmentbank Brown Brothers Harriman. Brown Brothers Harriman war die Bank von George Bushs Vater Prescott Bush. Diese historischen Beziehungen von SMH lebten fort in der Mitgliedschaft des SMH-Gesellschafters Graf von Galen im deutsch-amerikanischen Hochfinanzverein Atlantik-Brücke. Privat ist die Familie Münchmeyer dort bis in diejüngste Zeit durch Birgit Breuel präsent, die hier auch ihren ehemaligen niedersächsischen Ministerkollegen Walther Leisler Kiep treffen konnte. In dem amerikanischen Freundschaftsverein Atlantik-Brücke ist die Treuhand überhaupt dick vertreten. Neben der Treuhand-Präsidentin sind außerdem der zuständige Direktor für Privatisierungen und der stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrates der Treuhand, Otto Gellert, dabei.
Birgit Breuels Karriere hatte von Anfang an Fahrt aufgenommen. Nach einem Praktikum bei der Vereinsbank Hamburg hatte sie – allerdings ohne Abschluß – an den feinsten Adressen Politische Wissenschaften studiert (Hamburg, Genf und Oxford), war Direktionsassistentin beim Hamburgischen Weltwirtschaftsarchiv (HWWA) geworden und begann ihre politische Laufbahn 1966 mit dem Eintritt in die CDU. Bereits vier Jahre später saß sie in der Hamburger Bürgerschaft, und ab 1976 profilierte sie sich als Wirtschaftssprecherin der CDU-Bürgerschaftsfraktion. Im Juni 1978 folgte sie einem Ruf des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU) und wurde Wirtschaftsministerin in dessen Kabinett.210
Gleich bei Übernahme des Ministeriums erhielt sie das in der Vergangenheit von Finanzminister Walther Leisler Kiep okkupierte Referat Industrieansiedlung zurück. Im Wirtschaftsministerium genoß man »die harmonischen Beziehungen zum großen Bruder Finanzminister« und Atlntik-Brücke-Freund Kiep, dessen Familie jahrzehntelang gewachsene Bindungen zu dem anderen Großen Bruder, den USA, hat. »Die Chefin und Walther Leisler Kiep«, so die ZEIT, seien »auch optisch wie Plisch und Plum«.211
Schon als Bürgerschaftsabgeordnete hatte der Kontakt mit »Wählern« in Birgit Brenels Tagesprogramm »viel Platz«. So spreche sie viel mit »Firmen, die Sorgen um ihre Rohstoffversorgung haben oder sich um Landesmittel bemühen möchten, ebenso wie mit Hamburger Hafenbetrieben, die sich an der Elbe besonders starker staatlicher Konkurrenz gewachsen zeigen müssen
Gegen »staatliche Konkurrenz« hatte Birgit Breuel von Anfang an einiges einzuwenden. Als Wirtschaftsministerin des Landes Niedersachsen trat sie eine »spektakuläre Entstaatlichungs- und Entbürokratisierungskampagne« los, »sagte dem Subventionsunwesen den Kampf an, machte sich für die Einschränkung des Fernmeldemonopols und für die Aufbebung der Gebietsmonopole der Elektrizitätswirtschaft stark und warb, wo immer es ging, für weniger Staat und mehr Eigeninitiative in der Wirtschaft.«213
Privatisierungsdrang, offenbar dem amerikanischen Vorbild abgeguckt, nahm bisweilen groteske Züge an: »Wenn es nach unserer Frau Ministerin ginge, dann würde wahrscheinlich sogar die Bundeswehr privatisiert werden«, spottete ein Beamter aus dem niedersächsischen Wirtschaftsministerium. »Verkehrsbetriebe, Stadthallen, Museen, Schwimmbäder und die Müllabfuhr sollen aus staatlicher Regie in die freie Marktwirtschaft entlassen werden. Auf der Privatisierungsliste stehen auch die Kfz-Werkstätten der Polizei, Materialprüfungsanstalten und die Naßbaggerei in den niedersächsischen Häfen 214 « Ein eigenes Referat unter Birgit Breuels Leitung hatte zu prüfen, wie sich die Übergabe öffentlicher Dienstleistungen „in private Hände“ auswirken würde. Auch sei es durchaus nicht einzusehen, eilte sie ihrem Parteifreund und Atlantik-Brücken-Gast Christian Schwarz-Schilling voraus, daß Post und Bahn zwingend als Staatsunternehmen betrieben werden müßten. Die Privatisierung der Post war eines von Breuels Lieblingsthemen. » Systemveränderung von rechts« nannte das der Gewerkschafter Heinz Kluncker.215
Schon Birgit Breuels erste Buchveröffentlichung hatte ahnen lassen, wo es langgehen sollte. Es gibt kein Butterbrot umsonst – ein Plädoyer für »möglichst große Eigenverantwortlichkeit des Individuums«, urteilte die FAZ. Individuen wie etwa Mütter erwachsener Kinder hatten bei Birgit Breuel denn auch nichts zu lachen. Den Ruf nach staatlichen Finanzhilfen zur Auffrischung veralteter Berufskenntnisse solcher Frauen bürstete sie mit den Worten ab: »Das soll jeder für sich selber tun. Der Staat ist keine Kuh, die jeder nach Belieben melken kann.« Jedenfalls nicht jeder Kleinbürger. Den enteigneten Konzessionären der Skandalspielbank Hannover/Bad Pyrmont sagte die damalige Finanzministerin Breuel im hannoverschen Hotel »Luisenhof« einen großzügigen Ausgleich zu: »Meine Herren, es wird nicht nur ein Butterbrot sein.«217
Die kleinen Leute waren, wie gesagt, schlechter dran bei Birgit Breuel. So argumentierte sie Ende der siebzigerJahre nicht nur gegen den Kohlepfennig, sondern wandte sich auch dagegen, das Ruhrgebiet mit fünf Milliarden Mark zu sanieren. Dadurch würden alte Strukturen aufrechterhalten und der Wettbewerb in der Industrieansiedlung unter den Ländern verzerrt.218 Sie wollte die Neustrukturierung des Kohlenpotts auch dann verhindert wissen, wenn die Menschen dort mangels Arbeitsplatz abwandern müßten. Gleichzeitig, so der KÖLNER STADTANZEIGER, betreibe sie energisch eine Ankurbelung von Kohleimporten. Wenn man so will, war das Ruhrgebiet so eine Art Testfall für die spätere Treuhand-Chefin. Sie sträubte sich nicht nur gegen eine Hilfestellung, sondern versuchte auch noch, den Import von Konkurrenzprodukten anzukurbeln. »Wiederentdeckung von Freude und Selbstbestimmung bei der Arbeit«, lautete eine Breuelsche Abwandlung früherer Arbeit-macht-frei-Sprüche.
Birgit Breuels Herz schien auch der Kernenergie zu gehören. So schlug sie in einem Votum für den Schnellen Brüter vor, die Wiederaufbereitung von Atommüll könne doch »irgendwo, etwa in der Wüste« stattfinden. Landesvater Ernst Albrecht hatte zuvor das »Grönlandeis« in Erwägung gezogen. Und schließlich saßen im Freundschaftsverein Atlantik-Brücke hochkarätige Atomlobbylsten wie Siemens-Vorstand Karl Heinz Beckurts, SEL-Vorstand Helmut Lohr und überhaupt fast die gesamte Führungsspitze der atomhörigen deutschen Industrie. Was, so mag sich Birgit Breuel da gefragt haben, will man da noch mit Kohle?
Doch zurück zu »Plisch und Plum« (Breuel und Kiep) und der SMH-Bank. Unter deren glänzender Fassade kriselte es mittlerweile – Afang der achtzigerJahre – beträchtlich. Die Bank von Birgit Breuels Bruder und Atlantik-Brücke-Kollege Graf Galen war dabei, dreistellige Millionenbeträge in den windigen Baumaschinen-Konzern des Horst-Dieter Esch zu stecken. Esch kaufte überall marode Baumaschinenhersteller auf und pumpte seine Firma damit zum drittgrößten Baumaschinen-Konzern der Welt auf. Doch nach und nach erwies sich der Baumaschinenmulti als Luftballon; angesichts einer stagnierenden Bauwirtschaft blieben die Kassen leer, Löcher wurden mit immer neuen Krediten und Beteiligungen der SMH-Bank gestopft. Die hatte sich inzwischen auf Gedeih und Verderb an den Esch-Konzern gebunden; wäre dieser pleite gegangen, wären auch ihre eigenen Kredite geplatzt. So warfen Galen, Münchmeyer und Co. dem schlechten Geld immer mehr gutes hinterher. Längst waren die Grenzen zwischen Bank und Baukonzern verschwommen, der Baumulti so etwas wie die Tochterfirma der Bank oder umgekehrt.
Und inzwischen, Anfang der achtziger Jahre, hatte der »SMH-Bau-Konzern « eine weitere Neuerwerbung getätigt: den Hannoveraner Baumaschinenhersteller Hanomag. Damit der wieder richtig in Fahrt kommen könne, brauche er neunzig Millionen Mark für den Bau einer neuen Hanomag-Fabrik, schwante es Konzernchef Horst-Dieter Esch. »Mit einigem Geschick«, so der SPIEGEL, luchste er die Millionen der niedersächsischen Ministerin und Bankiers-Schwester Birgit Breuel ab, »die sonst so vehement gegen Subventionen aller Art zu Felde zieht«.219 Der Staat, so hatte die »Banking-Lady mit einem vom Gegenüber nur schwer erträglichen Zug der Mundwinkel« immerhin einmal gesagt, sei nicht das Schutzdach, mit dessen Hilfe verfehlte Unternehmenspolitik vor rauhen Marktwinden geschützt werden könne.221
Inzwischen landete Esch den nächsten Coup und holte Breuel-Busenfreund und Atlantik-Brücke-Spezi Walther Leisler Kiep in den Aufsichtsrat seines Konzerns. »Im Gengenzug«, so der SPIEGEL, durfte dessen »Versicherunsfirma Gradmann & Holler Esch-Geschäfte versichern.«222
Birgit Breuel bestritt später, mit der Finanzspritze für Hanomag und damit die Bank ihres Bruders etwas zu tun gehabt zu haben. Doch wie auch immer: Selbst diese kräftige Geldinfusion konnte das Konzernkonglomerat aus Bank und Baukonzern nicht retten.
1986 trat Birgit Breuel als Finanzministerin in die Fußstapfen des durch die Parteispendenaffäre anrüchig gewordenen Walther Leisler Kiep, in dessen Kielwasser sie überhaupt gerne segelte. Bereits 1982 hatte sie von ihm den Aufsichtsratsvorsitz der Deutschen Messe- und Ausstellungs AG in Hannover übernommen. Kiep glänzte ab 1984 als Vorsitzender des in der Öffentlichkeit wenig bekannten US-Hochfinanzvereins Atlantik-Brücke.
Ihr Steckenpferd Privatisierung hatte Birgit Breuel im Laufe der Jahre nie vergessen. Kritikern zufolge hatte sie es dabei gewissermaßen nicht nur auf materielle Werte abgesehen. Für den DGB-Landesvorstand Wolfgang Schultze war Breuels Privatisierungsfeldzug »ein Programm der gesellschaftlichen Entsolidarisierung, der Versuch, die Grundwerte Solidarität und Gerechtigkeit zu privatisieren«. Man werde gut daran tun, so der. KÖLNER STADTANZEIGER am 31. Oktober 1979, die Privatisierungsbestrebungen der Ministerin »im Auge zu behalten«.
Deren Bilanz nach zwölfjähriger Amtszeit als niedersächsische Wirtschafts- und Finanzministerin war verheerend, wie das Niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung feststellte. So lag das Pro-Kopf-Einkommen der Niedersachsen etwa zehn Prozent unter Bundesdurchnitt, und Niedersachsens Anteil an der wirtschaftlichen Produktion der Bundesrepublik ging zurück, besonders im Bereich der industriellen Forschung und der Umweltschutz-Investitionen. Die Verschuldung des Landes stieg dagegen auf das Fünffache, von 7,5 auf vierzig Milliarden Mark.223
Die Ernennung dieser »Banking-Lady« mit guten Beziehungen zur deutschen und US-amerikanischen Hochfinanz zur Treuhand-Chefin sollte ebenfalls nicht ohne Folgen bleiben.
Beispiel 1: Sozialdumping
Das Problem des Sanierers Rohwedder, wenn es denn eines gab, sollte sich ursprünglich von ganz alleine lösen, denn sein Vertrag mit der Treuhand galt zunächst nur bis Ende 1990. Dann wollte er in den Vorstand der Hoesch AG zurückkehren, die bald nach seinem Tode übrigens mit Krupp fusionierte. Für diesen Fall saß Birgit Breuel bereits in den Startlöchern; Atlantik-Brücke-Freund Graf Lambsdorff hatte sie bereits im Herbst 1990 als Nachfolgerin im Treuhandvorsitz vorgeschlagen.224
Schon unter Rohwedder hatte Birgit Breuel auf die Marschrichtung gepocht: »Die Philosophie ist klar. Das Haus hat eindeutig erklärt – Privatisierung vor Sanieren.« Und dort, wo Sanierungen möglich seien, »sollten die neuen Eigentümer dies voranbringen«, meinte Frau Breuel. Übersetzt heißt das: Uberhaupt keine Sanierungen durch die Treuhand, ein krasser Gegensatz zu Rohwedders Position. Wie die »private Sanierung« erfolgen sollte, so das Breuelsche Nach-uns-die-Sintflut-Konzept, das war dann freilich die Sache des Kaufers. In dieser Frage betonte sie ihre Einigkeit mit Detlev Karsten Rohwedder. Die »Last der sozialen Dimension müssen andere tragen«, sagte sie gegenüber der WELT.225
Doch aus Birgit Breuels schnellem Aufstieg wurde nichts, Sanierer Rohwedder ließ sich umstimmen und wollte auch 1991 bei der Treuhand bleiben. Beobachter konnte dies kaum verwundern, denn wie hätte der Treuhand-Präsident auch innerhalb weniger Monate Entscheidendes voran-bringen sollen? Doch dann, am 1. April 1991, geschah das Attentat, und die bereits früher designierte Nachfolgerin kam endgültig zum Zuge – eine Wahl, mit der nicht alle glücklich waren, selbst der Kanzler soll die Berufung »mit Zähneknirschen« 226 vernommen haben. Erst recht stellte sich die SPD quer: Wolfgang Roth, wirtschaftspolitischer Sprecher der Sozialdemokraten, sagte, Frau Breuel habe bisher »noch nicht den Beweis dafür geliefert, daß sie die notwendige soziale Sensibilität und die notwendigen Fähigkeiten im Umgang mit dem Schicksal von Millionen von Arbeitnehmern besitzt.« Eine »abgewählte und nicht sehr erfolgreiche Landesministerin« sei »keine gute Wahl für die Spitze der Treuhand« 227
Roths düstere Vorahnung sollte sich spätestens bei dem Hickhack um die sogenannten »Beschäftigungsgesellschaften« bestätigen. Dieses Konzept sah vor, überzählige Beschäftigte aus der Produktion für die gemeinsame Qualifizierung oder die dringend nötige Sanierung von ökologischen Altlasten zu verwenden. Löhne und Sachkosten hätten überwiegend vom Arbeitsamt getragen werden sollen. Statt Däumchendrehen wären mit dem Arbeitslosengeld so sinnvolle Projekte finanziert worden. Für viele war dies ein einleuchtendes Konzept, allerdings nicht für Birgit Breuel.
Dem Widerstand von Birgit Breuel ist es zu verdanken, daß davon letztlich nur Bruchstücke verwirklicht wurden. Als im Frühsommer 1991 diese Idee einen Ausweg aus den brutalen Abläufen von Unternehmensschließung, Verkauf und Entlassung aufzuweisen schien, schob die Treuhand-Chefin sofort einen Riegel vor. Per Brief untersagte sie den Treuhandbetrieben, sich an Beschäftigungsgesellschaften zu beteiligen. Vermutlicher Grund: Die nach wie vor im Bereich des alten Unternehmens tätige Belegschaft wäre ein Hindernis beim möglichst schnellen Verkauf der Firmen gewesen. Das ginge eben besser, schätzte die FRANKFURTER RUNDSCHAU, »wenn alle Bindungen der abzubauenden Belegschaft gekappt werden«. Viele Investoren »aus dem Westen« wollten verhindern, daß Arbeitsverträge in ihrer Substanz erhalten blieben, sondern »sich ihre Mannschaft aus dem wachsenden Heer der Arbeitslosen, möglichst zu sozialen Dumping-Bedingungen «, selbst zusammenkaufen.228
Mit ihrer Absage an die Beschäftigungsgesellschaften verhindere Frau Breuel »sozial verträgliche Übergänge der ihr anvertrauten Unternehmen in die Marktwirtschaft«, so der Berliner Bezirkschef der IG Metall, Horst Wagner. Außerdem konterkariere sie die Politik ihres Vorgängers Det1ev Rohwedder und gehe »voll auf Konfrontation zu den Arbeitnehmern«, so die FRANKFURTER RUNDSCHAU.229 Erst auf massiven Druck der Gewerkschaften hin relativierte Birgit Breuel diese Haltung. Nur »zähneknirschend« stimmte die Treuhand einem späteren Kompromiß über die Beschäftigungsgesellschaften zu, der in den Augen der Gewerkschaften aber nur eine Notlösung darstellte. Denn trotz aller Proteste war es bei zentralen Breuel-Forderungen geblieben, wonach sich Treuhand-Unternehmen nicht direkt an den Beschäftigungsgesellschaften beteiligen sollten und Arbeitsverträge von dort Beschäftigten mit den alten Unternehmen erloschen.
Beispiel 2: Unternehmensverkauf am Wühltisch
Auch in Sachen Sanierung ging es unter Breuel nach Meinung von Beobachtern aus der Opposition und Rohwedders näherer Umgebung deutlich anders weiter als wahrscheinlich unter dem Hoesch-Chef. Nach diesen Einschätzungen hätte der Treuhand-Präsident in Zukunft wahrscheinlich vermehrt »auf Sanierung umgesteuert. Er hätte gesehen, daß die Privatisierungspolitik zu derartigen sozialen Verwerfungen führt, daß er die Weichen anders gestellt hätte, etwa durch Auf- oder Ausbau der Sanierungsabteilung im Hause der Treuhand und durch Bündelung von Leitungsfunktionen in der Zentrale«.230 Durch das Attentat habe es insofern eine »Diskontinuität« gegeben. Die stärkere Betonung des Sanierungsaspektes sei auch von Rohwedders Persönlichkeitsstruktur und sozialdemokratischem Hintergrund her wahrscheinlich gewesen.231
Ursprünglich, so das NEUE DEUTSCHLAND, sei Birgit Breuel dem Sozialdemokraten Rohwedder an die Seite gestellt worden, damit von der »harten« Treuhandlinie – Privatisierung um jeden Preis – nicht abgewichen werde. Mit der Ernennung Birgit Breuels zur Treuhand-Chefin kehrten sich die Verhältnisse jedoch um.
Kaum war Detlev Karsten Rohwedder unter der Erde, zogen Experten, Politiker und die Wirtschaftspresse Bilanz: »Die Privatisierung«, so die WIRTSCHAFTSWOCHE, sei als »Hauptaufgabe« der Treuhand »bisher kaum vorangekommen«.232 Ende Februar 1991, nach sieben Monaten, waren gerade sechshundert Unternehmen verkauft,233 Ende März tausend.234 Das war die Bilanz von Detlev Karsten Rohwedders Amtszeit als Treuhand-Chef.
Das sollte schnell anders werden: »Privatisierung nimmt Fahrt auf«, meldete die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG bereits am 13. Juli 1991. Die neue Treuhand-Präsidentin (Jahresgehalt siebenhunderttausend Mark) 235 treibe die Privatisierung »mit massivem Druck« voran, sekundierte die WIRTSCHAFTSWOCHE. »Was haben Sie persönlich verändert?« fragte das Blatt die Treuhand-Chefin. Antwort: »Das Tempo der Privatisierung, weil ich darin die größte Chance für die Sanierung der Unternehmen sehe.«236
In einem WELT-Interview, in dem sie sich auch über »Seilschaften« mit »krimineller Energie« äußert, zieht sie befriedigt Bilanz über ihre ersten zwei Monate als Treuhand-Chefin. Im Moment verkaufe man dreihundert Unternehmen pro Monat, das Tempo der Privatisierung »nimmt also gewaltig zu«.237 Das war nicht übertrieben: Mitte Mai hatte die Treuhand-Chefin bereits sechshundert Betriebe verkauft, soviel wie Rohwedder in sieben Monaten. Am Ende desJahres 1991 waren es sogar fünftausend,238 und im Juli 1992 sechstausendfünfhundert.239
Beispiel 3: Nur wer Schulden macht, hat wirklich Geld
Ein Riesengeschäft für das Finanzgewerbe sind auch die horrenden Treuhandschulden. Im März 1992 hat die SPD die wachsende Verschuldung der Anstalt unter der Leitung von Niedersachsens ehemaliger Wirtschafts- und Finanzministerin (Verfünffachung der Landesschulden während ihrer Amtszeit) massiv kritisiert. Der »explosionsartig wachsende Kapitalbedarf« sei mit einer stabilitätsorientierten öffentlichen Finanzwirtschaft nicht mehr in Einklang zu bringen, sagte der SPD-Abgeordnete Helmut Esters. Die maximale Neuverschuldung der Treuhand werde mit rund hundertvierzehn Milliarden Mark in den nächsten drei Jahren sogar über der geplanten Kreditaufnahme des Bundes liegen. Esters bekräftigte die Forderung der SPD, der Treuhand einen gesetzlichen Auftrag zur aktiven Sanierung von überlebensfähigen Unternehmen zu geben. Diese Aufgabe nehme die Treuhand bisher völlig unzureichend wahr.240
Hundertvierzehn Milliarden Mark, das ist ein gewaltiger Batzen Geld und ein gigantisches Geschäft für das krisengebeutelte Finanzgewerbe, das sich seit über einem Jahrzehnt mit problembeladenen Kreditnehmern herumzuschlagen hat. Die Treuhandanstalt mit ihrer Kreditaufnahme jenseits der der gesamten Bundesrepublik war ein Lichtblick in der wackelnden internationalen Geldbranche. Nicht nur wegen ihres gewaltigen Kapitalbedarfs, sondern auch wegen des sogenannten »Triple-A-Ratings«. Dieses dreifache A verleiht die weltweit führende »Rating Agentur« Standard & Poor’s nur den denkbar besten und solventesten Kreditnehmern; ohne das Rating geht beispielsweise auf US-Finanzmärkten schon lange nichts mehr. Zu den vertrauenswürdigsten Kreditnehmern zählt die Treuhandanstalt als Behörde des deutschen Staates allemal. Jeder Gläubiger der Treuhand, also auch jeder, der Geld in sie investiert, hat einen direkten Anspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland. Statt dubioser Diktaturen in Lateinamerika und Südostasien nun das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik als Kreditkunde -wenn das keine frohe Botschaft war.
Die Kreditaufnahme der Treuhand soll sich ab Ende September 1992 allmählich schwerpunktmäßig auf Märkte verlagern, die auch für ausländische »Kreditgeber« interessant sind. So kommt man langsam weg von Commercial Papers, Geldmarktkrediten und Schuldscheinen hin zu sogenannten Anleihen, die auch an der Börse gehandelt werden. Auf diesem Anleihenmarkt haben erstmals auch ausländische »Investoren« (Pensionsfonds, Investmentfonds usw.), etwa aus den USA, eine realistische Chance, sich am Treuhandschuldengeschäft zu beteiligen. Hier soll sich bis 1994 das Gros der Treuhandkreditaufnahme abspielen, nämlich dreißig Milliarden Mark pro anno.
Und natürlich sind die für die nächsten drei Jahre vorgesehenen hundertvierzehn Milliarden nur der Anfang. Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet mit letztlich rund dreihundert Milliarden Mark. Die Frage, wieviel Schulden schließlich wirklich bei der Treuhand hängenbleiben, könne »keiner beantworten«, sagte Birgit Breuel der taz. Begründung: Daß die Gewinne aus den DDR-Firmen rausgezogen worden und die Schulden betriebswirtschaftlich nicht mehr zu beseitigen seien, sei »ja nun wirklich nichts Originelles«. Und daß die Schulden bei der Treuhand hängenbleiben würden, habe nie jemand »anders diskutiert«. Schuldenmacherin Breuel: „Das ist halt so“241
Beispiel 4: Liebesgrüße vom Großen Bruder
Zwar waren die Protestbewegungen inzwischen abgeflaut, doch die Treuhand stand immer noch im Kreuzfeuer der Kritik von rechts und links. Presse und Gewerkschaften beschwerten sich nach wie vor über die sozialen Defizite und allerhand Skandale, Unternehmer zweifelten einzelne Entscheidungen reihenweise an.
Nur am anderen Ende der Atlantik-Brücke war man mit der Treuhandanstalt plötzlich voll und ganz zufrieden. Hatte Detlev Karsten Rohwedder hier noch ein zwiespältiges Echo hinterlassen, verlief den US-Unternehmern die Treuhandprivatisierung seinerzeit »zu bürokratisch «, fühlten sich amerikanische Mittelstandsunternehmen »wegen der komplizierten Verfahren und Anforderungen« von Investitionen in Deutschlands Osten praktisch ausgeschlossen und klagten die US-Firmen über die finanziellen und‘ ökologischen Altlasten der Ex-DDR-Unternehmen, rannte die neue Treuhand-Präsidentin in den Staaten offene Türen ein. Birgit Breuels Treuhanddelegation schwebte im November 1991 nicht etwa mit einer Linienmaschine ein sondern an Bord des Firmenjets einer amerikanischen Investment-Bank. Für die »Atlantikerin« wurde der Besuch ein Heimspiel: Statt frostiger Atmosphäre wie bei Rohwedder gab es Lobeshymnen. »Niemals zuvor«, meinte ein US-Unternehmer, habe er bei einem Investitionsvorhaben in Ubersee bessere und kooperativere Partner erlebt a1s bei der Berliner Treuhandanstalt. Auf allen Stationen seines fünftägigen USA-Besuches begleiteten den Treuhand-Troß »fast uneingeschränkte Anerkennung und viel Interesse«, notierte die ZEIT: »Wären Beifall und Beachtun allein schon Maßstab für Erfolg, müßte Breuels Reise als kleiner Triumphzug gelten.«242
»Fast nur im Ausland« wird Birgit Breuel für ihre rasenden Privatisierungserfolge gefeiert, notierte der STERN: »Bei ihren Reisen in die USA oder nach Großbritannien sind ihr Anerkennung und Applaus sogar von den hartgesottensten angelsächsischen Geschäftsleuten sicher. Dort gilt sie als die ‚mächtigste Frau Deutschlands‘.« Eine tolle Karriere für die Bankierstochter Birgit Breuel. Wenn es die Lag erfordere, so der STERN, »kann Birgit Breuel allerdings auch angeregt die Konversation pflegen und dabei richtig charmant sein, bevor sie dann wieder beharrlich zur Sache kommt – als sie beispielsweise britische Unternehmer zum Firmenkauf in Ostdeutschland animieren wollte.« 243
Was war passiert? Nun, kaum im Amt, hatte Birgit Breuel die amerikanische Kritik an Rohwedder fast wörtlich auf gegriffen und verkündet, daß nach ihren Vorstellungen nun »Mittelständler aus dem Westen bei der Privatisierung besser zum Zuge kommen« sollten als bisher, die Kaufverträge vereinfacht werden und die Übernahme von Verbindlichkeiten für ökologische und finanzielle Altlasten überschaubarer gestaltet werden sollten.244
Das Interesse ausländischer Unternehmen an Übernahmen ostdeutscher Firmen war bereits Mitte Mai »deutlich gestiegen«.245 Dabei hat die neue Treuhand-Chefin »erheblich Dampf« gemacht, wie ihr Pressesprecher Franz Wauschkuhn erklärte.
»Als Sprungbrett zum Osten«, meldete die FAZ am 21. Mai 1991, versprächen Investitionen in Ostdeutschland »auf lange Frist gute Verkaufsmöglichkeiten. Amerikanische Unternehmen, die sich bisher vergeblich bemüht haben, in dem eher schwierigen westdeutschen Markt durch einen Unternehmenskauf Fuß zu fassen, haben zudem jetzt die Chance, sich relativ rasch und mit vergleichsweise wenig bürokratischem Aufwand im deutschen Markt zu etablieren.« Auch die WELT berichtete Ende Mai 1991, die Treuhand wolle in den nächsten Wochen verstärkt amerikanische und japanische Firmen zu Investitionen in den neuen Bundesländern ermuntern.
Mitte November 1991 schließlich eröffnete die Treuhandanstalt ihr Büro in New York: »Uberzeugender als frühere deutsche Besucher«; vermerkte die FAZ, habe Birgit Breuel »auf die Vorteile eines Engagements im Osten Deutschlands hingewiesen.« Außerdem könne sie Bedenken hinsichtlich Eigentumsfragen, Umweltlasten und Altschulden heute mit der Versicherung »aus dem Weg räumen«, daß alle diese Fragen »regelbar« seien und keine Investitionshindernisse darstellten.246
Bereits vier Wochen nach Detlev Karsten Rohwedders Tod trat die Treuhandanstalt mit einem neuen »Verkaufskonzept« an die Öffentlichkeit. Begründung: Franzosen und Briten klagten über die schwerfällige und ihnen wenig vertraute Bürokratie, Japaner grauste es vor der Übernahme sozialer Lasten. Fieberhaft werde an dem Konzept gearbeitet, um Interessenten aus dem europäischen Ausland, USA und Japan zu gewinnen. Kernpunkt der neuen Strategie: die Einschaltung »internationaler Investmentbanken«, die im Auftrag der Treuhand ganze »Unternehmenspakete« anbieten sollen. 247 »International« konnte hier eigentlich nur »amerikanisch« und »britisch« heißen, denn die großen »internationalen Investmentbanken sind fast alle amerikanische oder britische Unternehmen. Auch diese Forderung der Amerikaner an Rohwedder beeilte sich Birgit Breuel zu erfüllen.
Tatsächlich stellte sich ein Jahr später heraus, daß die Treuhand seit Mitte 1991 immer mehr solche Banken einschaltet, die eine Art Maklerrolle bei Unternehmensverkäufen spielen. Bisher seien dadurch zwar erst achtzig Unternehmen privatisiert worden, meldet die FAZ am 3.4.1992: »Doch befinden sich unter ihnen so spektakuläre Fälle wie der Verkauf der Interhotel AG an deutsche und ausländische Investoren über die britische Investmentbank 5. G. Warburg oder die Privatisierung der Minol AG und der Hydrierwerke Zeitz GmbH an das Konsortium Elf Aquitaine, Thyssen Handelsunion Berlin und die Deutsche SB-Kauf AG durch Vermittlung von Goldman Sachs. Eng arbeitet die Treuhand mit Goldman Sachs, S. G. Warburg, CSFB Credit Suisse, First Boston, Price Waterhouse Corporate Finance, J. P. Morgan und Merrill Lynch zusammen.« So habe beispielsweise Goldman Sachs den Auftrag erhalten, für alle zehn Unternehmen der Petrochemie in den neuen Bundesländern internationale Käufer zu finden.
Die britischen und amerikanischen Investmentbanker aus dem Dunstkreis der Atlantik-Brücke sind zufrieden: Die Zusammenarbeit sei »äußerst konstruktiv und eng«, lobten sie. Die Treuhand zahle international gängige, aber nicht üppige Honorare, womit die schnelle Mark zwar nicht zu verdienen sei. Dafür diene das Treuhandgeschäft aber als Einstieg in den deutschen Markt für Unternehmenskäufe, und gerade dieses Geschäft versuchten die deutschen Großbanken unter sich zu behalten. Bisher spielten Investmentbanken nach britischem und US-amerikanischem Zuschnitt im deutschen M&A-Geschäft (Mergers & Acquisitions = Fusionen und Betei1igungen) nämlich kaum eine Rolle. Einmütig heißt es bei Goldman Sachs, Merrill Lynch und S. G. Warburg, daß sich das deutsche M&A-Geschäft durch die Treuhandprivatisierungen für ausländische Investmentbanken öffne und sich der gesamte Stil des M&A-Geschäftes in Deutschland dadurch ändere. Die Investmentbanken berichteten bereits von den ersten Anschlußaufträgen aus der Industrie.248
Andere kamen im deutschen Osten nicht so gut ins Geschäft: »Nicht alle Investmenthäuser und Merchantbanken wurden von der Treuhand mit Großaufträgen bedacht«, meldet die FAZ. Reserviert äußere sich vor allem die Merchantbank Morgan Grenfell, Tochtergesellschaft der Deutschen Bank: »In London hört man allerdings, die Anbindung von Morgan Grenfell an die Deutsche Bank sei in diesem Geschäft nicht gerade förderlich gewesen.« Die Treuhand sei auf die deutschen Banken nicht gut zu sprechen, da sie auf Garantien für Liquiditätskredite bestanden hätten.249
Dank an die »RAF«
Zum Abschluß bleibt nur noch, ein Fazit über den Anschlag der sogenannten »RAF« auf Detlev Karsten Rohwedder zu ziehen. Mit ihrem Attentat wollten sich die Täter an die Spitze der Protestbewegung stellen, wie immer für die einsitzenden »RAF«-Gefangenen kämpfen und die »reaktionäre Entwicklung« im Osten »an der Wurzel treffen«. Im Rückblick bleibt nur die sarkastische Formel: Operation geglückt, Patient tot. Das schießende Kommando bewirkte in allen Punkten das glatte Gegenteil von dem, was es vor gab erreichen zu wollen.
Für die demokratische Protestbewegung im Osten gegen die gebrochenen Wahlversprechen der Regierung Kohl, den Ausverkauf der Treuhand und die Schließung der Betriebe war das Attentat der Todeskuß. Zusammen mit Mördern wollte niemand mehr protestieren und demonstrieren, die Demo-Busse blieben leer.
Auch für die sogenannten »Gefangenen aus der RAF« war das Attentat eine Katastrophe. Scharfmacher von rechts wie der CSU-Generalsekretär Huber holten zum endgültigen Schlag gegen lebensnotwendige demokratische Rechte von Häftlingen aus. Die »RAF«-Gefangenen gerieten traditionell als Drahtzieher in Verdacht. Noch immer gehen sie nach Meinung von sogenannten »Sicherheitspolitikern« zur Logistik der draußen operierenden »RAF« dazu und sind damit für jeden Mord quasi automatisch mitverantwortlich.
Schließlich hat das » RAF«-Kommando auch die »reaktionäre Entwicklung« in Ost- und Westdeutschland zielsicher vorangebracht. Mit dem Tod Rohwedders wurde rücksichtslos Innenpolitik getrieben, von der Forderung vom Zugriff auf die Stasi-Akten bis hin zur Absicherung von sogenannten »verdeckten Ermittlern «, mithin der Installation eines Spitzelsystems von Stasi-Ausmaßen. Den »Systemveränderern von rechts«, und dies ist keine polemische Übertreibung, war auch dieses Attentat willkommen, um die Bundesrepublik noch ein Stück mehr in Richtung eines totalitären Staates zu steuern.
Auch die reaktionäre Entwicklung im Osten brachte der Mord hurtig nach vorn. Mit der Installation der Politikerin Breuel konnte endlich der riesige Umverteilungsprozeß nach amerikanischem Zuschnitt ungehindert stattfinden, der da lautet: Profite privatisieren, Verluste sozialisieren. So war auch der »Große Bruder« USA, angeblicher »imperialistischer Erzfeind« der »RAF«, am Ende vollauf zufrieden. Die Zugeständnisse der Treuhand an die Unternehmen, zum Beispiel den Verzicht auf Ubernahme der Altlasten durch Investoren, zahlt der deutsche Steuerzahler. Die dreihundert oder mehr Milliarden fließen von deutschen Gehaltskonten via Treuhand in die Kassen der Konzerne. Der deutsche Steuerzahler hilft, das krisengeschüttelte internationale Kreditgewerbe zu sanieren, dem er als neuer Großkreditnehmer gerade recht kam. Die Frage, warum die Treuhand eigentlich nicht mehr Geld spart, statt immer mehr Schulden zu machen, ist da naiv. Längst geht es um ganz andere Interessen als die einer soliden Haushaltsführung im Sinne der Staatsbürger. Wer spart, statt Kredite aufzunehmen, raubt.den Banken ihren Gewinn. Das ist nicht nur bei Otto Normalverbraucher so, sondern auch zwischen Staaten und internationalen Banken. Bedanken können sich die Bundesbürger unter anderem bei der »RAF«.
175 Heym in: Die Weltwoche, 8. August 1991
176 Quick, 11.12.1991
177 FAZ, 31.3.1991
178 Der Spiegel, 29.10.1990
179 Süddeutsche Zeitung, 7.11.1990
180 ebd.
181 Die Welt, 21.2.1991
182 Süddeutsche Zeitung, 18.3.1991
183 Handelsblatt, 26.11.1990
184 ebd.
185 Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19.10.1990
186 Handelsblatt, 26.11.1990
187 Stern, 27.3.1991
188 Spiegel, 14/1991
189 Frankfurter Rundschau, 11.4.1991
190 Frankfurter Rundschau, 26.3.1991
191 Peters, RAF, a.a.O., S. 407
192 Gerd Korinthenberg in einem Gespräch mit den Autoren
193 Siegener Hochschulzeitung, 3/91
194 Frankfurter Rundschau, 18.4.1991
195 Der Spiegel, 8/1991
196 puplizistik und kunst 2/91
197 Quick, 11.4.1991
198 Reuter, 2.4.1991, 12.32 Uhr
199 dpa, 2.4.1991
200 taz in: Peters: RAF, a.a.O., S. 409
201 dpa, 2.4.1991
202 taz, 3.4.1991
203 Reuter, 2.4.1991, 14.27 Uhr
204 Reuter, 2.4.1991, 11.55 Uhr
205 dpa, 2.4.1991
206 Frankfurter Rundschau, 18.4.1991
207 Neues Deutschland, 5.4.1991
208 Frankfurter Rundschau, 10.4.1991
209 Süddeutsche Zeitung, 3.11.1983
210 nach: Munziger Archiv 36/91
211 Zeit, 29.6.1979
212 Deutsche Zeitung, 1.11.1974
213 Munziger Archiv 36/91
214 Stern, 48/1979
215 Frankfurter Rundschau, 5.4.1991
216 FAZ, 21.6.1978
217 Jürgen Hogrefe und Eckhart Spoo: Niedersächsische Skandalchronik. Göttingen 1990, S. 82
218 Köllner Stadtanzeiger, 31.10.1979
219 Der Siegel, 7.11.1983
220 Zeit, 29.6.1979
221 Zeit, 20.6.1979
222 Der Spiegel, 7.11.1983
223 Frankfurter Rundschau, 5.4.1991
224 Münchner Merkur, 2.11.1990
225 Die Welt, 4.3.1991
226 Zeit, 19.4.1991
227 ebd.
228 Frankfurter Rundschau, 18.6.1991
229 ebd.
230 so die Einschätzung eines Mitarbeiters der SPD-Fraktion, der namentlich nicht genannt werden möchte
231 ebd.
232 Wirtschaftswoche, 12.4.1991
233 Die Welt, 21.2.1991
234 Süddeutsche Zeitung, 18.3.1991
235 FAZ-Magazin, 27.3.1992
236 Wirtschaftswoche, 26.6.1992
237 Welt, 27.3.1991
238 Stern, 2.1.1992
239 Süddeutsche Zeitung, 29.7.1992
240 Süddeutsche Zeitung, 21.3.1992
241 taz, 17.8.1991
242 Zeit, 22.11.1991
243 Zeit, 2.1.1992
244 Wirtschaftswoche, 12.4.1991
245 Welt am Sonntag, 19.3.1991
246 FAZ, 16.11.1991
247 Süddeutsche Zeitung, 2.5.1991
248 FAZ, 3.4.1992
249 ebd